Skip to content

OLG Frankfurt: Keine Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach § 281 ZPO wenn Gericht offensichtlich anwendbare Zuständigkeitsregel wie § 44 BDSG übersieht

OLG Frankfurt
Beschluss vom 09.02.2023
11 UH 1/23 , 11 SV 1/23


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass keine Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses nach § 281 ZPO besteht, wenn das Gericht eine offensichtlich anwendbare Zuständigkeitsregel wie § 44 BDSG übersieht

Aus den Entscheidungsgründen:
1. Die Voraussetzungen einer Zuständigkeitsbestimmung gemäß § 36 I Nr. 6 ZPO liegen vor, da sich sowohl das Amtsgericht Gießen, als auch das Amtsgericht Wiesbaden für örtlich unzuständig erklärt haben. Die Zuständigkeitsbestimmung ist gem. § 36 I ZPO durch das Oberlandesgericht Frankfurt am Main vorzunehmen, da dieses das zunächst höhere gemeinschaftliche Gericht der beiden Gerichte ist.

2. Zuständiges Gericht ist das Amtsgericht Gießen.

a) Die örtliche Zuständigkeit steht nicht aufgrund der Verweisungsbeschlüsse des Landgerichts Gießen und des Amtsgerichts Gießen gem. § 281 I ZPO fest.

aa) Allerdings begegnet der Verweisungsbeschluss des Landgerichts, der auch von den Amtsgerichten nicht in Zweifel gezogen worden ist, keinen Bedenken, insbesondere liegt keine die Bindungswirkung des § 281 II 4 ZPO ausschließende Willkür vor. Er begründet jedoch nur die sachliche Zuständigkeit der Amtsgerichte und nicht auch die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts in Gießen.

Da die Parteien Verweisungsbeschlüsse nach § 281 I ZPO nicht anfechten können, ist deren Bindungswirkung auf die vom verweisenden Gericht geprüften Zuständigkeitsfragen beschränkt. Wurde wie vorliegend im Verweisungsbeschluss des Landgerichts nur die sachliche Zuständigkeit geprüft (und verneint), wird eine Weiterverweisung wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht ausgeschlossen (vgl. BeckOK ZPO/Bacher, 47. Ed. 1.12.2022, ZPO § 281 Rn. 27, 30.1).

bb) Die danach im Grundsatz mögliche Weiterverweisung der Sache durch das Amtsgericht Gießen an das Amtsgericht Wiesbaden ist jedoch willkürlich und daher nicht bindend.

Die Unanfechtbarkeit und die Bindungswirkung von Verweisungsbeschlüssen dienen der Prozessökonomie sowie der Vermeidung von Zuständigkeitsstreitigkeiten und dadurch bewirkten Verzögerungen und Verteuerungen in der Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Sie entziehen auch einen sachlich zu Unrecht erlassenen Verweisungsbeschluss grundsätzlich jeder Nachprüfung. Einem Verweisungsbeschluss kann daher die gesetzlich vorgesehene bindende Wirkung nur dann abgesprochen werden, wenn er schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen anzusehen ist, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als willkürlich betrachtet werden muss. Hierfür genügt es aber nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder fehlerhaft ist. Willkür liegt nur vor, wenn dem Verweisungsbeschluss jede rechtliche Grundlage fehlt und er bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (BGH, NJW-RR 2008, 1309).

Dies ist nicht nur anzunehmen, wenn ein Gericht sich trotz ausdrücklichen Hinweises durch die Parteien nicht mit einer seine Zuständigkeit begründenden Norm befasst (dazu BeckOK ZPO/Bacher, 47. Ed. 1.12.2022, ZPO § 281 Rn. 32.4 mwN), sondern schon dann, wenn ein nach geltendem Recht unzweifelhaft zuständiges Gericht den Rechtsstreit verweist, ohne die seine Zuständigkeit begründende Gesetzesnorm beachtet oder zur Kenntnis genommen zu haben, vorausgesetzt, diese Vorschrift ist seit geraumer Zeit in Kraft (BGH, NJW-RR 2002, 1295).

Letzteres ist hier der Fall. Ein insoweit für die Bindungswirkung schädlicher Zeitraum ist erreicht, wenn die Gesetzesänderung seit annähernd zwei Jahren bekannt und seit mehr als neun Monaten in Kraft ist (BGH, NJW 1993, 1273). Die Datenschutzgrundverordnung ist am 27.04.2016 ausgefertigt und im Amtsblatt vom 04.05.2016 veröffentlicht worden. Sie gilt seit dem 25.05.2018. Das aktuelle Bundesdatenschutzgesetz und damit sein § 44 sind am 30.06.2017 ausgefertigt und im Bundesgesetzblatt vom 05.07.2017 verkündet worden. Sie sind seit dem 25.05.2018 in Kraft. Die Verweisung durch das Amtsgericht Gießen ist am 19.09.2022 über vier Jahre nach Inkrafttreten erfolgt.

§ 44 I BDSG ist auch offensichtlich einschlägig. Danach können Klagen der betroffenen Person gegen einen Verantwortlichen wegen eines Verstoßes gegen datenschutzrechtliche Bestimmungen im Anwendungsbereich der DSGVO oder der darin enthaltenen Rechte der betroffenen Person am Gericht der Niederlassung des Verantwortlichen (§ 44 I 1 BDSG) oder am Gericht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts der betroffenen Person (§ 44 I 2 BDSG) erhoben werden.

Der Kläger hat seinen Wohnsitz und damit seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Stadt1 im Bezirk des Amtsgerichts Gießen. Er ist die identifizierbare natürliche Person, auf die sich die gespeicherten Daten beziehen und damit „betroffene Person“ im Sinne der DSGVO (vgl. Art. 4 Nr. 1 DSGVO) und des § 44 I BDSG.

Die beklagte Auskunftei ist Verantwortliche im Sinne des Art. 4 Nr. 7 DSGVO, denn sie ist die juristische Person, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet.

b) Ist danach der Verweisungsbeschluss des Amtsgerichts Gießen wegen Nichtbeachtung des einschlägigen § 44 I BDSG nicht bindend, ist das nach dieser Norm zuständige Amtsgericht in Gießen als zuständig zu bestimmen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: