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BVerfG: Bundesregierung muss NSA-Sektorenliste dem Untersuchungsausschuss nicht zur Verfügung stellen - besondere politischen Interessen überwiegen Vorlageinteresse

BverfG
Beschluss vom 13. Oktober 2016
2 BvE 2/15


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Bundesregierung die NSA-Sektorenliste dem Untersuchungsausschuss nicht zur Verfügung stellen muss. Das Bundesverfassungsgericht führt aus, dass besondere außen- und sicherheitspolitische Interessen das Vorlageinteresse des Untersuchsungsausschusses überwiegen.

Die Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts:

1 .§ 18 Abs. 3 PUAG billigt nicht jeder Minderheit im Untersuchungsausschuss die Antragsbefugnis im Organstreitverfahren zu. Antragsbefugt ist vielmehr nur die von der konkreten oder potentiellen Einsetzungsminderheit im Deutschen Bundestag im Sinne des Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG getragene Ausschussminderheit.

2. Das Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsaus-schusses unterliegt Grenzen, die, auch soweit sie einfachgesetzlich geregelt sind, ihren Grund im Verfassungsrecht haben müssen (vgl. BVerfGE 124, 78 <118>). Völkerrechtliche Verpflichtungen können demgemäß keine unmittelbare Schranke des parlamentarischen Beweiserhebungsrechts begründen, da sie als solche keinen Verfassungsrang besitzen.

3. Das aus dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses grundsätzlich folgende Recht auf Vorlage der NSA-Selektorenlisten ist nicht durch die Einsetzung der sachverständigen Vertrauensperson und deren gutachterliche Stellungnahme erfüllt.

4. Dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses steht das Interesse der Bundesregierung an funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung gegenüber. Zu diesen Aufgaben gehört auch die Zusammenarbeit der Nachrichtendienste zur Gewährleistung eines wirksamen Staats- und Verfassungsschutzes.

5. Hier:
Das Geheimhaltungsinteresse der Bundesregierung überwiegt das parlamentarische Informationsinteresse, weil die vom Beweisbeschluss erfassten NSA-Selektorenlisten aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen nicht ihrer Verfügungsbefugnis unterfallen, ihre Einschätzung, eine nicht konsentierte Herausgabe dieser Listen könne die Funktions- und Kooperationsfähigkeit deutscher Nachrichtendienste erheblich beeinträchtigen, nachvollziehbar ist und sie dem Vorlageersuchen in Abstimmung mit dem Untersuchungsausschuss durch andere Verfahrensweisen so präzise, wie es ohne eine Offenlegung von Geheimnissen möglich gewesen ist, Rechnung getragen hat.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Im besonderen Fall der NSA-Selektorenlisten hat das Vorlageinteresse des Untersuchungsausschusses zurückzutreten

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Bundesregierung die NSA-Selektorenlisten nicht an den NSA-Untersuchungsausschuss herausgeben muss. Zwar umfasst das Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses dem Grunde nach auch die NSA-Selektorenlisten. Die Selektorenlisten berühren aber zugleich Geheimhaltungsinteressen der Vereinigten Staaten von Amerika und unterliegen deshalb nicht der ausschließlichen Verfügungsbefugnis der Bundesregierung. Eine Herausgabe unter Missachtung einer zugesagten Vertraulichkeit und ohne Einverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika würde die Funktions- und Kooperationsfähigkeit der deutschen Nachrichtendienste und damit auch die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung nach verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Einschätzung der Regierung erheblich beeinträchtigen. Das Geheimhaltungsinteresse der Regierung überwiegt insoweit das parlamentarische Informationsinteresse, zumal die Bundesregierung dem Vorlageersuchen in Abstimmung mit dem NSA-Untersuchungsausschuss so präzise, wie es ohne eine Offenlegung von Geheimnissen möglich war, Rechnung getragen hat. Sie hat insbesondere Auskünfte zu den Schwerpunkten der Zusammenarbeit von Bundesnachrichtendienst (BND) und National Security Agency (NSA), zum Inhalt und zur Zusammenstellung der Selektoren, zur Filterung der Selektoren durch den BND sowie zur Anzahl der abgelehnten Selektoren erteilt. Insofern besteht nicht die Gefahr des Entstehens eines kontrollfreien Raumes und damit eines weitgehenden Ausschlusses des Parlaments von relevanter Information.

Sachverhalt:

Der BND betrieb gemeinsam mit der US-amerikanischen NSA eine Kooperation zur Fernmeldeaufklärung. Im Rahmen dieser Kooperation durchsuchte der BND die aus einem Internetknotenpunkt ausgeleiteten Daten nach von der NSA definierten Merkmalen, den sogenannte Selektoren. Nachdem im Sommer 2013 in der Presse berichtet worden war, dass EU-Vertretungen und auch deutsche Grundrechtsträger von der gemeinsamen Fernmeldeaufklärung durch BND und NSA betroffen seien, setzte der Deutsche Bundestag im März 2014 den sogenannten NSA-Untersuchungsausschuss ein. Der Untersuchungsausschuss verlangte von der Bundesregierung die Herausgabe sämtlicher Beweismittel, die Auskunft darüber geben, welche Erkenntnisse beim BND darüber vorlagen, inwiefern die NSA im Rahmen der Kooperation Aufklärung gegen deutsche Ziele oder deutsche Interessen betrieben hat. Die Bundesregierung stellte in der Folge Beweismaterial zur Verfügung; im Hinblick auf die NSA-Selektorenlisten gelangte sie hingegen zu der Einschätzung, dass eine Herausgabe an den Untersuchungsausschuss ohne Einverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika einen Verstoß gegen die gegenseitig zugesagte Vertraulichkeit darstellen und die internationale Kooperationsfähigkeit Deutschlands beeinträchtigen würde.

Mit ihren Anträgen im Organstreitverfahren begehrten die Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag, die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Deutschen Bundestag sowie zwei Mitglieder des NSA-Untersuchungsausschusses, die den vorgenannten Fraktionen angehören, die Feststellung, dass die Bundesregierung und der Chef des Bundeskanzleramtes durch die Ablehnung der Herausgabe das Beweiserhebungsrecht des Bundestages aus Art. 44 GG verletzt haben.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Der Antrag ist - soweit zulässig - unbegründet.

1. Der Deutsche Bundestag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen (Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG). Der Untersuchungsausschuss ist als Aufklärungsinstrument im Rahmen der politischen Kontroverse dabei ein spezifisches Instrument parlamentarischer Kontrolle. Als Hilfsorgan des Deutschen Bundestages ist er gemäß Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG befugt, im Rahmen seines Untersuchungsauftrages diejenigen Beweise zu erheben, die er für erforderlich hält. Dabei gehört das Recht auf Aktenvorlage zum Kern des Untersuchungsrechts.

2. Allerdings unterliegt das Beweiserhebungsrecht eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses auch Grenzen, die ihren Grund aber im Verfassungsrecht haben müssen.

a) Völkerrechtliche Verpflichtungen können keine unmittelbare Schranke des parlamentarischen Beweiserhebungsrechts begründen, da sie als solche keinen Verfassungsrang besitzen.

b) Gründe, einem Untersuchungsausschuss Informationen vorzuenthalten, können sich aber aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz ergeben. Als Gebot der Unterscheidung zwischen gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt dient er auch einer funktionsgerechten und aufgabenadäquaten Zuordnung hoheitlicher Befugnisse zu unterschiedlichen Trägern öffentlicher Gewalt.

Die verfassungsmäßige Ordnung, der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder sowie Leib, Leben und Freiheit der Person sind Schutzgüter von überragendem verfassungsrechtlichem Gewicht. Der Staat ist deshalb von Verfassungs wegen verpflichtet, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Einzelnen zu schützen. Dieser Verpflichtung kommt er nach, indem er Gefahren etwa durch terroristische Bestrebungen entgegen tritt. Straftaten mit dem Gepräge des Terrorismus richten sich gegen die Grundpfeiler der verfassungsrechtlichen Ordnung und das Gemeinwesen als Ganzes. Die Bereitstellung von wirksamen Aufklärungsmitteln zu ihrer Abwehr ist ein legitimes Ziel und für die demokratische und freiheitliche Ordnung von großem Gewicht.

Zur Effektivierung der Beschaffung und Auswertung von Informationen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung arbeiten die deutschen Nachrichtendienste mit ausländischen Nachrichtendiensten zusammen. Grundlage dieser Zusammenarbeit ist die Einhaltung von Vertraulichkeit. Hierfür sind völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, die als Teil der Außen- und Sicherheitspolitik der Initiativ- und Gestaltungsbefugnis der Regierung obliegen.

3. Nach diesen Maßstäben verletzt die Verweigerung der Vorlage der NSA-Selektorenlisten das Beweiserhebungsrecht des Deutschen Bundestages aus Art. 44 GG nicht.

a) Das parlamentarische Informationsinteresse umfasst auch die NSA-Selektorenlisten. Dieses Recht auf Vorlage ist nicht durch die Einsetzung der sachverständigen Vertrauensperson und deren gutachterliche Stellungnahme erfüllt worden.

b) Dem Beweiserhebungsrecht des Untersuchungsausschusses steht aber das Interesse der Regierung an funktionsgerechter und organadäquater Aufgabenwahrnehmung entgegen. Im Rahmen eines Konsultationsverfahrens haben die Vereinigten Staaten von Amerika deutlich gemacht, dass der Untersuchungsausschuss als Außenstehender anzusehen und die Herausgabe der NSA-Selektorenlisten an ihn nicht vom Übermittlungszweck umfasst ist. Aufgrund weiterer Stellungnahmen der Vereinigten Staaten von Amerika ist die Bundesregierung zu der Überzeugung gelangt, dass die Herausgabe der NSA-Selektorenlisten ohne Einverständnis der Vereinigten Staaten von Amerika die Funktions- und Kooperationsfähigkeit der Nachrichtendienste und damit auch die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung erheblich beeinträchtigen würde. Angesichts einer solchermaßen konkretisierten Gefährdungslage für die äußere und innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland seien zugleich im Staatswohl gründende Geheimhaltungsinteressen berührt. Diese tatsächliche und rechtliche Wertung des Verhältnisses zu ausländischen Nachrichtendiensten und Partnerstaaten unterliegt angesichts des Einschätzungs- und Prognosespielraums der Bundesregierung nur einer eingeschränkten verfassungsgerichtlichen Kontrolle und ist im Ergebnis verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Selbst wenn man im Hinblick auf die Folgenschwere eines Vertrauensbruches relativierend davon ausginge, dass sich die Herausgabe der Selektorenlisten an den Untersuchungsausschuss nur vorübergehend auf den Umfang des internationalen Informationsaustauschs auswirkte, wäre hiermit eine nicht hinzunehmende temporäre Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste und damit eine Sicherheitslücke nahe liegend.

c) Das Interesse an der Erhaltung der außen- und sicherheitspolitischen Handlungsfähigkeit der Bundesregierung überwiegt das Recht des Untersuchungsausschusses auf Herausgabe der NSA-Selektorenlisten. Im Rahmen der Abwägung ist auch zu berücksichtigen, dass das Vorlageersuchen bezüglich der NSA-Selektorenlisten originäre Belange und Geheimhaltungsinteressen der Vereinigten Staaten von Amerika nachhaltig berührt. Ferner hat die Bundesregierung dem Untersuchungsausschuss Informationen zur Verfügung gestellt, weshalb ihm nicht der gesamte Sachverhaltskomplex der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit von NSA und BND vorenthalten wurde. Soweit es um die Herausgabe der Selektorenlisten selbst und damit um die konkrete Benennung, das heißt um die namentliche Erwähnung der als Erfassungsziele betroffenen natürlichen oder juristischen Personen sowie Institutionen und staatlichen Einrichtungen geht, ist deren Kenntnis eher von allgemeinem politischem Interesse. Für die Erfüllung des Untersuchungsauftrages und damit für die parlamentarische Kontrolle des Regierungshandelns ist die Kenntnis vom Inhalt der Selektorenlisten nicht in einem Maße zentral, um gegenüber den Belangen des Staatswohls und der Funktionsfähigkeit der Regierung Vorrang zu beanspruchen.