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BGH: Formularmäßige Abtretung von Schadensersatzansprüchen des Käufers im Dieselskandal an Finanzierungsbank auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr unwirksam

BGH
Urteil vom 03.07.2023
VIa ZR 155/23


Der BGH hat entschieden, dass die formularmäßige Abtretung von Schadensersatzansprüchen des Käufers im Dieselskandal an die Finanzierungsbank auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr unwirksam ist.

Die Pressemitteilung des BGH:
Bundesgerichtshof entscheidet erneut in einem Dieselverfahren über die Unwirksamkeit der
formularmäßigen Abtretung von Ansprüchen des Käufers an die Finanzierungsbank (hier: Unwirksamkeit
der Abtretungsklausel auch gegenüber Unternehmern)

Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat entschieden, dass die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Finanzierungsbank enthaltene Klausel über die Sicherungsabtretung von Ansprüchen des Käufers und Darlehensnehmers gegen den Hersteller eines Dieselfahrzeugs Ansprüche auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung erfasst und auch dann unwirksam ist, wenn der Käufer nicht Verbraucher, sondern Unternehmer ist.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:

Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in zwei Kraftfahrzeugen auf Schadensersatz in Anspruch.

Am 20. August 2018 und am 11. März 2019 kaufte der Kläger unter seiner Firma von der Beklagten jeweils einen Neuwagen. Die Fahrzeuge sind mit Dieselmotoren der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse: EURO 6) ausgestattet. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger in beiden Fällen mittels eines Darlehens bei einer Bank. Den Darlehensverträgen lagen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bank für Unternehmer zugrunde. Dort hieß es unter anderem:

"II. Sicherheiten

Der Darlehensnehmer räumt der Bank zur Sicherung aller gegenwärtigen und bis zur Rückzahlung des Darlehens noch entstehenden sowie bedingten und befristeten Ansprüche der Bank aus der Geschäftsverbindung einschließlich einer etwaigen Rückabwicklung, gleich aus welchem Rechtsgrund, Sicherheiten gemäß nachstehenden Ziffern 1 und 2 ein. […]

[…]

2. Abtretung von sonstigen Ansprüchen

Der Darlehensnehmer tritt ferner hiermit folgende - gegenwärtige und zukünftige - Ansprüche an die Bank ab, die diese Abtretung annimmt:

- […]

- […]

- gegen den Verkäufer für den Fall einer Rückgängigmachung des finanzierten Vertrages oder Herabsetzung der Vergütung.

- gegen die […] [Beklagte], […], gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag des Darlehensnehmers gegen die […] [Beklagte] oder einen Vertreter der […] [Beklagten]. Der Darlehensnehmer hat der Bank auf Anforderung jederzeit die Namen und Anschriften der Drittschuldner mitzuteilen.

[…]

5. Rückgabe der Sicherheiten

Die Bank verpflichtet sich, nach Wegfall des Sicherungszweckes (alle Zahlungen unanfechtbar erfolgt) sämtliche Sicherungsrechte (Abschnitt II. Ziff. 1, 2) zurückzuübertragen […] Bestehen mehrere Sicherheiten, hat die Bank auf Verlangen des Darlehensnehmers schon vorher nach ihrer Wahl einzelne Sicherheiten oder Teile davon freizugeben, falls deren realisierbarer Wert 120% der gesicherten Ansprüche der Bank überschreitet. […]"

Der Kläger hat die Beklagte in erster Instanz in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Rücktritts vom Kaufvertrag und in zweiter Linie unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung wegen des Inverkehrbringens der Fahrzeuge auf Zahlung an sich, Freistellung von seinen Darlehensverbindlichkeiten, Feststellung des Annahmeverzugs und Erstattung vorgerichtlich verauslagter Rechtsanwaltskosten in Anspruch genommen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers, der zu dem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht erschienen ist, durch Versäumnisurteil zurückgewiesen. Dagegen hat der Kläger Einspruch eingelegt und den Rechtsstreit nach Veräußerung der Fahrzeuge an einen Dritten mit Ausnahme seiner Anträge auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten für erledigt erklärt. Das Berufungsgericht hat das Versäumnisurteil aufrechterhalten. Mit seiner vom Berufungsgericht insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine zuletzt gestellten Anträge weiter, soweit er sie auf seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen der Fahrzeuge stützt. Die Beklagte hat sich im Verlauf des Revisionsverfahrens der Teilerledigungserklärung des Klägers angeschlossen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Berufungsgerichts zu den noch rechtshängigen Anträgen auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten wegen zulasten des Klägers begangener unerlaubter Handlungen aufgehoben und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Das Berufungsgericht hat zwar rechtsfehlerfrei erkannt, bei den Sicherungsabtretungen von Ansprüchen gegen die Beklagte "gleich aus welchem Rechtsgrund" handele es sich um vorformulierte Allgemeine Geschäftsbedingungen, die Bestandteil der Darlehensverträge geworden seien. Weiter im Ergebnis rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht die Klauseln als nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB kontrollfähig erachtet. Nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB sind Gegenstand der Inhaltskontrolle solche Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Die Klauseln, die der Bundesgerichtshof ohne Bindung an die Auslegung des Berufungsgerichts selbst auslegen kann, sind so zu verstehen, mit Ausnahme von Gewährleistungsansprüchen aus Kaufvertrag erfassten sie sämtliche mit dem Erwerb des Fahrzeugs in Zusammenhang stehende Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte. Einbezogen sind auch Ansprüche aus unerlaubter Handlung und Ansprüche nach dem Produkthaftungsgesetz, die dem Kläger und Darlehensnehmer bei der Verwendung der gekauften Fahrzeuge entstehen. Die Klauseln erfassen damit in Abweichung von der gesetzlichen Regelung auch Rentenansprüche aus § 843 BGB bzw. aus § 9 ProdHaftG, § 843 Abs. 2 bis 4 BGB im Falle einer aus der Verwendung der Fahrzeuge entstehenden Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung. Solche Ansprüche sind nach § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO bis zu einer anderslautenden Entscheidung durch das Vollstreckungsgericht nicht pfändbar und damit nach § 400 BGB nicht abtretbar.

Das Berufungsgericht hat aber unzutreffend angenommen, die Abtretungsklauseln seien wirksam, so dass der Kläger nicht aktivlegitimiert sei. Das Berufungsgericht hat dabei übersehen, dass die Klauseln einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 Nr. 1, §§ 134, 400 BGB, § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO ohne Wertungsmöglichkeit nicht standhalten. Sie weichen zulasten des Klägers von zwingenden Vorschriften ab. Unerheblich ist, ob der Kläger als Unternehmer oder als Verbraucher gehandelt hat. Die § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 400 BGB sind zwingendes Recht. § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist auch auf Renten anwendbar, die Selbständigen gezahlt werden. Insoweit ist der persönliche Schutzbereich weiter als sonst bei Regeln über die Pfändung von Arbeitseinkommen.

Die wegen ihrer Abweichung von § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 400 BGB ohne Wertungsmöglichkeit unwirksamen formularmäßigen Sicherungsabtretungen sämtlicher Ansprüche gegen die Beklagte mit Ausnahme solcher aus kaufrechtlicher Gewährleistung können nicht mit der Maßgabe aufrechterhalten werden, dass andere Ansprüche als solche auf Zahlung von Renten, die wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten sind, wirksam abgetreten sind. Ein solches Verständnis liefe auf eine geltungserhaltende Reduktion hinaus, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unzulässig ist. Die Klauseln können auch nicht in einen inhaltlich zulässigen und einen inhaltlich unzulässigen Teil zerlegt werden.

Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung nunmehr in der Sache zu klären haben, ob die Beklagte dem Kläger aus unerlaubter Handlung haftet.

Die maßgeblichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs lauten:

§ 134 Gesetzliches Verbot

Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.

§ 307 Inhaltskontrolle

(1) 1Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. 2Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.

(2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung

1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder

2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist.

(3) 1Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. 2Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein.

§ 400 Ausschluss bei unpfändbaren Forderungen

Eine Forderung kann nicht abgetreten werden, soweit sie der Pfändung nicht unterworfen ist.

§ 843 Geldrente oder Kapitalabfindung

(1) Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten.

(2) 1Auf die Rente finden die Vorschriften des § 760 Anwendung. 2Ob, in welcher Art und für welchen Betrag der Ersatzpflichtige Sicherheit zu leisten hat, bestimmt sich nach den Umständen.

(3) Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.

(4) Der Anspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein anderer dem Verletzten Unterhalt zu gewähren hat.

Die maßgebliche Vorschrift des Produkthaftungsgesetzes lautet:

§ 9 Schadensersatz durch Geldrente

(1) Der Schadensersatz wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit und wegen vermehrter Bedürfnisse des Verletzten sowie der nach § 7 Abs. 2 einem Dritten zu gewährende Schadensersatz ist für die Zukunft durch eine Geldrente zu leisten.

(2) § 843 Abs. 2 bis 4 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist entsprechend anzuwenden.

Die maßgebliche Vorschrift der Zivilprozessordnung lautet:

§ 850b Bedingt pfändbare Bezüge

(1) Unpfändbar sind ferner

1. Renten, die wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten sind;

[…]

(2) Diese Bezüge können nach den für Arbeitseinkommen geltenden Vorschriften gepfändet werden, wenn die Vollstreckung in das sonstige bewegliche Vermögen des Schuldners zu einer vollständigen Befriedigung des Gläubigers nicht geführt hat oder voraussichtlich nicht führen wird und wenn nach den Umständen des Falles, insbesondere nach der Art des beizutreibenden Anspruchs und der Höhe der Bezüge, die Pfändung der Billigkeit entspricht.

(3) Das Vollstreckungsgericht soll vor seiner Entscheidung die Beteiligten hören.

Vorinstanzen:

Landgericht Stuttgart – Urteil vom 18. Oktober 2021 – 18 O 58/21

Oberlandesgericht Stuttgart – Urteil vom 1. Februar 2023 – 23 U 4323/21



BGH: Formularmäßige Abtretung von Schadensersatzansprüchen des Käufers im Dieselskandal an Finanzierungsbank unwirksam

BGH
Urteil vom 24. April 2023
VIa ZR 1517/22


Der BGH hat entschieden, dass die formularmäßige Abtretung von Schadensersatzansprüchen des Käufers im Dieselskandal an die Finanzierungsbank unwirksam ist.

Die Pressemitteilung des BGH:
Bundesgerichtshof entscheidet über die Unwirksamkeit der formularmäßigen Abtretung von Ansprüchen
des Käufers an die Finanzierungsbank in einem Dieselverfahren

Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat entschieden, dass die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Finanzierungsbank enthaltene Klausel über die Sicherungsabtretung von Ansprüchen des Käufers und Darlehensnehmers gegen den Verkäufer und Hersteller eines Dieselfahrzeugs Ansprüche auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung erfasst und unwirksam ist.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:

Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung auf Schadensersatz in Anspruch.

Im März 2019 erwarb der Kläger von der Beklagten als Verkäuferin einen Mercedes GLC 250 für 55.335,89 € als Neuwagen. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse EURO 6) ausgestattet Der Kläger leistete eine Anzahlung in Höhe von 9.140 € an die Beklagte. Den Kaufpreis finanzierte er im Übrigen in Höhe von 46.195,89 € teilweise noch valutierend bei einer Bank (künftig Darlehensgeberin). Dem Darlehensvertrag lagen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Darlehensgeberin zugrunde. Dort hieß es unter anderem:

"II. Sicherheiten

Der Darlehensnehmer räumt dem Darlehensgeber zur Sicherung aller gegenwärtigen und bis zur Rückzahlung des Darlehens noch entstehenden sowie bedingten und befristeten Ansprüche des Darlehensgebers aus der Geschäftsverbindung einschließlich einer etwaigen Rückabwicklung, gleich aus welchem Rechtsgrund, Sicherheiten gemäß nachstehenden Ziffern 1-3 ein. […]

[…]

3. Abtretung von sonstigen Ansprüchen

Der Darlehensnehmer tritt ferner hiermit folgende – gegenwärtige und zukünftige – Ansprüche an den Darlehensgeber ab, […] [der] diese Abtretung annimmt:

[…]

- gegen die [Beklagte] […], gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag des Darlehensnehmers gegen die […] [Beklagte] oder einen Vertreter der […] [Beklagten]. Der Darlehensnehmer hat dem Darlehensgeber auf Anforderung jederzeit die Namen und Anschriften der Drittschuldner mitzuteilen.

[…]

6. Rückgabe der Sicherheiten

Der Darlehensgeber verpflichtet sich, nach Wegfall des Sicherungszweckes (alle Zahlungen unanfechtbar erfolgt) sämtliche Sicherungsrechte (Abschnitt II. Ziff. […] 3) zurückzuübertragen […] Bestehen mehrere Sicherheiten, hat der Darlehensgeber auf Verlangen des Darlehensnehmers schon vorher nach […] [seiner] Wahl einzelne Sicherheiten oder Teile davon freizugeben, falls deren realisierbarer Wert 120% der gesicherten Ansprüche des Darlehensgebers überschreitet […]"

Der Kläger hat die Beklagte in den Vorinstanzen unter dem Gesichtspunkt des Rücktritts vom Kaufvertrag und unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung wegen des Inverkehrbringens des Fahrzeugs auf Zahlung nebst Verzugszinsen an sich sowie auf Freistellung von restlichen Darlehensraten, Zug um Zug gegen Übergabe und Übertragung des Anwartschaftsrechts auf Rückübereignung des Fahrzeugs, in Anspruch genommen. Weiter hat er auf Feststellung des Annahmeverzugs und die Erstattung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten angetragen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision hat der Kläger seine zweitinstanzlich gestellten Anträge weiterverfolgt, soweit er sie auf eine unerlaubte Handlung der Beklagten durch das Inverkehrbringen des Fahrzeugs stützt.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Berufungsgerichts aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Das Berufungsgericht hat zwar rechtsfehlerfrei erkannt, bei der Sicherungsabtretung von Ansprüchen gegen die Beklagte "gleich aus welchem Rechtsgrund" handele es sich um eine vorformulierte Allgemeine Geschäftsbedingung, die Bestandteil des Darlehensvertrags geworden ist. Es hat aber unzutreffend angenommen, die Abtretungsklausel sei wirksam, so dass der Kläger nicht aktivlegitimiert sei.

Die Abtretungsklausel ist so zu verstehen, mit Ausnahme von Gewährleistungsansprüchen aus Kaufvertrag erfasse sie jedenfalls sämtliche mit dem Erwerb des Fahrzeugs in Zusammenhang stehenden Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte. Damit sind auch solche Forderungen erfasst, die dem Darlehensnehmer als Verbraucher im Rahmen des von § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB geregelten Rückabwicklungsverhältnisses nach Widerruf der auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichteten Willenserklärung gegen die Beklagte erwachsen.

So verstanden hält die Abtretungsklausel einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 Nr. 1, §§ 134, 361 Abs. 2 Satz 1, § 355 Abs. 3 Satz 1, § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ohne Wertungsmöglichkeit nicht stand, weil sie zulasten des Klägers als Verbraucher und Vertragspartner zweier verbundener Verträge von zu seinen Gunsten zwingenden Vorschriften abweicht.

Nach § 358 Abs. 4 Satz 1 BGB in der auf das Vertragsverhältnis zwischen dem Kläger und der Darlehensgeberin geltenden Fassung findet in Fällen, in denen wie hier der Kaufvertrag über das Fahrzeug und der Allgemein-Verbraucherdarlehensvertrag verbundene Verträge im Sinne des § 358 Abs. 3 BGB darstellen, im Falle des Widerrufs unter anderem § 355 Abs. 3 Satz 1 BGB Anwendung, demzufolge die empfangenen Leistungen unverzüglich zurückzugewähren sind. Dabei tritt nach § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB der Darlehensgeber im Verhältnis zum Verbraucher (hier dem Darlehensnehmer und Käufer) hinsichtlich der Rechtsfolgen des Widerrufs in die Rechte und Pflichten des Unternehmers aus dem verbundenen Vertrag (hier des Verkäufers) ein, wenn das Darlehen dem Unternehmer (hier dem Verkäufer) bei Wirksamwerden des Widerrufs bereits zugeflossen ist. § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB ordnet unter der Voraussetzung, dass das Darlehen bereits an den Unternehmer (hier den Verkäufer) geflossen ist, eine gesetzliche Schuldübernahme bzw. einen gesetzlichen Schuldnerwechsel und einen Anspruchsübergang an. Infolge dieser gesetzlichen Schuldübernahme ist der Darlehensgeber aufgrund der (halb-)zwingenden Vorgabe des § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB zugunsten des Verbrauchers (hier des Darlehensnehmers und Käufers) mit dem Wirksamwerden des Widerrufs verpflichtet, eine aus eigenen Mitteln des Darlehensnehmers und Käufers an den Unternehmer (hier den Verkäufer) geleistete Anzahlung an den Darlehensnehmer zu erstatten.

Die von der Darlehensgeberin in den Darlehensvertrag eingeführte Abtretungsklausel weicht von diesen zugunsten des Klägers zwingenden gesetzlichen Vorgaben ab. Sie führt in Fällen, in denen die Beklagte als Verkäuferin den Kaufpreis vereinnahmt hat, das Widerrufsrecht aber noch fortbesteht und vom Käufer und Darlehensnehmer später ausgeübt wird, dazu, dass der Käufer und Darlehensnehmer entgegen § 358 Abs. 4 Satz 5 BGB eine von ihm aus eigenen Mitteln erbrachte Anzahlung auch dann nicht einredefrei herausverlangen oder mit einem Anspruch auf Rückgewähr der Anzahlung auch dann nicht gegen einen Anspruch des Darlehensgebers auf Wertersatz aufrechnen kann, wenn er seiner gesetzlichen Vorleistungspflicht auf Rückgabe des Fahrzeugs genügt hat. Denn auch in diesem Fall dient die zunächst gegen die Beklagte begründete und im Wege des Schuldnerwechsels gegen die Darlehensgeberin fortbestehende Forderung auf Rückgewähr der Anzahlung, wenn sie nicht schon wegen einer Vereinigung von Schuldner und Gläubiger der Forderung erlischt, nach den Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Darlehensgeberin der Sicherung aller Ansprüche der Darlehensgeberin und damit im Falle des Widerrufs auch der Sicherung eines vom Verkäufer auf die Darlehensgeberin übergeleiteten Anspruchs auf Wertersatz. Der aufgrund der Sicherungsabtretung nicht aktivlegitimierte Käufer und Darlehensnehmer müsste daher auch dann, wenn er seiner Vorleistungspflicht im Hinblick auf das Fahrzeug genügt hätte, mit der Leistung von Wertersatz wegen der Nutzung des Fahrzeugs in Vorleistung treten, ohne sich nach dem Fälligwerden seiner Forderungen aus dem Rückgewährschuldverhältnis von dieser Leistungspflicht durch eine Aufrechnung mit seinem Anspruch auf Rückgewähr der Anzahlung befreien zu können. Darin läge mit der Folge der Unwirksamkeit der Klausel eine Verschlechterung der Position des Käufers und Darlehensnehmers gegenüber den gesetzlichen Vorgaben zur Rückabwicklung verbundener Verträge nach Widerruf.

Die wegen ihrer Abweichung von der zugunsten des Klägers als Käufer und Darlehensnehmer zwingenden gesetzlichen Vorgabe ohne Wertungsmöglichkeit unwirksame formularmäßige Sicherungsabtretung sämtlicher Ansprüche gegen die Beklagte mit Ausnahme solcher aus kaufrechtlicher Gewährleistung kann nicht mit der Maßgabe aufrechterhalten werden, dass andere Ansprüche als solche aus einem Rückgewährschuldverhältnis nach Widerruf und damit solche aus einer unerlaubten Handlung der Beklagten wirksam abgetreten sind. Ein solches Verständnis liefe auf eine geltungserhaltende Reduktion hinaus, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unzulässig ist. Darauf, dass der Kläger hier seine auf Abschluss des Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung nicht widerrufen hat, sondern aus unerlaubter Handlung gegen die Beklagte vorgeht, kommt es nicht an. Die Klausel ist zu weit gefasst. Damit ist sie insgesamt unwirksam und der Kläger ohne Rücksicht auf einen Widerruf möglicher Inhaber von Ansprüchen aus unerlaubter Handlung gegen die Beklagte.

Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung nunmehr in der Sache zu klären haben, ob die Beklagte dem Kläger aus unerlaubter Handlung haftet.

Die maßgeblichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs lauten:

§ 134 Gesetzliches Verbot

Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.

§ 307 Inhaltskontrolle

(1) 1Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. 2Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.

(2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung

1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder

2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist.

(3) 1Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. 2Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein.

§ 355 Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen

[…]

(3) 1Im Falle des Widerrufs sind die empfangenen Leistungen unverzüglich zurückzugewähren. […]

§ 358 Mit dem widerrufenen Vertrag verbundener Vertrag (Fassung vom 11. März 2016)

[…]

(4) 1Auf die Rückabwicklung des verbundenen Vertrags sind unabhängig von der Vertriebsform § 355 Absatz 3 und, je nach Art des verbundenen Vertrags, die §§ 357 bis 357b entsprechend anzuwenden. […] 5Der Darlehensgeber tritt im Verhältnis zum Verbraucher hinsichtlich der Rechtsfolgen des Widerrufs in die Rechte und Pflichten des Unternehmers aus dem verbundenen Vertrag ein, wenn das Darlehen dem Unternehmer bei Wirksamwerden des Widerrufs bereits zugeflossen ist.

§ 361 Weitere Ansprüche, abweichende Vereinbarungen und Beweislast

[…]

(2) 1Von den Vorschriften dieses Untertitels darf, soweit nicht ein anderes bestimmt ist, nicht zum Nachteil des Verbrauchers abgewichen werden. […]

Vorinstanzen:

Landgericht Stuttgart – Urteil vom 8. April 2021 – 24 O 283/20
Oberlandesgericht Stuttgart – Urteil vom 28. September 2022 – 23 U 2239/21


EuGH: Bei Schummeldiesel-Fahrzeugen mit unzulässiger Abschalteinrichtung kann auch bei Fahrlässigkeit ein Schadensersatzanspruch gegen Hersteller bestehen - Anrechnung von Nutzungsvorteilen

EuGH
Urteil vom 21.03.2023
C-100/21
Mercedes-Benz Group (Haftung der Hersteller von Fahrzeugen mit Abschalteinrichtungen)


Der EuGH hat entschieden, dass bei Schummeldiesel-Fahrzeugen mit unzulässiger Abschalteinrichtung auch bei Fahrlässigkeit ein Schadensersatzanspruch gegen den Hersteller bestehen kann, wobei Nutzungsvorteile ggf. anzurechnen sind.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Der Käufer eines Kraftfahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung hat gegen den Fahrzeughersteller einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn dem Käufer durch diese Abschalteinrichtung ein Schaden entstanden ist

Neben allgemeinen Rechtsgütern schützt das Unionsrecht auch die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist.

Das Landgericht Ravensburg (Deutschland) ist mit der Schadensersatzklage einer Privatperson (QB) gegen Mercedes-Benz Group befasst. Diese Klage ist auf den Ersatz des Schadens gerichtet, den Mercedes-Benz Group dadurch verursacht haben soll, dass sie das von QB erworbene Dieselkraftfahrzeug mit einer Software ausgerüstet habe, mit der die Abgasrückführung verringert wird, wenn die Außentemperaturen unter einem bestimmten Schwellenwert liegen. Eine solche Abschalteinrichtung, die höhere Stickstoffoxid (NOx)-Emissionen zur Folge habe, sei nach der Verordnung Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen verboten.

Im deutschen Recht kann bei einfacher Fahrlässigkeit ein Schadensersatzanspruch gegeben sein, wenn gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstoßen wurde. Daher fragt das deutsche Gericht den Gerichtshof, ob die maßgeblichen Bestimmungen der Richtlinie 2007/46 zur Schaffung eines Rahmens für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen (im Folgenden: Rahmenrichtlinie) in Verbindung mit der Verordnung Nr. 715/2007 dahin auszulegen sind, dass sie die Einzelinteressen eines individuellen Käufers eines solchen Fahrzeugs schützen. Was die Berechnung des QB eventuell geschuldeten Schadensersatzes betrifft, möchte das Landgericht Ravensburg außerdem wissen, ob es für die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts erforderlich ist, dass eine Anrechnung von Nutzungsvorteilen auf diesen Schadensersatzanspruch unterbleibt oder nur in eingeschränktem Umfang erfolgt.

In seinem Urteil erläutert der Gerichtshof zunächst, dass es Sache des deutschen Gerichts ist, die Tatsachenfeststellungen zu treffen, die für die Feststellung erforderlich sind, ob die in Rede stehende Software als Abschalteinrichtung im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 einzustufen ist und ob ihre Verwendung gemäß einer der Ausnahmen gerechtfertigt werden kann, die diese Verordnung vorsieht.

Was die Rechtsgüter betrifft, die neben dem allgemeinen Ziel, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen, durch die Verordnung Nr. 715/2007 geschützt werden, berücksichtigt der Gerichtshof den weiteren Regelungsrahmen für die Genehmigung von Kraftfahrzeugen innerhalb der Union, in den sich diese Verordnung einfügt. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass Fahrzeuge gemäß der Rahmenrichtlinie einer EG-Typgenehmigung bedürfen, die nur erteilt werden kann, wenn der Fahrzeugtyp den Bestimmungen der Verordnung Nr. 715/2007, insbesondere denen über Emissionen, entspricht. Darüber hinaus sind die Fahrzeughersteller nach der Rahmenrichtlinie verpflichtet, dem individuellen Käufer eine Übereinstimmungsbescheinigung auszuhändigen. Mit diesem Dokument, das u. a. für die Inbetriebnahme eines Fahrzeugs vorgeschrieben ist, wird bestätigt, dass dieses Fahrzeug zum Zeitpunkt seiner Herstellung allen Rechtsakten entspricht. Durch die Übereinstimmungsbescheinigung lässt sich somit ein individueller Käufer eines Fahrzeugs davor schützen, dass der Hersteller gegen seine Pflicht verstößt, mit der Verordnung Nr. 715/2007 im Einklang mit stehende Fahrzeuge auf den Markt zu bringen.

Diese Erwägungen führen den Gerichtshof zu dem Schluss, dass die Rahmenrichtlinie eine unmittelbare Verbindung zwischen dem Automobilhersteller und dem individuellen Käufer eines Kraftfahrzeugs herstellt, mit der diesem gewährleistet werden soll, dass das Fahrzeug mit den maßgeblichen Rechtsvorschriften der Union übereinstimmt. Dementsprechend schützen nach Auffassung des Gerichtshofs die Bestimmungen der Rahmenrichtlinie in Verbindung mit denen der Verordnung Nr. 715/2007 neben allgemeinen Rechtsgütern die Einzelinteressen des individuellen Käufers eines Kraftfahrzeugs gegenüber dessen Hersteller, wenn dieses Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist. Die Mitgliedstaaten müssen daher vorsehen, dass der Käufer eines solchen Fahrzeugs gegen den Hersteller dieses Fahrzeugs einen Anspruch auf Schadensersatz hat.

In Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften über die Modalitäten für die Erlangung eines Schadensersatzes durch die betreffenden Käufer wegen des Erwerbs eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgerüsteten Fahrzeugs ist es Sache jedes einzelnen Mitgliedstaats, diese Modalitäten festzulegen. Der Gerichtshof weist allerdings darauf hin, dass die nationalen Rechtsvorschriften es nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen, für den dem Käufer entstandenen Schaden einen angemessenen Ersatz zu erhalten. Es kann auch vorgesehen werden, dass die nationalen Gerichte dafür Sorge tragen, dass der Schutz der unionsrechtlich gewährleisteten Rechte nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung der Anspruchsberechtigten führt. Im vorliegenden Fall wird das Landgericht Ravensburg zu prüfen haben, ob die Anrechnung des Nutzungsvorteils für die tatsächliche Nutzung des in Rede stehenden Fahrzeugs durch QB diesem eine angemessene Entschädigung für den Schaden gewährleistet, der ihm tatsächlich durch den Einbau einer nach dem Unionsrecht unzulässigen Abschalteinrichtung in sein Fahrzeug entstanden sein soll.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

EuGH-Generalanwalt: Thermofenster - Software die nach Außentemperatur und Höhenlage Höhe der Schadstoffemissionen eines Fahrzeugs verändert ist unionsrechtswidrig

EuGH-Generalanwalt
Schlussanträge vom 23.09.2021
C-128/20 GSMB Invest, C-134/20 Volkswagen und C-145/20 Porsche Inter Auto und Volkswagen


Der EuGH-Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass eine integrierte Software die nach Außentemperatur und Höhenlage Höhe der Schadstoffemissionen eines Fahrzeugs verändert (Thermofenster) unionsrechtswidrig ist.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Nach Auffassung von Generalanwalt Rantos ist der Einbau einer integrierten Software, mit der entsprechend der Außentemperatur und der Höhenlage die Höhe der Schadstoffemissionen eines Fahrzeugs verändert wird, unionsrechtswidrig und ein solches Fahrzeug nicht vertragsmäßig im Sinne der Richtlinie 1999/44

Eine solche Einrichtung kann nicht mit dem Schutz des Motors vor Beschädigung oder Unfall und dem sicheren Betrieb des Fahrzeugs gerechtfertigt werden, wenn diese Einrichtung vornehmlich der Schonung von Anbauteilen wie AGR-Ventil, AGR-Kühler und Dieselpartikelfilter dient.

Das geschärfte Bewusstsein für die Bedeutung des Umweltschutzes in der Europäischen Union kommt u. a. in dem Bestreben zum Ausdruck, die Emission von Schadstoffen zu begrenzen.

In diesem Sinne wurden Kraftfahrzeuge immer strengeren Vorschriften unterworfen, namentlich mit dem Erlass der Verordnung (EG) Nr. 715/20071 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen. Die drei vorliegenden Rechtssachen betreffen Automobile, die mit einer Software ausgestattet waren, welche unter bestimmten Außentemperaturbedingungen und ab einer bestimmten Höhenlage die Reduzierung der Emissionen von Stickoxid (NOx) begrenzt.

So wird bei dem in der ersten Rechtssache (C-128/20) in Rede stehenden Fahrzeug die Abgasreinigung infolge des Updates der in den Rechner zur Motorsteuerung integrierten Software bei einer Außentemperatur von unter 15 Grad Celsius und bei einer Außentemperatur von über 33 Grad Celsius sowie bei einer Höhe des Fahrbetriebs von mehr als 1 000 Metern ausgeschaltet (im Folgenden: Thermofenster). Außerhalb dieses Thermofensters im Verlauf von 10 Grad Celsius und
oberhalb von 1 000 Höhenmetern im Verlauf von 250 Höhenmetern wird die Abgasrückführrate linear auf 0 verringert, wodurch es zu einer Erhöhung der NOx-Emissionen über die Grenzwerte der Verordnung Nr. 715/2007 kommt.

Die in der zweiten (C-134/20) und dritten (C-145/20) Rechtssache in Rede stehenden Fahrzeuge enthielten ebenfalls eine Software, die das Abgasrückführungssystem gemäß dem Thermofenster regelte.

Vor diesem Hintergrund haben das Landesgericht Klagenfurt (Österreich), das Landesgericht Eisenstadt (Österreich) und der Oberste Gerichtshof (Österreich) beschlossen, den Gerichtshof im Wesentlichen zu fragen, ob eine Software dieser Art eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 darstellt, und wenn ja, ob diese Software auf der Grundlage der in dieser Verordnung vorgesehenen Ausnahmen vom Verbot solcher Einrichtungen zulässig ist.

In seinen Schlussanträgen vom heutigen Tag weist Generalanwalt Rantos zunächst darauf hin, dass der Gerichtshof sich mit seinem Urteil vom 17. Dezember 20202 erstmalig zur Auslegung der fraglichen Bestimmung geäußert habe. In der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache ging es um Kraftfahrzeuge, die über eine Software verfügten, mit der die Ergebnisse der Tests von Schadstoffemissionen, insbesondere von NOx, verfälscht werden sollten. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Einrichtung, die jeden Parameter im Zusammenhang mit dem Ablauf der in der Verordnung Nr. 715/2007 vorgesehenen Zulassungsverfahren erkennt, um die Leistung des Emissionskontrollsystems bei diesen Verfahren zu verbessern und so die Zulassung des Fahrzeugs zu erreichen, eine „Abschalteinrichtung“ darstellt, selbst wenn eine solche Verbesserung punktuell auch unter normalen Nutzungsbedingungen des Fahrzeugs beobachtet werden kann.

Um festzustellen, ob es sich bei der fraglichen Software um eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 handelt, prüft der Generalanwalt, wie sie unter „normalem Betrieb“ der betroffenen Fahrzeuge funktioniert. Mit diesem Betrieb sind seiner Auffassung nach nicht die Bedingungen des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ), sondern die Bedingungen des realen Fahrbetriebs gemeint.

In diesem Zusammenhang stellt er fest, dass das Thermofenster für die tatsächlichen Fahrbedingungen nicht repräsentativ sei, da amtliche Statistiken zeigten, dass die Durchschnittstemperaturen der Jahre 2017 bis 2019 in Österreich und Deutschland sowie in anderen Mitgliedstaaten deutlich unter 15 Grad Celsius gelegen hätten. Aufgrund der Topografie Österreichs und Deutschlands führen die Kraftfahrzeuge außerdem vielfach in Höhen von mehr als 1 000 Metern.

Er schließt daraus, dass die in Rede stehende Software bei normalen Nutzungsbedingungen und normalem Fahrzeugbetrieb die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems verringere, so dass sie eine „Abschalteinrichtung“ im Sinne der Verordnung Nr. 715/2007 darstelle. Der Generalanwalt weist sodann darauf hin, dass diese Verordnung Ausnahmen vom Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen vorsieht, insbesondere, wenn die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten.

In diesem Zusammenhang unterstreicht er, dass der Unionsgesetzgeber klar zwischen dem Motor, auf den sich die betreffende Ausnahme beziehe, und dem Emissionsminderungssystem, zu dem das Abgasrückführungssystem (AGR-System) gehöre, unterschieden habe. Nach Ansicht des Generalanwalts fällt eine Abschalteinrichtung, die vornehmlich der Schonung von
Anbauteilen wie AGR-Ventil, AGR-Kühler und Dieselpartikelfilter dient, nicht unter die Verbotsausnahme, da das Funktionieren dieser Teile nicht den Schutz des Motors berühre. Im Übrigen hängt die Zulässigkeit einer solchen Einrichtung nicht davon ab, ob sie bereits bei Herstellung des Fahrzeugs in diesem verbaut oder nachträglich installiert wurde.

Im Rahmen der EG-Typgenehmigung müssen die Fahrzeuge zudem den unionsrechtlichen Anforderungen entsprechen, insbesondere denjenigen in Bezug auf Abschalteinrichtungen. Ist dies nicht der Fall, verfügen diese Fahrzeuge nicht über eine ordnungsgemäße, vom Hersteller ausgestellte Übereinstimmungsbescheinigung, und ein Verkauf oder eine Zulassung sind nicht
erlaubt.

Da ein normal informierter, angemessen aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher erwarten darf, dass die rechtlichen Anforderungen eingehalten werden, ist das betreffende Fahrzeug aus Sicht des Generalanwalts, selbst wenn es keine spezifischen Vertragsklauseln gibt, nicht im Sinne der Richtlinie 1999/443 dem Kaufvertrag gemäß. Wenn keine ordnungsgemäße Übereinstimmungsbescheinigung vorliegt, stimmt das betreffende Fahrzeug nämlich nicht im Sinne der Richtlinie 1999/44 „mit der vom Verkäufer gegebenen Beschreibung“ überein, es eignet sich weder „für einen bestimmten vom Verbraucher angestrebten Zweck“ noch „für die Zwecke …, für die Güter der gleichen Art gewöhnlich gebraucht werden“, selbst wenn dieses Fahrzeug über eine gültige EG-Typgenehmigung verfügt. Schließlich kann eine Vertragswidrigkeit, die darin besteht, dass das betreffende Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet ist, selbst dann nicht als „geringfügig“ angesehen werden, wenn der Verbraucher das Fahrzeug selbst bei Kenntnis des Vorhandenseins dieser Einrichtung und ihrer Wirkungsweise erworben hätte. Unter diesen Umständen wird dem Verbraucher nicht das Recht genommen, gemäß der Richtlinie 1999/44 die Vertragsauflösung zu verlangen.

Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:
C-128/20
C-134/20
C-145/20


BGH: Daimler-Thermofenster reicht allein nicht aus um Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zu begründen

BGH
Urteil vom 13.07.2021
VI ZR 128/20


Der BGH hat abermals entschieden, dass das Daimler-Thermofenster allein nicht ausreicht, um einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung zu begründen.

Die Pressemitteilung des BGH:

Der unter anderem für das Recht der unerlaubten Handlungen zuständige VI. Zivilsenat hat sich erneut zur Thematik des sogenannten "Thermofensters" geäußert.

Sachverhalt:

Der Kläger erwarb im Oktober 2012 von dem beklagten Fahrzeughersteller ein Neufahrzeug vom Typ Mercedes-Benz C 220 CDI BlueEfficiency zu einem Kaufpreis von rund 35.000 €. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor der Baureihe OM 651 ausgestattet und unterliegt keinem Rückruf durch das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA). Für den Fahrzeugtyp wurde eine Typgenehmigung nach der Verordnung 715/2007/EG mit der Schadstoffklasse Euro 5 erteilt.

Die Abgasreinigung erfolgt in dem vom Kläger erworbenen Fahrzeug über die Abgasrückführung, bei der ein Teil der Abgase wieder der Verbrennung im Motor zugeführt wird, was zu einer Verringerung der Stickoxidemissionen führt. Die Abgasrückführung wird bei kühleren Temperaturen reduziert ("Thermofenster"), wobei zwischen den Parteien streitig ist, bei welchen Außen-/Ladelufttemperaturen dies der Fall ist.

Der Kläger behauptet, die Beklagte habe durch den Einbau des Thermofensters und verschiedener weiterer Abschalteinrichtungen in verbotener Weise Einfluss auf das Emissionsverhalten genommen, so im Typgenehmigungsverfahren die Einhaltung der gesetzlichen Grenzwerte vorgespiegelt und den Kläger dadurch vorsätzlich sittenwidrig geschädigt. Mit seiner Klage verlangt er von der Beklagten im Wesentlichen die Erstattung des gezahlten Kaufpreises zuzüglich Finanzierungskosten, Zug um Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs und abzüglich einer Nutzungsentschädigung.

Bisheriger Prozessverlauf:

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts steht dem Kläger kein Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung gegen die Beklagte zu. Das Inverkehrbringen des vom Kläger erworbenen Fahrzeugs sei unabhängig von der objektiven Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des in der Motorsteuerung installierten "Thermofensters" weder als sittenwidrige Handlung einzustufen noch ergebe sich daraus der erforderliche Schädigungsvorsatz der Beklagten. Es könne ohne konkrete Anhaltspunkte nicht unterstellt werden, dass die Verantwortlichen bei der Beklagten in dem Bewusstsein agiert hätten, möglicherweise eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden. Die Gesetzeslage sei hinsichtlich der Zulässigkeit von "Thermofenstern" nicht eindeutig. Soweit der Kläger eine Vielzahl weiterer Steuerungsstrategien zur Abgasreinigung behaupte, fehle es an einem konkreten Bezug zu dem hier in Rede stehenden Fahrzeug und damit jedenfalls an einem substantiierten, dem Beweis zugänglichen Sachvortrag.

Entscheidung des Senats:

Der VI. Zivilsenat hat das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Das Berufungsgericht ist allerdings zu Recht davon ausgegangen, dass die Entwicklung und der Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) für sich genommen nicht ausreichen, um einen Schadensersatzanspruch wegen vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB) zu begründen. Wie der Senat bereits in seinem Beschluss vom 19. Januar 2021 – VI ZR 433/19 (s. Pressemitteilung Nr. 16/2021) ausgeführt hat, ist der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit vielmehr nur dann gegeben, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen. Die Annahme von Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass diese Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen. Dies ist im Streitfall nicht festgestellt.

Unter den Umständen des Einzelfalles rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht aber konkreten Sachvortrag des Klägers zu einer der weiteren behaupteten Abschalteinrichtungen als prozessual unbeachtlich angesehen. Aus diesem Grund war die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit es die erforderlichen Feststellungen hierzu treffen kann.

Die maßgebliche Vorschrift lautet:

§ 826 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB):

Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet.

Vorinstanzen:

Landgericht Koblenz – Urteil vom 30. Oktober 2018 – 1 O 74/18

Oberlandesgericht Koblenz – Urteil vom 6. Januar 2020 – 12 U 1408/18



BGH: Entwicklung und Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) durch Daimler nicht per se vorsätzliche sittenwidrige Schädigung

BGH
Beschluss vom 19.01.2021
VI ZR 433/19
BGB § 826; ZPO § 544 Abs. 9


Der BGH hat entschieden, dass Entwicklung und Einsatz der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) durch Daimler nicht per se eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung im Sinne von § 826 BGB darstellt.

Leitsätze des BGH:

a) Das Verhalten der für einen Kraftfahrzeughersteller handelnden Personen ist nicht bereits deshalb als sittenwidrig zu qualifizieren, weil sie einen Fahrzeugtyp aufgrund einer grundlegenden unternehmerischen Entscheidung mit einer temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems (Thermofenster) ausgestattet und in den Verkehr gebracht haben. Dies gilt auch dann, wenn mit der Entwicklung und dem Einsatz dieser Steuerung eine Kostensenkung und die Erzielung von Gewinn erstrebt wird. Der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit ist nur gegeben, wenn weitere Umstände hinzutreten, die das Verhalten der handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen lassen.

b) Die Annahme objektiver Sittenwidrigkeit setzt jedenfalls voraus, dass die handelnden Personen bei der Entwicklung und/oder Verwendung der temperaturabhängigen Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handelten, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden, und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nahmen.

BGH, Beschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19 - OLG Köln - LG Köln

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BVerfG: Verfassungsbeschwerde gegen Vorschriften zur elektronischen Patientenakte und der Werbung für Versorgungsinnovationen abgewiesen -

BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvR 619/20
BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvQ 108/20


Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Erfolglose Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit Vorschriften zur elektronischen Patientenakte und der Werbung für Versorgungsinnovationen

Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) richtete. Gegenstand waren Regelungen im Zusammenhang mit der elektronischen Patientenakte, die den gesetzlichen Krankenkassen gegenüber ihren Versicherten gezielte Informationen über und Angebote zu Versorgungsinnovationen ermöglichen (§ 68b Abs. 2 und Abs. 3 SGB V) und die es unter bestimmten Voraussetzungen erlauben, ohne Pseudonymisierung Datenverarbeitungen zur Qualitätssicherung durchzuführen (§ 299 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB V). Gleichzeitig hat die Kammer in einem weiteren Verfahren einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem das Inkrafttreten von § 68b Abs. 3, § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 19 SGB V verhindert werden sollte.

Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig, weil die Nutzung der elektronischen Patientenakte freiwillig ist und der Beschwerdeführer nicht unmittelbar und gegenwärtig in seinen eigenen Rechten betroffen ist. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung blieb schon deshalb ohne Erfolg, weil der Rechtsweg vor den Fachgerichten nicht erschöpft wurde.

Sachverhalt:

§ 68b Abs. 1 Satz 4 SGB V erlaubt den gesetzlichen Krankenversicherungen, die von ihnen rechtmäßig erhobenen und gespeicherten versichertenbezogenen Sozialdaten für die Vorbereitung von – gesetzlich nicht näher bestimmten – Versorgungsinnovationen und für die Gewinnung Versicherter für diese Versorgungsinnovationen im erforderlichen Umfang auszuwerten. Die Auswertung erfolgt pseudonymisiert und, soweit möglich, auch anonymisiert. Die Krankenkassen können ihre Versicherten über individuell geeignete Versorgungsinnovationen und andere Versorgungsleistungen informieren und ihnen entsprechende individuelle Angebote machen. Nach der bisherigen Rechtslage bestand sowohl für die Datenauswertung als auch für die Information und das Unterbreiten von Angeboten ein Einwilligungserfordernis der Versicherten. Durch § 68b Abs. 3 SGB V ist dieses Einwilligungserfordernis hinsichtlich der Datenauswertung nach § 68 Abs. 1 Satz 4 SGB V gänzlich entfallen. Hinsichtlich der gezielten Information und der Unterbreitung individueller Angebote nach § 68b Abs. 2 SGB V wurde das vorher bestehende Einwilligungserfordernis durch eine Widerspruchsmöglichkeit ersetzt. Die Datenerhebungs- und
-speicherungsbefugnis der gesetzlichen Krankenversicherungen wird nach § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 19 SGB V auf solche Sozialdaten erweitert, die zur Vorbereitung von Versorgungsinnovationen, zur Information der Versicherten und zur Unterbreitung von Angeboten dienen.

Gerügt wird jeweils eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 619/20 ist unzulässig.

Im Hinblick auf die Vorschriften, mit denen die Einführung der elektronischen Patientenakte geregelt wird, ist der Beschwerdeführer nicht unmittelbar und gegenwärtig in eigenen Rechten betroffen. Denn die Nutzung der elektronischen Patientenakte ist gemäß § 341 Abs. 1 Satz 2 SGB V freiwillig. Damit hat der Beschwerdeführer es selbst in der Hand, die geltend gemachte Verletzung in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuwenden, indem er seine Einwilligung zur Nutzung der elektronischen Patientenakte nicht erteilt.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Verfahren 1 BvQ 108/20 hat keinen Erfolg, weil eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) unzulässig wäre.

Der Antragsteller war verpflichtet, zunächst bei den Sozialgerichten um Rechtsschutz im Wege einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage nachzusuchen. Die in den angegriffenen Vorschriften verankerten Datenverarbeitungsbefugnisse enthalten unbestimmte Rechtsbegriffe, von deren Auslegung entscheidend abhängt, inwiefern der Antragsteller rechtlich und tatsächlich beschwert ist. Damit sind gerade nicht nur spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen, sondern diesen vorgelagert zunächst Fragen der Auslegung des Fachrechts zu klären. Erst danach besteht eine gesicherte Tatsachen- und Rechtsgrundlage, auf der über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen entschieden werden kann.

Sie finden die Entscheidungen hier:


BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvR 619/20
BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvQ 108/20


LG Stuttgart: Schummeldiesel-Käufer haben keine Amtshaftungsansprüche gegen Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit VW-Diesel-Skandal

LG Stuttgart
Urteile vom 27.08.2020
7 O 425/19 - 7 O 66/20 - 7 O 67/20


Das LG Stuttgart hat entschieden, dass Schummeldiesel-Käufer keine Amtshaftungsansprüche gegen die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem VW-Diesel-Skandal haben.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Kein Anspruch der Kläger gegen die BRD wegen "VW-Diesel-Abgasskandals"

Kurzbeschreibung: Urteile der 7. Zivilkammer: Kein Anspruch der Kläger auf Schadenersatz gegen die BRD im Zusammenhang mit dem Erwerb eines vom sogenannten „VW-Diesel-Abgasskandal“ betroffenen Fahrzeugs

Feststellungsklagen unzulässig und unbegründet

Die 7. Zivilkammer des Landgerichts Stuttgart hat heute unter Vorsitz des Vorsitzenden Richters am Landgericht Schabel drei Urteile in den mittlerweile mehr als 20 anhängigen gleichgelagerten Schadenersatzklagen gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen behaupteter Amtspflichtverletzung verkündet. Die Kläger sind bzw. waren jeweils Inhaber eines mit dem Motor EA 189 ausgestatteten Fahrzeugs des VW-Konzerns und begehren jeweils die Feststellung, dass ihnen die Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem sog. VW-Diesel-Abgasskandal zum Schadenersatz verpflichtet ist. Die Kammer hat die Feststellungsklagen jeweils abgewiesen.

Erwägungen der Kammer
Die Kammer hält die Feststellungsklagen bereits für unzulässig und jedenfalls für unbegründet. Den Klägern fehle es bereits aus mehreren Gründen am erforderlichen Feststellungsinteresse. So hat sich ein Kläger bereits mit der VW AG auf einen Vergleich verständigt und hat infolgedessen das Fahrzeug nicht mehr im Besitz. Zudem sei der von den Klägern jeweils geltend gemachte europarechtliche Staatshaftungsanspruch nicht gegeben. So fehle es bereits an einer europarechtlichen Norm, die dem Schutz individueller Vermögensinteressen der Fahrzeugkäufer diene und bezwecke, diesen insoweit Rechte zu verleihen. Das Ziel der von den Klägern bemühten Richtlinie 2007/46/EG sei in erster Linie die Vollendung des europäischen Binnenmarktes; darüber hinaus solle sie die technischen Anforderungen in Rechtsakten harmonisieren und spezifizieren, wobei diese Rechtsakte vor allem auf hohe Verkehrssicherheit, Gesundheits- und Umweltschutz, rationelle Energienutzung und wirksamen Schutz gegen unbefugte Nutzung abzielten. Individualinteressen, vor allem das Vermögensinteresse von Kraftfahrzeugerwerbern, finde darin nach Ansicht der Kammer keine Erwähnung. Zudem sei für die Kammer nicht ersichtlich, dass die Bundesrepublik Deutschland Art. 46 der Richtlinie 2007/46/EG unzureichend in nationales Recht umgesetzt habe. Nach dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen die Richtlinie, insbesondere beim Anbieten, Verkaufen und Inbetriebnehmen von nicht genehmigten Teilen und Ausrüstungen nach Art. 31 der Richtlinie, wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen festzulegen. Auch einen die Haftung begründenden erforderlichen hinreichend qualifizierten Verstoß des Kraftfahrtbundesamts bei der Erteilung der Typengenehmigung für die streitgegenständlichen Fahrzeuge – in Gestalt der von den Klägern behaupteten fehlerhaften Überwachung der Automobilindustrie – könne die Kammer nicht feststellen. Etwaigen Ansprüchen der Kläger nach der deutschen Amtshaftungsnorm § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG stünde entgegen, dass nach dem vorgetragenen Sachverhalt eine Haftung der Herstellerin VW AG gemäß § 826 BGB in Betracht komme und ein etwaiger Amtshaftungsanspruch daher kraft Gesetzes zurücktrete.

Urteile nicht rechtskräftig – Berufung zum OLG möglich

Die Urteile sind nicht rechtskräftig. Den Kläger steht das Rechtsmittel der Berufung zum Oberlandesgericht offen.

Urteile Landgericht Stuttgart vom 27.08.2020 Aktenzeichen 7 O 425/19, 7 O 66/20, 7 O 67/20



BVerfG: Verfassungsbeschwerde des Suchmaschinenbetreibers Yahoo gegen Einführung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger unzulässig

BVerfG
Beschluss vom 10.10.2016
1 BvR 2136/14


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Verfassungsbeschwerde des Suchmaschinenbetreibers Yahoo gegen das Gesetz zur Einführung des Leistungsschutzrechts für Presseverleger unzulässig ist. Insofern sind - so das BVerfG - zunächst die Fachgerichte zur Auslegung in Anspruch zu nehmen.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Verfassungsbeschwerde von Betreiberinnen einer Internetsuchmaschine erfolglos

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine unmittelbar gegen die Einführung eines Leistungsschutzrechts für Presseverleger in das Urheberrechtsgesetz (UrhG) erhobene Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Den klagenden Betreiberinnen einer Internetsuchmaschine ist es zumutbar, vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde fachgerichtlichen Rechtsschutz bei Fragen der Reichweite des Presse-Leistungsschutzrechts, der vorgesehenen Ausnahmen oder der Höhe der Vergütung in Anspruch zu nehmen.

Sachverhalt:

Die Beschwerdeführerin zu 1) betrieb bis in das Jahr 2014 eine Internetsuchmaschine. Diese Leistungen werden seitdem von der Beschwerdeführerin zu 2) weitergeführt. Die angebotenen Dienste umfassen unter anderem einen klassischen Suchmaschinendienst und eine spezielle Nachrichtensuche.

Mit ihrer Verfassungsbeschwerde wenden sich die Beschwerdeführerinnen unmittelbar gegen § 87f und § 87g UrhG. Kernelement der Regelungen ist das den Presseverlegern zugewiesene Recht, über die öffentliche Zugänglichmachung ihrer Presseerzeugnisse für gewerbliche Zwecke zu bestimmen. Die Beschwerdeführerinnen rügen im Wesentlichen eine Verletzung der Informations- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

1. Der Grundsatz der Subsidiarität erfordert, dass ein Beschwerdeführer vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern. Daher ist eine Verfassungsbeschwerde unzulässig, wenn in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Anrufung der Fachgerichte erlangt werden kann.

2. Nach diesem Maßstab ist es den Beschwerdeführerinnen möglich und zumutbar, vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde fachgerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen.

a) Die Beschwerdeführerinnen können Rechtsschutz gegen Unterlassungs- und Schadensersatzbegehren von Presseverlegern, die diese auf eine unberechtigte Nutzung von Presseerzeugnissen stützen, auf dem gewöhnlichen Rechtsweg erlangen. Darüber hinaus bestehen spezielle Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber der Wahrnehmung des Presse-Leistungsschutzrechts.

b) Die Fachgerichte haben bei der Auslegung und Anwendung der angegriffenen Normen die Möglichkeit und die Verpflichtung, die Grundrechtspositionen der Beschwerdeführerinnen hinreichend zu berücksichtigen. Sie haben die im Gesetz zum Ausdruck kommende Interessenabwägung zwischen den geschützten Rechtspositionen der Presseverleger und den damit konkurrierenden Grundrechtspositionen insbesondere von Suchmaschinenbetreibern und Anbietern, die die Inhalte entsprechend aufbereiten, nachzuvollziehen und dabei unverhältnismäßige Grundrechtsbeschränkungen zu vermeiden. Auslegungsspielräume bestehen insbesondere bei den Fragen, was unter einem „Presseerzeugnis“ zu verstehen ist und wann „kleinste Textausschnitte“ vorliegen, die nicht vom Leistungsschutzrecht umfasst sind. Die Fachgerichte müssen dabei berücksichtigen, dass Suchmaschinen einem automatisierten Betrieb unterliegen, bei dem nicht ohne Weiteres erkennbar ist, wann ein Presseerzeugnis vorliegt. Bei der Auslegung und Anwendung der angegriffenen Rechtsnormen ist das Interesse von Suchmaschinenbetreibern in Betracht zu ziehen, Textausschnitte in einem Umfang nutzen zu dürfen, der dem Zweck von Suchmaschinen gerecht wird, Informationen im Internet einschließlich Online-Presseerzeugnisse auffindbar zu machen. Die Einbeziehung der Grundrechte der Beschwerdeführerinnen ist darüber hinaus bei der Bemessung der für die Nutzung von Presseerzeugnissen geschuldeten Vergütung möglich.

Soweit die Zivilgerichte eine ausreichende Berücksichtigung der Grundrechte der Beschwerdeführerinnen im Rahmen der Auslegung und Anwendung der angegriffenen Vorschriften nicht für möglich erachten, ist gegebenenfalls nach Maßgabe der Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage ihrer Verfassungsmäßigkeit einzuholen.

c) Es ist nicht ersichtlich, dass die Verweisung auf fachgerichtlichen Rechtsschutz vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde den Beschwerdeführerinnen unzumutbar wäre. Angesichts der Auslegungsfähigkeit und -bedürftigkeit der angegriffenen Rechtsnormen ist eine fachgerichtliche Klärung des Inhalts der einfachgesetzlichen Regelungen vor einer verfassungsgerichtlichen Beurteilung angezeigt. Dass eine der Ausnahmen von der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme fachgerichtlichen Rechtsschutzes vorliegt, legen die Beschwerdeführerinnen nicht ausreichend dar.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: