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BVerfG: Gehörsverstoß gem. Art. 103 Abs. 1 GG wenn Gericht rechtzeitig eingegangen Antrag mangels "Digitalisierung" nicht berücksichtigt

BVerfG
Beschluss vom 24.07.2025
2 BvR 1379/23


Das BVerfG hat entschieden, dass ein Gehörsverstoß gem. Art. 103 Abs. 1 GG vorliegt, wenn ein Gericht den rechtzeitig eingegangen Antrag auf Durchführungen einer mündlichen Verhandlung mangels "Digitalisierung" durch das Gericht nicht berücksichtigt.

Aus den Entscheidungsgründen:
1. Art. 103 Abs. 1 GG verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Verfahrensbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 40, 101 <104>; 87, 1 <33>). Der Gehörsgrundsatz schützt aber nicht davor, dass das Vorbringen aus formell- oder materiell-rechtlichen Gründen unberücksichtigt bleibt (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>), dass das Gericht einem tatsächlichen Umstand nicht die richtige Bedeutung beimisst (vgl. BVerfGE 76, 93 <98>) oder dass eine ordnungsgemäße Subsumtion und Entscheidungsbegründung erfolgt (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>). Aus Art. 103 Abs. 1 GG folgt auch keine Pflicht der Gerichte, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Das Bundesverfassungsgericht geht daher grundsätzlich davon aus, dass die Gerichte das Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben (vgl. BVerfGE 149, 86 <109 Rn. 63>). Art. 103 Abs. 1 GG ist daher erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall aus besonderen Umständen klar ergibt, dass tatsächliches Vorbringen eines Beteiligten entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist (vgl. BVerfGE 65, 293 <295>; 70, 288 <293>; 86, 133 <145 f.>).

2. Damit ist das angegriffene amtsgerichtliche Urteil nicht in Einklang zu bringen.

a) Das Amtsgericht überging den Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung und erließ das angegriffene Urteil, ohne zuvor über den Antrag entschieden zu haben. Das geht bereits aus der Verfügung des Amtsgerichts vom 16. Juni 2023 und den Gründen im Beschluss vom 25. August 2023 hervor.

b) Die im Beschluss vom 25. August 2023 angeführte Begründung, der Schriftsatz des Beschwerdeführers habe nach dessen Eingang bei Gericht noch digitalisiert werden müssen und habe daher bei der Erstellung des Urteils nicht vorgelegen, findet im Prozessrecht keine Stütze. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist nämlich nicht erforderlich, dass es der richtigen Akte zugeordnet oder der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Mai 2023 - 2 BvR 370/22 -, Rn. 26 m.w.N.). Der Antrag des Beschwerdeführers auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ist noch vor Erlass des gegenständlichen Urteils beim Amtsgericht eingegangen und hätte daher vom Gericht berücksichtigt werden können und müssen.

c) Auch der Umstand, dass der Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung erst nach der gesetzten Stellungnahmefrist eingegangen ist, rechtfertigt ein Übergehen des Antrags nicht. Das Amtsgericht hätte zumindest prüfen müssen, ob gemäß § 495a Satz 2 ZPO eine mündliche Verhandlung durchgeführt wird oder der hierauf gerichtete Antrag – soweit man dies einfach-rechtlich für zulässig hält (dagegen Deppenkemper, in: Münchener Kommentar zur ZPO, 7. Aufl. 2025, § 495a Rn. 39 m.w.N. zur Gegenansicht) – etwa nach § 296 oder § 296a ZPO zurückgewiesen wird. Eine solche Prüfung ist vorliegend aber nicht erfolgt.

3. Das Urteil beruht auch auf dem Gehörsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Amtsgericht in der Sache anders entschieden hätte, wenn es den Antrag des Beschwerdeführers berücksichtigt und infolgedessen auf Grundlage einer mündlichen Verhandlung entschieden hätte.

a) Unterbleibt eine mündliche Verhandlung, kann in aller Regel nicht ausgeschlossen werden, dass bei Durchführung dieser eine andere Entscheidung ergangen wäre. Eines substantiierten Vortrags des Betroffenen, welcher entscheidungserhebliche Vortrag ihm durch das Unterbleiben der mündlichen Verhandlung abgeschnitten worden sei, bedarf es in diesen Fällen nicht. Denn die mündliche Verhandlung hat grundsätzlich den gesamten Streitstoff in prozess- und materiell-rechtlicher Hinsicht zum Gegenstand. Sie kann so je nach Prozesslage, Verhalten der Gegenseite und Hinweisen des Gerichts zu weiterem Sachvortrag, Beweisanträgen und Prozesserklärungen führen, ohne dass dies im Einzelnen sicher vorhersehbar wäre. Der schlichte Hinweis des Fachgerichts in seiner Entscheidung über die Anhörungsrüge, dass die mündliche Verhandlung an seiner Sachentscheidung letzten Endes nichts hätte ändern können, kann die in diesen Fällen bestehenden Beruhensvermutung nicht entkräften (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 1. Juli 2020 - 2 BvR 1907/18 -, Rn. 11).

b) So liegt der Fall hier. Umstände, die in jedem Fall eine andere Entscheidung des Amtsgerichts ausgeschlossen erscheinen ließen, ergeben sich insbesondere nicht daraus, dass das Amtsgericht den geltend gemachten Anspruch deshalb für nicht gegeben angesehen hat, weil der Beschwerdeführer die im vorangegangenen Verfahren eingelegte Berufung nicht begründet hat und damit seiner Obliegenheit aus § 839a Abs. 2 in Verbindung mit § 839 Abs. 3 BGB nicht nachgekommen sein soll. Es ist nämlich nicht nach jeder Denkart auszuschließen, dass sich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung ergeben hätte, dass die fehlende Begründung der Berufung dem Beschwerdeführer nicht persönlich vorwerfbar ist und § 839 Abs. 3 BGB keine Anwendung findet. Hierzu verhält sich das Amtsgericht nicht.

4. Angesichts der Verletzung des rechtlichen Gehörs bedarf es keiner Prüfung, ob das amtsgerichtliche Urteil zugleich weitere Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BMWK: Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Postrechts - Postrechtsmodernisierungsgesetz – PostModG

Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) hat den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung des Postrechts (Postrechtsmodernisierungsgesetz – PostModG) vorgelegt.

Aus dem Entwurf:
A. Problem und Ziel

Das Postgesetz vom 22. Dezember 1997 (BGBl. I S. 3294) hat die Briefmärkte in Deutschland für den Wettbewerb geöffnet und die flächendeckende Versorgung mit Postdienstleistungen während des Liberalisierungsprozesses und nach dessen Vollendung sichergestellt. Über 25 Jahre nach Inkrafttreten des Postgesetzes ist es erforderlich, den Postrechtsrahmen zu modernisieren, damit er für die heutigen Herausforderungen, vor denen die Postmärkte stehen, die richtigen Instrumente zur Verfügung stellt.

Zu den wesentliche Neuerungen, die diese Modernisierung erforderlich machen, gehören der Wandel der Bedeutung des Briefs und die damit einhergehenden veränderten Anforderungen an den postalischen Universaldienst und dessen Finanzierung, die Auswirkungen zunehmender Paketmengen und eines intensiven Wettbewerbs auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten, der Einfluss zunehmender Lieferverkehre auf Natur und Umwelt sowie die Einflüsse der fortschreitenden Digitalisierung auf alle Bereiche des Postwesens. Aufgrund dieser umfassenden Veränderungen sind grundlegende Überarbeitungen aller Bereiche postrechtlicher Vorgaben auf formal gesetzlicher und verordnungsrechtlicher Ebene erforderlich. Zudem bedarf es der Ergänzung des Normbestandes in solchen Bereichen, in denen die beschriebenen Veränderungen bisher nicht oder nicht anforderungsgemäß durch postrechtliche Regelungen aufgegriffen werden. Hierbei steht insbesondere die sozial-ökologische Ausrichtung des Postsektors im Vordergrund. Grundlegender Überarbeitung und Ergänzung bedürfen die Befugnisse der Bundesnetzagentur als Regulierungsbehörde für den Postsektor. Umfangreiche Verweise auf andere, inzwischen mehrfach geänderte Gesetze, insbesondere das Telekommunikationsgesetz, haben zu rechtlichen Unklarheiten geführt.

Bei allen Anpassungen und Ergänzungen postrechtlicher Vorgaben sind stets die im Jahr 2008 zuletzt angepassten Vorgaben der europäischen Postdienste-Richtlinie 97/67/EG umzusetzen, die den Universaldienst in seinen wesentlichen Zügen vorgeben. Ebenfalls zu berücksichtigen sind die Vorgaben der Verordnung (EU) 2018/644, zu deren effizienter Durchsetzung Befugnisse für die nationale Regulierungsbehörde zu schaffen sind.

B. Lösung
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird eine grundlegende Novellierung des Postrechts unternommen. Bestehende Regelungen wurden vor dem Hintergrund der beschriebenen Veränderungen überarbeitet und ergänzt. Ziel des Gesetzes ist es, auch in Zukunft flächendeckend angemessene und ausreichende Postdienstleistungen zu gewährleisten, den fairen Wettbewerb zu stärken, angemessene Arbeitsbedingungen zu fördern und Anreize für einen ökologisch nachhaltigen Postsektor zu setzen. Insbesondere im Hinblick auf die beiden zuletzt genannten Aspekte werden erstmals konkrete sektorspezifische Vorgaben für sozial-ökologische Standards in einem modernen Postsektor gesetzt.


Den vollständigen Entwurf finden Sie hier:

Internet World Business-Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann - "Kundenbindung - wo sind die Grenzen" mit einem Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen.

In Ausgabe 9/21 S. 54-55 der Zeitschrift Internet World Business erschien ein Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann mit dem Titel "Kundenbindung - wo sind die Grenzen" mit einem Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen.

Internet World Business-Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann - Wie weit darf man gehen - Tracking und Targeting von Kunden im stationären Handel

In Ausgabe 3/21 S. 54-55 der Zeitschrift Internet World Business erschien ein Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann mit dem Titel "Wie weit darf man gehen ? Tracking und Targeting von Kunden im stationären Handel und der Datenschutz".

EuGH: Vergriffene Bücher dürfen nicht ohne Zustimmung des Urhebers digital vervielfältigt werden - dieser muss vorab informiert werden und die Möglichkeit des Widerspruchs haben

EuGH
Urteil vom 16.11.2016
C-301/15
Marc Soulier und Sara Doke gegen Premier ministre und Ministre de la Culture et de la Communication


Der EuGH hat entschieden, dass vergriffene Bücher dürfen nicht ohne Zustimmung des Urhebers digital vervielfältigt werden dürfen. Der Autor muss vorab informiert werden und die Möglichkeit des Widerspruchs haben

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

Die Pressemitteilung des EuGH:

Die Urheberrechtsrichtlinie steht einer nationalen Regelung entgegen, die die digitale Vervielfältigung im Handel vergriffener Bücher unter Missachtung der ausschließlichen Rechte der Urheber gestattet

Mit einer solchen Regelung muss der den Urhebern durch die Richtlinie gewährte Schutz sichergestellt und insbesondere dafür gesorgt werden, dass sie von der geplanten digitalen Nutzung ihres Werks tatsächlich informiert werden und die Möglichkeit haben, diese Nutzung ohne Förmlichkeiten zu unterbinden.

In Frankreich versteht man unter einem „vergriffenen Buch“ ein vor dem 1. Januar 2001 veröffentlichtes Buch, das nicht mehr gewerbsmäßig verbreitet und nicht mehr in gedruckter oder digitaler Form publiziert wird. Nach der französischen Regelung ist eine zugelassene Verwertungsgesellschaft namens SOFIA damit betraut, die Vervielfältigung und Wiedergabe vergriffener Bücher in digitaler Form zu erlauben, wobei die Urheber der Bücher oder ihre Rechtsnachfolger der Ausübung dieser Rechte unter bestimmten Voraussetzungen widersprechen oder sie unterbinden können.

Zwei französische Autoren (Marc Soulier, besser bekannt unter dem Namen Ayerdhal und mittlerweile verstorben, und Sara Doke) beantragten die Nichtigerklärung eines Dekrets, in dem bestimmte Aspekte dieser Regelung präzisiert werden und das ihres Erachtens nicht mit der Urheberrechtsrichtlinie vereinbar ist. Sie machen insbesondere geltend, mit der französischen
Regelung werde eine nicht vorgesehene Ausnahme bzw. Beschränkung in Bezug auf die den Urhebern durch die Richtlinie gewährten ausschließlichen Rechte geschaffen. Der mit der Rechtssache befasste französische Conseil d’État befragt hierzu den Gerichtshof. Der Gerichtshof weist in seinem heutigen Urteil darauf hin, dass Urheber vorbehaltlich der in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen das ausschließliche Recht haben, die Vervielfältigung und die öffentliche Wiedergabe ihrer Werke zu erlauben oder zu untersagen.

Unter bestimmten Voraussetzungen kann jedoch die vorherige Zustimmung eines Urhebers zur Nutzung eines seiner Werke implizit erfolgen. Das Vorliegen einer solchen Zustimmung setzt insbesondere voraus, dass jeder Urheber über die künftige Nutzung seines Werks durch einen Dritten informiert wird sowie darüber, mit welchen Mitteln er die Nutzung untersagen kann, sofern er dies wünscht.

Die französische Regelung sieht derzeit vor, dass der SOFIA das Recht, die digitale Nutzung vergriffener Bücher zu erlauben, übertragen wird, wenn der Urheber dem nicht binnen sechs Monaten nach der Aufnahme seiner Bücher in eine hierfür eingerichtete Datenbank widerspricht. Der Conseil d’État hat nicht angegeben, ob die Regelung gewährleistet, dass jeder Urheber tatsächlich individuell informiert wird. Es ist somit nicht ausgeschlossen, dass einige betroffene Urheber faktisch keine Kenntnis von der geplanten Nutzung ihrer Werke haben und daher nicht in der Lage sind, zu ihr Stellung zu nehmen. Unter diesen Voraussetzungen kann die bloße Tatsache, dass sie der Nutzung nicht widersprechen, nicht als Ausdruck ihrer impliziten Zustimmung angesehen werden. Dies gilt umso mehr, als vernünftigerweise nicht angenommen werden kann, dass sämtliche Urheber „vergriffener“ Bücher, die nicht widersprechen, damit einverstanden sind, dass ihre Werke zwecks gewerbsmäßiger Nutzung in digitaler Form „wiederaufleben“. Zudem ist die Verfolgung des Ziels, die digitale Nutzung vergriffener Bücher im kulturellen Interesse der Verbraucher und der Gesellschaft zu ermöglichen, zwar an sich mit der Richtlinie vereinbar, doch kann dies keine vom Unionsgesetzgeber nicht vorgesehene Ausnahme von dem den Urhebern durch die Richtlinie gewährten Schutz
rechtfertigen.

Überdies weist der Gerichtshof darauf hin, dass die französische Regelung es den Urhebern ermöglicht, die gewerbsmäßige Nutzung ihrer Werke in digitaler Form zu unterbinden, indem sie entweder im Einvernehmen mit den Herausgebern der gedruckten Form dieser Werke oder alleine handeln. Im letztgenannten Fall müssen sie jedoch nachweisen, dass sie die alleinigen Inhaber der Rechte an den Werken sind. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass der Urheber das Recht, die
künftige Nutzung seines Werks in digitaler Form zu unterbinden, ausüben können muss, ohne auf die Zustimmung anderer als der zur digitalen Nutzung befugten Personen und somit die Zustimmung des Herausgebers, der nur die Rechte zur Nutzung des Werks in gedruckter Form innehat, angewiesen zu sein. Außerdem muss der Urheber eines Werks die Möglichkeit haben, die Ausübung der Rechte zur Nutzung des Werks in digitaler Form zu unterbinden, ohne zuvor zusätzliche Förmlichkeiten beachten zu müssen.