Skip to content

BVerfG: Streitrelevante Fragen zur Auslegung des Geldentschädigungsanspruchs aus Art. 82 DSGVO müssen EuGH zur Entscheidung vorgelegt werden

BVerfG
Beschluss vom 14.01.2021
1 BvR 2853/19

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass streitrelevante Fragen zur Auslegung des Geldentschädigungsanspruchs aus Art. 82 DSGVO dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt werden müssen, da insofern noch keine erschöpfende Klärung durch den EuGH erfolgt ist und viele offene Rechtsfragen bestehen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101. Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Diese Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

1. Das Amtsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es aufgrund der teilweisen Klageabweisung, der dadurch für den Beschwerdeführer nicht erreichten Berufungsbeschwer (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und der nicht zugelassenen Berufung letztinstanzlich tätig geworden ist und entgegen Art 267 Abs. 3 AEUV von einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat

a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73,339 <366>; 82, 159 <192>; 126, 286 <315>; 128, 157 <186 f.>; 129,78 <105>; 135, 155 <230 f. Rn. 177>). Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128, 157 <187>; 129,78 <105». Es kann einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.>; 82, 159 <192 ff.>; 135, 155 <230 f. Rn.177>; st Rspr).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15. September 2005, C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005, C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; st Rspr) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, Wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. auch BVerfGE 82, 159 <193>; 128, 157 <187>; 129,78 <105 f.>; 140,317 <376 Rn. 125>; 147,364 <378 f. Rn. 37>). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).

Diese Grundsatze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 126, 286 <315>; 147, 364 <380 Rn. 40>). Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126, 286 <315 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>). Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen' bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>). Ein "oberstes Vorlagenkontrollgericht" ist es nicht (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>; 135, 155 <231 f. :Rn. 180>; 147, 364 <379 f. Rn. 39>; BVerfGE 13, 506 <512>; 14, 230 <233>; 16, 328 <336>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW 1988, S. 1456 [1457]).

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126,286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129,78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 181>; 147,364 <380 Rn. 41>).

Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht .und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 75, 223 <245>; 82,159 <195>; 126,286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 .<232 Rn. 182>; 147, 364 <381 Rn. 42>).

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; BVerfGK 10,19 <29>). Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines "acte clair" oder eines "acte éclairé" durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten (vgl. BVerfGE 135, 155 <232 f. Rn. 183>; 147; 364 <381 Rn. 43>).

In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 <234>; 128, 157 <188>; 129, 78 <107>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt ("acte eclaine"; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>). Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfGE 147,364 <380 f. Rn. 41>; BVerfGE 8, 401 <405>; 10, 19 <30 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 - 1 BvR 2722/06 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, Rn. 19).

Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen-Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts - hier der DSGVO - an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 157 <188>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230109 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 - 1 BvR 1631/08, Rn. 48).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Amtsgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, indem es von einem Vorabentscheidungsersuchen wegen der zu klärenden Frage, ob im vom Beschwerdeführer vorgetragenen Fall der datenschutzwidrigen Verwendung einer Email-Adresse und der Übersendung einer ungewollten Email an das geschäftliche Email-Konto des Beschwerdeführers nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO ein Schmerzensgeldanspruch des Beschwerdeführers in Betracht kommt.

aa) Das Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass sich kein Anspruch des Beschwerdeführers aus der ohne seine, ausdrückliche Einwilligung erfolgten Übersendung der Email aus Art. 82 DSGVO ergebe, weil ein Schaden nicht eingetreten sei.

Der im Ausgangsverfahren zu beurteilende Sachverhalt warf die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewährt und welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 Satz 3 zu geben ist; der eine weite Auslegung des Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verlangt, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen, also diejenige natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO).

Dieser Geldentschädigungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union weder erschöpfend geklärt noch kann er in seinen einzelnen, für die Beurteilung des im Ausgangsverfahrens vorgetragenen Sachverhalts notwendigen Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Auch in der bislang vorliegenden Literatur, die sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes ausspricht, sind die Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch unklar (vgl. Gola/Piltz, in: Gola, DSGVO, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 12 f.; Quaas, in: BeckOK Datenschutzrecht, 34. Ed., 11/2020, Art. 82 Rn. 23 f.; Bergt, in: Kühling/Buchner, DSGVO BDSG, 3. Aufl., 2020, Art. 82, Rn. 17 f.; Boehm, in: Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht, 1. Aufl., 2019, Art. 82 Rn. 11 f.; Frenzel, In: Paal/Pauly, DSGVO BDSG, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 10). Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte clair), konnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gilt umso mehr, als Art. 82 DSGVO ausdrücklich immaterielle Schäden einbezieht.

bb) Die angegriffene Entscheidung zeigt, dass das Amtsgericht die Problematik der Auslegung des Art. 82 Abs. 1 DSGVO durchaus gesehen hat. Es hat sodann aber verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft eine eigene Auslegung des Unionsrechts vorgenommen, indem es sich für die Ablehnung des Anspruchs auf ein Merkmal fehlender Erheblichkeit gestützt hat, das so weder unmittelbar in der DSGVO angelegt ist, noch von der Literatur befürwortet oder vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendet wird.

Gleiches gilt für den vom Beschwerdeführer mit angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts, mit dem es die erhobene Gehörsrüge des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat. Auch hier rekurriert das Amtsgericht auf das Bestehen eines bislang ungeklärten Merkmals eines Bagatellverstoßes im Rahmen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

cc) Die Antwort auf die Rechtsfrage, wie Art. 82 Abs. 1 DSGVO vor dem Hintergrund von Erwägungsgrund 146 in Fällen der Übersendung einer Email ohne Zustimmung auszulegen ist, war für die Entscheidung über den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zahlungsanspruch entscheidungserheblich.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Die Kommentarfunktion wurde vom Besitzer dieses Blogs in diesem Eintrag deaktiviert.

Kommentar schreiben

Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Standard-Text Smilies wie :-) und ;-) werden zu Bildern konvertiert.
Formular-Optionen