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EuG: Unternehmen erhält Schadensersatz von EU wegen überlanger Verfahrensdauer in Kartellsachen - aber nur 50000 EURO anstelle verlangter 4 Mio Euro

EuG
Urteil vom 10.01.2017
T-577/14
Gascogne Sack Deutschland und Gascogne ./. Europäische Union



Das EuG hat einem Unternehmen Schadensersatz von der EU wegen überlanger Verfahrensdauer in einer Kartellsache zugesprochen. Allerdings wurden nur 50.000 EURO anstelle der beantragten 4 Millionen Euro Schadensersatz gewährt.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Schadensersatzklage wegen überlanger Verfahrensdauer

Das EuG hat in einer erweiterten und anderen Zusammensetzung als im Ausgangsrechtsstreit die EU verurteilt, den Unternehmen Gascogne Sack Deutschland und Gascogne Schadensersatz in Höhe von mehr als 50.000 Euro wegen der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem EuG zu leisten.

Die überlange Verfahrensdauer habe sowohl zu einem materiellen Schaden (Bankbürgschaftskosten) als auch zu einem immateriellen Schaden (Zustand der Ungewissheit, in dem sich die beiden Unternehmen befunden haben) geführt, so das EuG.

Die Unternehmen Gascogne Sack Deutschland (vormals Sachsa Verpackung) und Gascogne (vormals Groupe Gascogne) erhoben am 23.02.2006 beim EuG Klagen auf Nichtigerklärung einer Entscheidung der Kommission in einem Kartellverfahren im Sektor für industrielle Sackverpackungen (Entscheidung K(2005) 4634 v. 30.11.2005 - COMP/F/38.354 "Industrielle Sackverpackungen"). Das EuG hatte diese Klagen mit Urteilen vom 16.11.2011 abgewiesen (EuG, Urt. v. 16.11.2011 - T-72/06 "Groupe Gascogne/Kommission" und T-79/06 "Sachsa Verpackung/Kommission"). Der mit den Rechtsmitteln befasste EuGH bestätigte mit Urteilen vom 26.11.2013 die Urteile des EuG und damit die gegen die beiden Unternehmen verhängten Geldbußen von insgesamt 13,2 Mio. Euro (EuGH, Urt. v. 26.11.2013 - C-40/12 P "Gascogne Sack Deutschland/Kommission" und C-58/12 P "Gascogne/Kommission"). Der EuGH hatte jedoch darauf hingewiesen, dass die beiden Unternehmen Klagen auf Ersatz eventueller Schäden wegen der überlangen Dauer des Verfahrens vor dem EuG erheben könnten.

Die Unternehmen Gascogne Sack Deutschland und Gascogne beantragen beim EuG, die EU zur Zahlung von Schadensersatz i.H.v. fast 4 Mio. Euro für materielle Schäden (gefordert sind knapp 3,5 Mio. Euro) und für den immateriellen Schaden (gefordert sind 500.000 Euro) zu verurteilen, die sie aufgrund der überlangen Dauer des Verfahrens erlitten hätten. Es handelt sich um die erste Rechtssache, die auf diesem Gebiet entschieden wird (es gibt vier weitere Rechtssachen, in denen Unternehmen Schadensersatz wegen überlanger Verfahrensdauer fordern (T-725/14 "Aalberts Industries", T-479/14 "Kendrion"; T-40/15 "ASPLA und Armando Álvarez" sowie T-673/15 "Guardian Europe").

Das EuG hat der Klage der beiden Unternehmen teilweise stattgegeben, indem es Gascogne für den erlittenen materiellen Schaden Schadensersatz i.H.v. 47.064,33 Euro und jedem der beiden Unternehmen für den immateriellen Schaden Schadensersatz i.H.v. 5.000 Euro zuspricht.

Das EuG hat in einer erweiterten und anderen Zusammensetzung entschieden als im Ausgangsrechtsstreit. Diese Voraussetzung wurde vom EuGH in den Urteilen vom 26.11.2013 aufgestellt.

Es sei zunächst darauf hinzuweisen, so das EuG, dass die außervertragliche Haftung der EU geltend gemacht werden könne, wenn drei kumulative Voraussetzungen erfüllt seien, nämlich 1) die Rechtswidrigkeit des Verhaltens, das dem betreffenden Organ vorgeworfen werde, 2) das tatsächliche Vorliegen eines Schadens und 3) das Bestehen eines Kausalzusammenhanges zwischen diesem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden.

In Bezug auf die erste Voraussetzung (Rechtswidrigkeit des Verhaltens, das dem EuGH als Organ der EU vorgeworfen werde) sei auszuführen, dass das Recht auf eine Entscheidung einer Rechtssache innerhalb angemessener Frist, das in der Charta der Grundrechte der EU verankert sei (Art. 47 Abs. 2 der Charta), wegen der überlangen Dauer des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 verletzt wurde. Die Verfahrensdauer habe sich nämlich auf fast fünf Jahre und neun Monate belaufen und lasse sich durch keinen der Umstände dieser Rechtssachen rechtfertigen.

Bei Kartellsachen (einem Bereich, der einen höheren Grad an Komplexität aufweise als andere Verfahrensarten) stelle eine Dauer von 15 Monaten zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens grundsätzlich eine angemessene Dauer dar. In den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 haben jedoch rund drei Jahre und zehn Monate, somit 46 Monate, zwischen diesen Verfahrensabschnitten gelegen.

Die parallele Bearbeitung im Zusammenhang stehender Rechtssachen könne aber eine Verlängerung des Verfahrens um einen Monat pro zusätzliche Rechtssache rechtfertigen. Im vorliegenden Fall sei daher durch die parallele Bearbeitung von zwölf Klagen gegen dieselbe Entscheidung der Kommission eine Verlängerung des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 um elf Monate gerechtfertigt gewesen.

Eine Dauer von 26 Monaten (15 Monate plus elf Monate) zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens für die Bearbeitung der Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 sei angemessen gewesen, da der Grad der tatsächlichen, rechtlichen und verfahrensrechtlichen Komplexität dieser Rechtssachen nicht für die Annahme einer längeren Dauer ausreiche. Somit ergebe sich aus der Dauer von 46 Monaten, die zwischen dem Abschluss des schriftlichen Verfahrens und dem Beginn des mündlichen Verfahrens gelegen habe, dass es in jeder der beiden Rechtssachen einen Zeitraum ungerechtfertigter Untätigkeit von 20 Monaten gegeben habe. Das übrige Verfahren in diesen beiden Rechtssachen weise dagegen keinen weiteren Zeitraum ungerechtfertigter Untätigkeit auf.

Zur zweiten Voraussetzung für die Haftung der EU (tatsächliches Vorliegen eines Schadens) sei auszuführen, dass Gascogne ein tatsächlicher und sicherer materieller Schaden entstanden sei, der sich daraus ergebe, dass sie im Verlauf des Zeitraums der ungerechtfertigten Untätigkeit des Gerichts Verluste durch die Kosten erlitten habe, die sie für die Bankbürgschaft zugunsten der Kommission zahlen musste (da Gascogne die Gebühren für die Bankbürgschaft gezahlt habe, habe Gascogne Sack Deutschland insoweit keinen Schaden erlitten). Die übrigen von Gascogne Sack Deutschland und Gascogne geltend gemachten materiellen Schäden erkenne das EuG hingegen nicht an (die beiden Unternehmen haben außerdem geltend gemacht, sie hätten über eine angemessene Frist hinaus gesetzliche Zinsen auf den Nominalwert der von der Kommission verhängten Geldbuße zahlen müssen und ihnen sei die Möglichkeit genommen worden, zu einem früheren Zeitpunkt einen Investor zu finden; das EuG hat diese Schäden aus Mangel an Beweisen verworfen.).

Auch die dritte Voraussetzung für die Haftung der EU (Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem rechtswidrigen Verhalten und dem geltend gemachten Schaden) ist nach Auffassung des EuG erfüllt: Hätte nämlich das Verfahren in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 nicht die angemessene Urteilsfrist überschritten, hätte Gascogne die Kosten für die Bankbürgschaft in dem Zeitraum, der dieser Überschreitung entspricht, nicht zahlen müssen.

Gascogne sei daher eine Entschädigung i.H.v. 47.064,33 Euro als Ersatz des materiellen Schadens zuzusprechen, der ihr durch die Nichteinhaltung der angemessenen Urteilsfrist in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 entstanden sei und in der Zahlung zusätzlicher Bankbürgschaftskosten bestehe (dieser Betrag entspreche nicht dem im Laufe von 20 Monaten ungerechtfertigter Untätigkeit des EuG gezahlten Betrag, sondern nur dem Zeitraum vom 30.05.2011 bis 16.11.2011 (Verkündungstermin der Urteile in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06); Gascogne habe nämlich in ihrer Klageschrift nur den Ersatz der nach dem 30.05.2011 durch die Bankbürgschaftskosten entstandenen Verluste verlangt).

Das EuG hat außerdem entschieden, dass Gascogne Sack Deutschland und Gascogne wegen der überlangen Dauer des Verfahrens in den Rechtssachen T-72/06 und T-79/06 ein immaterieller Schaden entstanden sei: Die Nichteinhaltung der angemessenen Urteilsfrist in diesen Rechtssachen sei nämlich geeignet gewesen, die beiden Unternehmen in einen Zustand der Ungewissheit zu versetzen, die über die Ungewissheit hinausgegangen sei, die üblicherweise durch ein Gerichtsverfahren hervorgerufen werde. Dieser verlängerte Zustand der Ungewissheit hatte zwangsläufig einen Einfluss auf die Planung der zu treffenden Entscheidungen und auf die Führung dieser Unternehmen, so dass er zu einem immateriellen Schaden geführt habe.

Das EuG hält es für angebracht, jedem der beiden Unternehmen eine Entschädigung i.H.v. 5.000 Euro als Ersatz des immateriellen Schadens zuzusprechen.

Ferner hat das EuG entschieden, dass die Gascogne gewährte Entschädigung von 47.064,33 Euro unter Einbeziehung von Ausgleichszinsen, gerechnet ab dem 04.08.2014 bis zur Verkündung des Urteils vom 10.01.2017, anhand der von Eurostat in Frankreich (dem Mitgliedstaat des Sitzes von Gascogne) für den betreffenden Zeitraum festgestellten jährlichen Inflationsrate neu zu bewerten sei. Außerdem seien sowohl für die Entschädigung von 47.064,33 Euro als auch für die jedem der beiden Unternehmen gewährten Entschädigungen von 5.000 Euro vom Zeitpunkt der Verkündung des Urteils vom 10.01.2017 bis zur vollständigen Zahlung der Entschädigungen Verzugszinsen in Höhe des von der Europäischen Zentralbank auf ihre Hauptfinanzierungsgeschäfte angewandten Zinssatzes zuzüglich zwei Prozentpunkten zu zahlen.