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EuGH: Deutsche Umwelthilfe darf EG-Typengenehmigung für Fahrzeuge mit möglicherweise verbotener Abschalteinrichtung vor Gericht anfechten

EuGH
Urteil vom 08.11.2022
C-873/19
Deutsche Umwelthilfe (Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen)


Der EuGH hat entschieden, dass Umweltvereinigungen wie die Deutsche Umwelthilfe die EG-Typengenehmigung für Fahrzeuge mit möglicherweise verbotener Abschalteinrichtung vor Gericht anfechten dürfen.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Anerkannte Umweltvereinigungen müssen eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge, die mit möglicherweise verbotenen „Abschalteinrichtungen“ ausgestattet sind, vor Gericht anfechten können

Eine Software für Dieselfahrzeuge, die die Wirkung des Emissionskontrollsystems bei üblichen Temperaturen und während des überwiegenden Teils des Jahres verringert, stellt eine unzulässige Abschalteinrichtung dar

Die Deutsche Umwelthilfe, eine nach deutschem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigte anerkannte Umweltvereinigung, ficht vor dem Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht die Entscheidung des Kraftfahrt-Bundesamts an, mit der für bestimmte Fahrzeuge der Marke Volkswagen1 die Verwendung einer Software zur Verringerung des Recyclings von Schadstoffen nach Maßgabe der Außentemperatur genehmigt wurde.

Die fragliche Software legt ein Thermofenster fest, bei dem die Abgasrückführungsrate bei einer Umgebungstemperatur unter – 9 Grad Celsius bei 0 % liegt, zwischen – 9 und 11 Grad Celsius bei 85 % und über 11 Grad Celsius ansteigt, um erst ab einer Umgebungstemperatur von über 15 Grad Celsius 100 % zu erreichen. Bei der in Deutschland festgestellten Durchschnittstemperatur, die im Jahr 2018 10,4 Grad Celsius betragen haben soll, liegt die Abgasrückführungsrate also nur bei 85 %.

Nach Auffassung der Deutschen Umwelthilfe stellt ein solches Thermofenster eine gemäß dem Unionsrecht unzulässige Abschalteinrichtung dar. Die Bundesrepublik Deutschland, gegen die sich die Klage richtet, macht geltend, dass die Deutsche Umwelthilfe für eine Anfechtung der streitigen Entscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung geändert wird, nicht klagebefugt und ihre Klage daher unzulässig sei. Im Übrigen sei das in Rede stehende Thermofenster mit dem Unionsrecht vereinbar.

Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht, das in Bezug auf diese beiden Punkte Zweifel hat, hat den Gerichtshof um Auslegung zum einen des Übereinkommens von Aarhus über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten in Verbindung mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) und zum anderen der Verordnung Nr. 715/2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) und über den Zugang zu Reparatur- und Wartungsinformationen für Fahrzeuge ersucht.

Mit seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof erstens, dass das Übereinkommen von Aarhus in Verbindung mit der Charta dahin auszulegen ist, dass es einer Umweltvereinigung, die nach nationalem Recht zur Einlegung von Rechtsbehelfen berechtigt ist, nicht verwehrt werden darf, eine Verwaltungsentscheidung, mit der eine EG-Typgenehmigung für Fahrzeuge erteilt oder geändert wird, die möglicherweise gegen das Verbot der Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von
Emissionskontrollsystemen verringern, verstößt, vor einem innerstaatlichen Gericht anzufechten.

Das Übereinkommen von Aarhus verpflichtet nämlich in Verbindung mit der Charta die Mitgliedstaaten dazu, einen wirksamen gerichtlichen Schutz zu gewährleisten, und verbietet es ihnen, Umweltvereinigungen jede Möglichkeit zu nehmen, die Beachtung bestimmter Vorschriften des Unionsumweltrechts überprüfen zu lassen. Zweitens erinnert der Gerichtshof, was das fragliche Thermofenster betrifft, daran, dass er in Bezug auf ein identisches Thermofenster bereits entschieden hat , dass eine Einrichtung, die die Einhaltung der in dieser Verordnung vorgesehenen Emissionsgrenzwerte nur gewährleistet, wenn die Außentemperatur zwischen 15 und 33 Grad Celsius liegt und der Fahrbetrieb unterhalb von 1 000 Höhenmetern erfolgt, eine
„Abschalteinrichtung“ darstellt.

Nach der Verordnung Nr. 715/2007 ist die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, unzulässig. Jedoch kann eine Abschalteinrichtung, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ausnahmsweise zulässig sein, wenn nachgewiesen ist, dass diese Einrichtung ausschließlich notwendig ist, um die durch eine Fehlfunktion eines Bauteils des Abgasrückführungssystems verursachten unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall zu vermeiden, Risiken, die so schwer wiegen, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des mit dieser Einrichtung ausgestatteten Fahrzeugs darstellen. Ob dies hier der Fall ist, hat das vorlegende Gericht zu prüfen.
Außerdem ist, wie der Gerichtshof ebenfalls bereits entschieden hat, eine solche „Notwendigkeit“ der Verwendung einer Abschalteinrichtung nur dann gegeben, wenn zum Zeitpunkt der EG‑Typgenehmigung dieser Einrichtung oder des mit ihr ausgestatteten Fahrzeugs keine andere technische Lösung unmittelbare Risiken für den Motor in Form von Beschädigung oder Unfall, die beim Fahren eines Fahrzeugs eine konkrete Gefahr hervorrufen, abwenden kann.

Der Gerichtshof weist jedenfalls darauf hin, dass selbst bei Vorliegen der oben beschriebenen Notwendigkeit die Abschalteinrichtung, wenn sie während des überwiegenden Teils des Jahres unter normalen Fahrbedingungen funktionieren sollte, unzulässig ist. Ließe man nämlich eine solche Einrichtung zu, würde dies dazu führen, dass die Ausnahme häufiger zur Anwendung käme als das Verbot, wodurch der Grundsatz der Begrenzung der Stickstoffoxid (NOx)-Emissionen unverhältnismäßig beeinträchtigt würde.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: