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BGH: Kein Unterlassungsanspruch von Anwohnern gemäß § 1004 Abs. 1 BGB bei Verstößen gegen Lkw-Durchfahrtsverbot nach dem Luftreinhalteplan der Stadt Stuttgart

BGH
Urteil vom 14.06.2022
VI ZR 110/21


Der BGH hat entschieden, dass kein Unterlassungsanspruch von Anwohnern gegen eine Spedition gemäß § 1004 Abs. 1 BGB bei Verstößen gegen das Lkw-Durchfahrtsverbot nach dem Luftreinhalteplan der Stadt Stuttgart besteht.

Die Pressemitteilung des BGH:

Bundesgerichtshof verneint einen Unterlassungsanspruch von Anwohnern bei Verstößen gegen das nach dem Luftreinhalteplan der Landeshauptstadt Stuttgart bestimmte Lkw-Durchfahrtsverbot

Sachverhalt

Die Kläger sind Eigentümer von innerhalb der Stuttgarter Umwelt- und Lkw-Durchfahrtsverbotszone gelegenen Grundstücken an bzw. in unmittelbarer Nähe der H. Straße. Sie machen geltend, die Beklagte, die eine Spedition betreibt, verstoße mehrmals täglich gegen das Durchfahrtsverbot, indem sie das Gebiet mit Lkw befahre, und nehmen die Beklagte deshalb unter Berufung auf die mit der Feinstaub- und Stickoxidbelastung verbundene Gesundheitsgefährdung auf Unterlassung des Befahrens der H. Straße in Anspruch.

Bisheriger Prozessverlauf

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger ist vor dem Landgericht erfolglos geblieben. Dagegen haben die Kläger die vom Landgericht zugelassene Revision eingelegt und ihr Klagebegehren weiterverfolgt.

Entscheidung des Senats:

Der unter anderem für das Recht der unerlaubten Handlungen zuständige VI. Zivilsenat hat die Revision zurückgewiesen. Den Klägern steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu.

Die Kläger wenden sich nicht gegen die Beurteilung des Landgerichts, wonach sich das Unterlassungsbegehren nicht auf § 1004 Abs. 1 i.V.m. § 823 Abs. 1 BGB aufgrund einer Gesundheitsverletzung stützen lässt. Diese Beurteilung ist rechtlich auch nicht zu beanstanden. Sie nehmen auch die Annahme des Landgerichts hin, dass der Beklagten auf der Grundlage des klägerischen Vortrags keine wesentliche Beeinträchtigung der Benutzung der klägerischen Grundstücke im Sinne des § 906 BGB zuzurechnen ist. Auch insoweit sind Rechtsfehler des Landgerichts nicht ersichtlich. Damit scheidet ein auf die Eigentümerstellung der Kläger gestützter Unterlassungsanspruch nach § 1004 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 906 BGB ebenfalls aus.

Ein Unterlassungsanspruch analog § 823 Abs. 2 i.V.m. § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB wegen der Verletzung eines Schutzgesetzes steht den Klägern auch bei einem unterstellten Verstoß von Mitarbeitern der Beklagten gegen das Lkw-Durchfahrtsverbot nicht zu. Das auf der Grundlage von § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG in Verbindung mit dem Luftreinehalteplan für die Landeshauptstadt Stuttgart angeordnete Durchfahrtsverbot ist kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB zugunsten der einzelnen Anwohner innerhalb der Durchfahrtsverbotszone, das es diesen ermöglicht, dem Verbot Zuwiderhandelnde zivilrechtlich auf Unterlassung in Anspruch zu nehmen.

Eine Rechtsnorm ist ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes oder eines bestimmten Rechtsinteresses zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt, Zweck und Entstehungsgeschichte des Gesetzes an, also darauf, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mitgewollt hat. Es reicht nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als Reflex objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen.

Im Streitfall wurde das Lkw-Durchfahrtsverbot nicht für bestimmte Straßen zur Reduzierung der die dortigen Anlieger beeinträchtigenden Schadstoffkonzentrationen, sondern grundsätzlich für das gesamte Stadtgebiet angeordnet, um allgemein die Luftqualität zu verbessern und der Überschreitung von Immissionsgrenzwerten entgegenzuwirken. Die Kläger sind insoweit nur als Teil der Allgemeinheit begünstigt. Bereits dies spricht gegen die Annahme, ein Schutz von Einzelinteressen in der von den Klägern begehrten Weise sei Intention des streitgegenständlichen Lkw-Durchfahrtsverbots. Unter dem potentiell drittschützenden Aspekt des Gesundheitsschutzes käme auch ein Unterlassungsanspruch des Einzelnen hinsichtlich des Befahrens der gesamten Verbotszone nicht in Betracht. Denn schon angesichts der Größe der Verbotszone kann nicht angenommen werden, dass die an einer beliebigen Stelle der Verbotszone durch Kraftfahrzeuge verursachten Immissionen für jeden Anlieger innerhalb dieser Zone die unmittelbare Gefahr einer Überschreitung der Immissionsgrenzwerte an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort und damit eine potentielle Gesundheitsbeeinträchtigung verursachen. Im Ergebnis lässt sich daher im Streitfall kein Personenkreis bestimmen, der durch das Lkw-Durchfahrtsverbot seinem Zweck entsprechend im Wege der Einräumung eines individuellen deliktischen Unterlassungsanspruchs bei Verstößen gegen das Verbot geschützt werden sollte. Es ist nichts ersichtlich dafür, dass § 40 Abs. 1 Satz 1 BImSchG i.V.m. der streitgegenständlichen Planmaßnahme einen Anspruch auf Normvollzug zwischen einzelnen Bürgern begründen will.

Vorinstanzen:

Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt - Urteil vom 8. September 2020 - 5 C 2071/19

Landgericht Stuttgart - Urteil vom 11. März 2021 - 5 S 180/20

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 823 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)

(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines Anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

§ 1004 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)

(1) Wird das Eigentum in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes beeinträchtigt, so kann der Eigentümer von dem Störer die Beseitigung der Beeinträchtigung verlangen. Sind weitere Beeinträchtigungen zu besorgen, so kann der Eigentümer auf Unterlassung klagen.

(2) Der Anspruch ist ausgeschlossen, wenn der Eigentümer zur Duldung verpflichtet ist.

§ 906 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB)

Der Eigentümer eines Grundstücks kann die Zuführung von Gasen, Dämpfen, Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen und ähnliche von einem anderen Grundstück ausgehende Einwirkungen insoweit nicht verbieten, als die Einwirkung die Benutzung seines Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt.

§ 40 Abs. 1 Satz 1 Bundes-Immissionsschutzgesetz (BImSchG)

Die zuständige Straßenverkehrsbehörde beschränkt oder verbietet den Kraftfahrzeugverkehr nach Maßgabe der straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften, soweit ein Luftreinhalteplan oder ein Plan für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen nach § 47 Absatz 1 oder 2 dies vorsehen.

EuGH: Zwangshaft gegen Verantwortliche nationaler Behörden wegen Nichtumsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität nur bei hinreichend präziser Rechtsgrundlage und Wahrung der Verhäl

EuGH
Urteil vom 19.12.2019
C-752/18
Deutsche Umwelthilfe ./. Freistaat Bayern


Der EuGH hat entschieden, dass die Verhängung von Zwangshaft gegen Verantwortliche nationaler Behörden wegen Nichtumsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität nur bei hinreichend präziser Rechtsgrundlage und Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig ist. Dies habe ier Bayerische Verwaltungsgerichtshof im vorliegenden Fall nun zu prüfen.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Um die Verantwortlichen des Freistaats Bayern dazu anzuhalten, in München Maßnahmen zur Verbesserung der Luftqualität (wie ein Verkehrsverbot für bestimmte Dieselfahrzeuge) zu treffen, kann nur dann Zwangshaft gegen sie verhängt werden, wenn es dafür im nationalen Recht eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage gibt und wenn die Zwangsmaßnahme verhältnismäßig ist

Es ist Sache des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind

Mit seinem heutigen Urteil hat sich der Gerichtshof erstmals dazu geäußert, ob die nationalen Gerichte befugt oder sogar verpflichtet sind, Zwangshaft gegen die Verantwortlichen nationaler Behörden zu verhängen, die sich beharrlich weigern, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihnen aufgegeben wird, ihre unionsrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen.

Der Gerichtshof ist im Rahmen eines Rechtsstreits angerufen worden, den die Deutsche Umwelthilfe, eine deutsche Umweltschutzorganisation, gegen den Freistaat Bayern wegen dessen beharrlicher Weigerung führt, zur Umsetzung der Richtlinie 2008/50 über Luftqualität die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit in der Stadt München der Grenzwert für Stickstoffdioxid eingehalten wird. Der Freistaat Bayern wurde im Jahr 2012 dazu verurteilt, seinen für diese Stadt geltenden Luftreinhalteplan zu ändern. Im Jahr 2016 wurde er unter Androhung von Zwangsgeld aufgefordert, seinen Verpflichtungen nachzukommen, u. a. durch Verkehrsverbote für bestimmte Fahrzeuge mit Dieselmotor in Teilen des Stadtgebiets. Da der Freistaat sich jedoch weigerte, diese Anordnungen zu befolgen, wurde im Jahr 2017 ein Zwangsgeld in Höhe von 4 000
Euro gegen ihn festgesetzt, das er beglich. Er weigert sich weiterhin, die Anordnungen zu befolgen, und seine Vertreter haben öffentlich erklärt, dass er seinen Verpflichtungen nicht nachkommen werde. Deshalb beantragte die Deutsche Umwelthilfe zum einen, gegen ihn ein weiteres Zwangsgeld in Höhe von 4 000 Euro festzusetzen. Diesem Antrag wurde mit Beschluss vom 28. Januar 2018 stattgegeben. Zum anderen beantragte sie, gegen die Verantwortlichen des Freistaats (die Staatsministerin für Umwelt und Verbraucherschutz oder, hilfsweise, den Ministerpräsidenten) Zwangshaft zu verhängen. Dies wurde mit Beschluss gleichen Datums abgelehnt. Der vom Freistaat angerufene Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Festsetzung des Zwangsgelds bestätigt und den Gerichtshof um Vorabentscheidung darüber ersucht, ob
Zwangshaft verhängt werden kann. Er hat ausgeführt, die Auferlegung von Zwangsgeldern sei nicht geeignet, an dem Verhalten des Freistaats etwas zu ändern, da sie ihm wieder zuflössen und nicht mit einer Vermögenseinbuße einhergingen. Überdies sei die Verhängung von Zwangshaft aus innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dem Gerichtshof daher die Frage vorgelegt, ob das Unionsrecht, insbesondere das durch Art. 47 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf, dahin auszulegen ist, dass es die nationalen Gerichte zum Erlass einer solchen Maßnahme ermächtigt oder sogar verpflichtet.

Der Gerichtshof hat entschieden, dass unter Umständen, die durch die beharrliche Weigerung einer nationalen Behörde gekennzeichnet sind, einer gerichtlichen Entscheidung nachzukommen, mit der ihr aufgegeben wird, eine klare, genaue und unbedingte Verpflichtung zu erfüllen, die sich aus dem Unionsrecht, etwa aus der Richtlinie 2008/50, ergibt, das zuständige nationale Gericht Zwangshaft gegen die Verantwortlichen des Freistaats Bayern zu verhängen hat, sofern zwei Voraussetzungen erfüllt sind. Zum einen muss es im innerstaatlichen Recht eine hinreichend zugängliche, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbare Rechtsgrundlage für den Erlass einer solchen Maßnahme geben. Zum anderen muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden.

Insoweit hat der Gerichtshof zunächst darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass das sowohl in Art. 47 der Charta als auch, für den Umweltbereich, in Art. 9 Abs. 4 des Aarhus-Übereinkommens verankerte Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewahrt ist. Dieses Recht ist umso bedeutsamer, als das Unterbleiben der von der Richtlinie 2008/50 vorgegebenen Maßnahmen die Gesundheit von Personen gefährden würde. Nationale Rechtsvorschriften, die zu einer Situation führen, in der das Urteil eines Gerichts wirkungslos bleibt, verletzen aber den Wesensgehalt dieses Rechts und nehmen ihm jede praktische Wirksamkeit. In einem solchen Fall muss das nationale Gericht sein nationales Recht so auslegen, dass es so weit wie möglich im Einklang mit den Zielen der genannten Bestimmungen steht; ist es dazu außerstande, muss es jede nationale Bestimmung unangewendet lassen, die dem unmittelbare Wirkung entfaltenden Unionsrecht entgegensteht.

Der Gerichtshof hat jedoch hinzugefügt, dass die Beachtung der letztgenannten Verpflichtung nicht dazu führen darf, dass ein anderes Grundrecht verletzt wird, und zwar das durch Art. 6 der Charta garantierte und durch die Zwangshaft eingeschränkte Recht auf Freiheit. Da das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz kein absolutes Recht ist und nach Art. 52 Abs. 1 der Charta Einschränkungen unterliegen kann, ist eine Abwägung der in Rede stehenden Grundrechte vorzunehmen. Um den Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta zu genügen, muss eine Rechtsvorschrift, die es einem Gericht gestattet, einer Person ihre Freiheit zu entziehen, zunächst hinreichend zugänglich, präzise und in ihrer Anwendung vorhersehbar sein, um jede Gefahr von Willkür zu vermeiden; dies zu beurteilen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Überdies darf auf die Verhängung von Zwangshaft, da mit ihr ein Freiheitsentzug verbunden ist, aufgrund der Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben, nur zurückgegriffen werden, wenn es keine weniger einschneidende Maßnahme (wie z. B. mehrere hohe Geldbußen in kurzen Zeitabständen, die nicht letzten Endes dem Haushalt zufließen, aus dem sie stammen) gibt; auch dies hat das
vorlegende Gericht zu prüfen. Nur für den Fall, dass die mit der Verhängung von Zwangshaft verbundene Einschränkung des Rechts auf Freiheit diesen Voraussetzungen genügt, würde das Unionsrecht den Rückgriff auf eine solche Maßnahme nicht nur gestatten, sondern gebieten. Hinzu kommt, dass ein Verstoß gegen die Richtlinie 2008/50 vom Gerichtshof im Rahmen einer Vertragsverletzungsklage festgestellt werden und zur Haftung des Staates für die daraus resultierenden Schäden führen kann.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:




BVerfG: Diverse Verfassungsbeschwerden gegen Dieselfahrverbote werden nicht zur Entscheidung angenommen

BVerfG
Beschlüsse vom 01.10.2019
1 BvR 1798/19, 1 BvR 1799/19, 1 BvR 1800/19, 1 BvR 1801/19, 1 BvR 1802/19, 1 BvR 1803/19, 1 BvR 1804/19, 1 BvR 1805/19, 1 BvR 1898/19


Das Bundesverfassungsgericht hat diverse Verfassungsbeschwerden gegen Dieselfahrverbote ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Anträge gegen Dieselfahrverbot nicht zur Entscheidung angenommen

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschlüssen vom 1. Oktober 2019 insgesamt neun Verfassungsbeschwerden gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg und des Verwaltungsgerichts Stuttgart nicht zur Entscheidung angenommen. Die Anträge betrafen das Verkehrsverbot für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Abgasnorm Euro 5/V in der Umweltzone Stuttgart und hierzu im Wege des Eilrechtsschutzes ergangene verwaltungsgerichtliche Entscheidungen. Die Nichtannahmen erfolgten gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ohne Begründung.



BVerwG: Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig

BVerwG
Urteil vom 27.02.2018
7 C 26.16
7 C 30.17


Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass Fahrverbote für Diesel-Fahrtzeuge unter Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zulässig sein können.

Die Pressemitteilung des BVerwG:

Luftreinhaltepläne Düsseldorf und Stuttgart: Diesel-Verkehrsverbote ausnahmsweise möglich

Mit zwei Urteilen hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute die Sprungrevisionen der Länder Nordrhein-Westfalen (BVerwG 7 C 26.16) und Baden-Württemberg (BVerwG 7 C 30.17) gegen erstinstanzliche Gerichtsentscheidungen der Verwaltungsgerichte Düsseldorf und Stuttgart zur Fortschreibung der Luftreinhaltepläne Düsseldorf und Stuttgart überwiegend zurückgewiesen. Allerdings sind bei der Prüfung von Verkehrsverboten für Diesel-Kraftfahrzeuge gerichtliche Maßgaben insbesondere zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu beachten.

Das Verwaltungsgericht Düsseldorf verpflichtete das Land Nordrhein-Westfalen auf Klage der Deutschen Umwelthilfe, den Luftreinhalteplan für Düsseldorf so zu ändern, dass dieser die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des über ein Jahr gemittelten Grenzwertes für Stickstoffdioxid (NO) in Höhe von 40 µg/m³ im Stadtgebiet Düsseldorf enthält. Der Beklagte sei verpflichtet, im Wege einer Änderung des Luftreinhalteplans weitere Maßnahmen zur Beschränkung der Emissionen von Dieselfahrzeugen zu prüfen. Beschränkte Fahrverbote für bestimmte Dieselfahrzeuge seien rechtlich und tatsächlich nicht ausgeschlossen.

Das Verwaltungsgericht Stuttgart verpflichtete das Land Baden-Württemberg, den Luftreinhalteplan für Stuttgart so zu ergänzen, dass dieser die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des über ein Kalenderjahr gemittelten Immissionsgrenzwertes für NOin Höhe von 40 µg/m³ und des Stundengrenzwertes für NOvon 200 µg/m³ bei maximal 18 zugelassenen Überschreitungen im Kalenderjahr in der Umweltzone Stuttgart enthält. Der Beklagte habe ein ganzjähriges Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 6 sowie für alle Kraftfahrzeuge mit Ottomotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 3 in der Umweltzone Stuttgart in Betracht zu ziehen.

Die verwaltungsgerichtlichen Urteile sind vor dem Hintergrund des Unionsrechts überwiegend nicht zu beanstanden. Unionsrecht und Bundesrecht verpflichten dazu, durch in Luftreinhalteplänen enthaltene geeignete Maßnahmen den Zeitraum einer Überschreitung der seit 1. Januar 2010 geltenden Grenzwerte für NOso kurz wie möglich zu halten.

Entgegen der Annahmen der Verwaltungsgerichte lässt das Bundesrecht zonen- wie streckenbezogene Verkehrsverbote speziell für Diesel-Kraftfahrzeuge jedoch nicht zu. Nach der bundesrechtlichen Verordnung zur Kennzeichnung der Kraftfahrzeuge mit geringem Beitrag zur Schadstoffbelastung („Plakettenregelung“) ist der Erlass von Verkehrsverboten, die an das Emissionsverhalten von Kraftfahrzeugen anknüpfen, bei der Luftreinhalteplanung vielmehr nur nach deren Maßgaben möglich (rote, gelbe und grüne Plakette).

Mit Blick auf die unionsrechtliche Verpflichtung zur schnellstmöglichen Einhaltung der NO-Grenzwerte ergibt sich jedoch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, dass nationales Recht, dessen unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist, unangewendet bleiben muss, wenn dies für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts erforderlich ist. Deshalb bleiben die „Plakettenregelung“ sowie die StVO, soweit diese der Verpflichtung zur Grenzwerteinhaltung entgegenstehen, unangewendet, wenn ein Verkehrsverbot für Diesel-Kraftfahrzeuge sich als die einzig geeignete Maßnahme erweist, den Zeitraum einer Nichteinhaltung der NO-Grenzwerte so kurz wie möglich zu halten.

Hinsichtlich des Luftreinhalteplans Stuttgart hat das Verwaltungsgericht in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass lediglich ein Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 6 sowie für alle Kraftfahrzeuge mit Ottomotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 3 in der Umweltzone Stuttgart eine geeignete Luftreinhaltemaßnahme darstellt.

Bei Erlass dieser Maßnahme wird jedoch - wie bei allen in einen Luftreinhalteplan aufgenommenen Maßnahmen - sicherzustellen sein, dass der auch im Unionsrecht verankerte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt bleibt. Insoweit ist hinsichtlich der Umweltzone Stuttgart eine phasenweise Einführung von Verkehrsverboten, die in einer ersten Stufe nur ältere Fahrzeuge (etwa bis zur Abgasnorm Euro 4) betrifft, zu prüfen. Zur Herstellung der Verhältnismäßigkeit dürfen Euro-5-Fahrzeuge jedenfalls nicht vor dem 1. September 2019 (mithin also vier Jahre nach Einführung der Abgasnorm Euro 6) mit Verkehrsverboten belegt werden. Darüber hinaus bedarf es hinreichender Ausnahmen, z.B. für Handwerker oder bestimmte Anwohnergruppen.

Hinsichtlich des Luftreinhalteplans Düsseldorf hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass Maßnahmen zur Begrenzung der von Dieselfahrzeugen ausgehenden Emissionen nicht ernsthaft in den Blick genommen worden sind. Dies wird der Beklagte nachzuholen haben. Ergibt sich bei der Prüfung, dass sich Verkehrsverbote für Diesel-Kraftfahrzeuge als die einzig geeigneten Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung überschrittener NO-Grenzwerte darstellen, sind diese - unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - in Betracht zu ziehen.

Die StVO ermöglicht die Beschilderung sowohl zonaler als auch streckenbezogener Verkehrsverbote für Diesel-Kraftfahrzeuge. Der Vollzug solcher Verbote ist zwar gegenüber einer „Plakettenregelung“ deutlich erschwert. Dies führt allerdings nicht zur Rechtswidrigkeit der Regelung.

BVerwG 7 C 26.16 - Urteil vom 27. Februar 2018

Vorinstanz:

VG Düsseldorf, 3 K 7695/15 - Urteil vom 13. September 2016 -

BVerwG 7 C 30.17 - Urteil vom 27. Februar 2018

Vorinstanz:

VG Stuttgart, 13 K 5412/15 - Urteil vom 26. Juli 2017 -