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BGH: Verfahrensführung des Richters wird im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG nicht auf Richtigkeit sondern auf Vertretbarkeit geprüft

BGH
Urteil vom 15.12.2022
III ZR 192/21 GVG
§ 198 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3, 4


Der BGH hat entschieden, dass die Verfahrensführung des Richters im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG nicht auf Richtigkeit sondern auf Vertretbarkeit geprüft wird.

Leitsätze des BGH:
a) Die Verfahrensführung des Richters wird im Entschädigungsprozess nach § 198 GVG - entsprechend den im Amtshaftungsprozess entwickelten Grundsätzen - nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit überprüft. Letztere darf nur verneint werden, wenn bei voller Würdigung auch der Belange einer funktionstüchtigen Rechtspflege das richterliche Verhalten nicht mehr verständlich ist. Für "Musterverfahren" oder "Pilotverfahren" gelten insoweit keine Besonderheiten (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 5. Dezember 2013 - III ZR 73/13, BGHZ 199, 190 und vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14, BGHZ 204, 184).

b) Im Entschädigungsprozess findet grundsätzlich keine Überprüfung der rechtlichen Überlegungen, die der Richter seiner Entscheidungsfindung zugrunde gelegt hat, auf ihre sachliche Richtigkeit statt, da hier der Kernbereich der richterlichen Unabhängigkeit betroffen ist (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 13. März 2014 - III ZR 91/13, NJW 2014, 1816 und vom 13. April 2017 - III ZR 277/16, NJW 2017, 2478).

c) Der Entschädigungsanspruch für immaterielle Nachteile nach § 198 Abs. 2 Satz 3, 4 GVG ist zeitbezogen geltend zu machen, wodurch der Streitgegenstand des Verfahrens festgelegt wird. Macht der Entschädigungskläger für bestimmte Zeiträume zu Unrecht einen Entschädigungsanspruch geltend, so ist sein Antrag insoweit abzuweisen und kann gemäß § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO nicht mit anderen Zeiträumen verrechnet werden, für die er nach Auffassung des Gerichts eine geringere Entschädigung fordert, als ihm zusteht.

d) Maßgebend für die Höhe einer vom gesetzlichen Regelsatz (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) abweichenden Entschädigung sind gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Umstände des Einzelfalles. Auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung ist eine einheitliche Entschädigung für die aus der überlangen Verfahrensdauer erwachsenen immateriellen Nachteile festzusetzen, die sich aus dem höheren beziehungsweise niedrigeren Entschädigungssatz nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG, der sich jedoch nicht streng rechnerisch ermitteln lässt, und der festgestellten Verzögerungsdauer ergibt.

BGH, Urteil vom 15. Dezember 2022 - III ZR 192/21 - OLG Braunschweig

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BGH: Schadensersatz nach § 198 GVG bei überlangen Gerichtsverfahren - Wann liegt eine unangemessene Verfahrensdauer vor ?

BGH
Urteil vom 14.11.2013
III ZR 376/12
Unangemessene Verfahrensdauer
GVG § 198 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 6 Nr. 1, § 201 Abs. 4

Leitsätze des BGH:


a) Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.

b) Unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG ist die Verfahrensdauer dann, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete und den Gestaltungsspielraum der Gerichte bei der Verfahrensführung beachtende Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende Verpflichtung des Staates, Gerichts-verfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist.

c) Bei der Beurteilung des Verhaltens des Gerichts darf der verfassungsrechtliche Grundsatz richterlicher Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) nicht unberücksichtigt bleiben. Dem Gericht muss in jedem Fall eine angemessene Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit zur Verfügung stehen. Es benötigt einen Gestaltungsspielraum, der es ihm ermöglicht, dem Umfang und der Schwierigkeit der einzelnen Rechtssachen ausgewogen Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu erforderlich sind.

BGH, Urteil vom 14. November 2013 - III ZR 376/12 - Oberlandesgericht Celle

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: