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OLG Frankfurt: Bezeichnung einer Transfrau als "Transe" ist ausschließlich abwertend und das Wort ein diskriminierendes Schimpfwort - Unterlassungsanspruch des Betroffenen

OLG Frankfurt
Urteil vom 09.07.2024
16 U 92/23


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass die Bezeichnung einer Transfrau als "Transe" ausschließlich abwertend zu verstehen ist und das Wort ein diskriminierendes Schimpfwort darstellt. Daher hat der Betroffene einen Unterlassungsanspruch.

Die Pressmeitteilungd es Gerichts:
Diskriminierung - Wort „Transe“ ist ausschließlich abwertend und ein diskriminierendes Schimpfwort

Eine klagende Transfrau kann u.a. verlangen, nicht als „Transe“ bezeichnet zu werden. Dem Wort kommt ausschließlich eine abwertende Bedeutung zu. Der diskriminierende Verletzungsgehalt steht auf einer Stufe mit dem Schimpfwort „Schwuchtel“. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main hat mit gestern verkündeter Entscheidung den vom Landgericht zugesprochenen Unterlassungsanspruch bestätigt.

Die Klägerin ist seit etwa 40 Jahren eine Transfrau. Ihr Geschlechtseintrag lautet „weiblich“. Sie setzt sich gegen Transfeindlichkeit ein und veröffentlicht dazu Beiträge u.a. auf der Plattform X. Der Beklagte betreibt einen Blog. Dort veröffentlichte er einen Artikel mit der Überschrift „Versuchte Abmahnung gegen Ansage: Totalitär tickende Transe zieht den Schwanz ein“.

Hintergrund dieses Artikels war eine vorausgegangene erfolglose Abmahnung des Beklagten durch die Klägerin wegen eines anderen Artikels. Im Rahmen der dortigen anschließenden gerichtlichen Auseinandersetzung hatte die Klägerin nach einem Hinweisbeschluss auf ihre Ansprüche verzichtet. Sie begehrt nun vom Beklagten, es zu unterlassen, in Bezug auf sie die Äußerung „Totalitär tickende Transe zieht den Schwanz ein“ zu tätigen. Das Landgericht hatte dem im Eilverfahren geltend gemachten Unterlassungsanspruch stattgegeben.

Die hiergegen eingelegte Berufung hat nun auch vor dem zuständigen Pressesenat keinen Erfolg. Der Klägerin stehe unter Abwägung der widerstreitenden Grundrechtspositionen ein Unterlassungsanspruch zu. Es liege eine Meinungsäußerung vor, die zwar nicht die Grenze zur Schmähkritik überschreite. Die angegriffene Äußerung verstehe ein Durchschnittsleser aber als gezielte Herabsetzung der Klägerin. Dem Wort „Transe“ komme nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ausschließlich eine abwertende Bedeutung zu. Es handele sich um ein Schimpfwort, das in hohem Maße verletzend und diskriminierend sei. Durch dieses Schimpfwort erlange „auch die nachgestellte Wendung ‚zieht den Schwanz ein‘ für den Durchschnittsleser eine notwendig sexuelle Konnotation, die gerade im Zusammenhang mit einer als ‚Transfrau‘ bezeichneten Person in besonderem Maße herabsetzend ausfällt“, begründete das OLG weiter. Da der Durchschnittsleser die Möglichkeit in Betracht ziehe, dass die Klägerin ihr männliches Geschlechtsteil habe entfernen lassen, werde sie im Sinne eines Sprachspiels in menschenverachtender Weise ins Lächerliche gezogen, „da nichts eingezogen werden kann, was nicht vorhanden ist“. Diese drastische Herabsetzung werde durch die Formulierung „totalitär tickend“ ein weiteres Mal verschärft.

Die Äußerung könne auch nicht als satirisch eingekleidete Wendung gewertet werden. Denn sie enthalte weder Signale, die auf Satire hindeuteten, noch solche, die sie auch nur ironisch erscheinen ließen.

Das auf Seiten des Beklagten in die Abwägung einzustellende Recht der Meinungsfreiheit überwiege das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Klägerin nicht. Auch vor dem Hintergrund der rechtlichen Auseinandersetzung zwischen den Parteien sei eine derart menschenverachtende Herabwürdigung der Klägerin nicht zu rechtfertigen. Sie trage vielmehr Züge einer „öffentlich ausgetragenen Privatfehde“, bei der der sachliche Kontext weitgehend in den Hintergrund rücke und damit auch ein etwaiges Informationsinteresse des Beklagten. Der grundrechtliche Schutz der Meinungsfreiheit impliziere zwar die rechtliche Anerkennung menschlicher Subjektivität und damit zugleich von Emotionalität und Erregbarkeit, „dies jedoch nur in den Grenzen zumutbarer Selbstbeherrschung“, unterstreicht der Senat.

Soweit die Klägerin im Vorprozess auf Ansprüche gegen die Äußerung „Totalitär tickende Trans-Furie“ verzichtet habe, stehe dies dem neuerlichen Unterlassungsbegehren der Klägerin nicht entgegen. Es lägen Formulierungen mit „völlig unterschiedliche(m) Bedeutungsgehalt“ vor, weshalb die nun angegriffene Äußerung von dem vorherigen Verzicht nicht erfasst werde.

Die im Eilverfahren ergangene Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 9.7.2024, Az. 16 U 92/23
(vorausgehend Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 6.7.2023, Az.: 2-03 O 204/23

BVerfG: Scharfe Kritik an der Bundesregierung durch Journalisten auf X mittels Ankündigungstext und Verlinkung auf Artikel einer Online-Publikation von Meinungsfreiheit gedeckt

BVerfG
Beschluss vom 11.04.2024
1 BvR 2290/23

Das BVerfG hat entschieden, dass scharfe Kritik an der Bundesregierung durch einen Journalisten auf X mittels Ankündigungstext und Verlinkung auf einen Artikel einer Online-Publikation von der Meinungsfreiheit gedeckt ist.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde eines Journalisten gegen die gerichtliche Untersagung einer kritischen Äußerung über die Bundesregierung

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines Journalisten stattgeben. Dieser wendet sich gegen eine einstweilige Verfügung, durch die ihm eine kritische Äußerung gegenüber der Bundesregierung untersagt wurde.

Im August 2023 veröffentlichte der Beschwerdeführer auf der Kommunikationsplattform „X“ die Kurznachricht „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“. In der Kurznachricht verlinkt war der Artikel eines Online-Nachrichtenmagazins mit der Überschrift „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“. Das Kammergericht untersagte dem Beschwerdeführer auf Antrag der Bundesregierung die Äußerung „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!).“ Die Äußerung sei eine unwahre Tatsachenbehauptung, die geeignet sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der Bundesregierung zu gefährden. Hiergegen wendet sich dieser mit seiner Verfassungsbeschwerde.

Die Entscheidung des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG). Sie verfehlt erkennbar den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Indem das Kammergericht für seine Beurteilung die in der Kurznachricht wiedergegebene Schlagzeile ausblendet, verharrt seine Sinndeutung auf einer isolierten Betrachtung des Kurznachrichtentextes.

Sachverhalt:

Am 25. August 2023 veröffentlichte das Online-Nachrichtenmagazin (…) einen Artikel mit der Überschrift „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“, in dem es unter anderem hieß: „Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan vor zwei Jahren hat die Bundesregierung 371 Millionen Euro für Entwicklungshilfe im Land bereitgestellt. (…).“ Etwa eine Stunde nach der Veröffentlichung setzte der Beschwerdeführer auf der Kommunikationsplattform „X“ eine zu diesem Artikel verlinkende Kurznachricht ab. Ihr Text lautete: „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen, historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine Regierung?!“. Am Ende seiner Kurznachricht fügte der Beschwerdeführer den Internet-Link zu dem Artikel ein, dessen Überschrift „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“ unterhalb des Links angezeigt wurde.

Mit angegriffenem Beschluss vom 14. November 2023 untersagte das Kammergericht dem Beschwerdeführer die Äußerung „Deutschland zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!) Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!)“. Juristische Personen des öffentlichen Rechts könnten zivilrechtlichen Ehrenschutz gegenüber Angriffen in Anspruch nehmen, durch die ihr Ruf in der Öffentlichkeit in unzulässiger Weise herabgesetzt werde. Ein solcher Ehrenschutz könne jedenfalls dann geltend gemacht werden, wenn die konkrete Äußerung geeignet sei, die juristische Person schwerwiegend in ihrer Funktion zu beeinträchtigen. So liege es hier. Durch die Äußerung des Beschwerdeführers bestünde die Gefahr, dass bei der Bevölkerung der Eindruck entstehe, die Bundesregierung zahle Entwicklungshilfe an ein Terrorregime, das die Rechte der Bevölkerung mit Füßen trete. Dies könne Zweifel in das Vertrauen der Arbeit der Bundesregierung und ihre Funktionsfähigkeit wecken.

Durch den Beschluss des Kammergerichts sieht sich der Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit verletzt.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet. Die angegriffene Entscheidung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG.

1. a) Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu. Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Zwar dürfen grundsätzlich auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, und der zudem das Recht des Staates gegenübersteht, fehlerhafte Sachdarstellungen oder diskriminierende Werturteile klar und unmissverständlich zurückzuweisen. Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.

b) Voraussetzung jeder rechtlichen Würdigung von Äußerungen ist, dass ihr Sinn zutreffend erfasst worden ist. Auszugehen ist stets vom Wortlaut der Äußerung. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht, und den Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt, soweit diese für die Rezipienten erkennbar waren. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind verkannt, wenn die Gerichte eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik im verfassungsrechtlichen Sinne einstufen mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Werturteile ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter.

2. Hieran gemessen, verstößt die Entscheidung des Kammergerichts gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit, da sie den Sinn der angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer Meinungsäußerung erkennbar verfehlt.

a) Aus der Sicht eines Durchschnittslesers war es bereits angesichts der wiedergegebenen Vorschau des verlinkten Artikels ein hervorstechendes Anliegen des Beschwerdeführers, zwischen seiner Kurznachricht und einem hiermit verlinkten Nachrichtenartikel einen inhaltlichen Bezug herzustellen. Wird für die Kontextbestimmung einer Äußerung eine hierin für den Rezipienten erkennbar in Bezug genommene, inhaltlich sogar unmittelbar wahrnehmbare Schlagzeile eines Nachrichtenartikels ausgeblendet, verfehlt bereits dies die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Deutung umstrittener Äußerungen. Das war hier der Fall.

b) Indem das Kammergericht für seine Beurteilung die in der Kurznachricht wiedergegebene Schlagzeile „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“ ausblendet, verharrt seine Sinndeutung auf einer isolierten Betrachtung des Kurznachrichtentextes. Auch zieht es nicht in Erwägung, ob die Annahme einer Tatsachenbehauptung angesichts der wiedergegebenen Schlagzeile „Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“ als fernliegend auszuscheiden und aus der Sicht eines Durchschnittslesers allein die zugespitzte Meinungsäußerung anzunehmen sei, mit einer Zahlung von „Entwicklungshilfe für Afghanistan“ zahle Deutschland faktisch „Entwicklungshilfe an die Taliban“. Zugleich verliert das Kammergericht aus dem Blick, dass die Kritik an der Bundesregierung als Äußerung, die durch Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und Meinens geprägt ist, auch dann als Meinungsäußerung geschützt wird, wenn sich in ihr Tatsachen und Meinungen vermengten, und dass weder die Bundesregierung Zahlungen von Entwicklungshilfe „für Afghanistan“ in Abrede stellt, noch die angegriffene Entscheidung in Zweifel zieht, dass die Gefahr ihres mittelbaren Zugutekommens an die Machthaber in Afghanistan besteht.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Stuttgart: Bezeichnung einer Politikerin als "dämliches Stück Hirn-Vakuum" in sozialen Medien ist unzulässige Schmähkritik

OLG Stuttgart
Urteil vom 29.11.2023
4 U 58/23


Das OLG Stuttgart hat entschieden, dass die Bezeichnung einer Politikerin als "dämliches Stück Hirn-Vakuum" in sozialen Medien eine unzulässige Schmähkritik ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
OLG Stuttgart: Bezeichnung als „dämliches Stück Hirn-Vakuum“ ist eine Schmähkritik, die nicht hingenommen werden muss

Der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart hat heute den Autor eines Facebook-Beitrags, in dem eine deutsche Politikerin als „dämliches Stück Hirn-Vakuum“ bezeichnet wird, zur Unterlassung verurteilt und insoweit die Entscheidung der Vorinstanz abgeändert. Hinsichtlich des über den Unterlassungsanspruch hinaus geltend gemachten Geldentschädigungsanspruchs blieb die Klage allerdings ohne Erfolg.

Die Klägerin, die unter anderem als Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund, als Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales in der Berliner Senatskanzlei und als stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amts tätig war, hat auf Twitter Dieter Nuhr als Reaktion auf einen Beitrag in dessen Sendung „Nuhr im Ersten“ kritisiert und dabei u.a. die Worte „ignorant, dumm und uninformiert“ verwendet. Hierzu hat der CDU-Fraktionsvorsitzende im Landtag von Brandenburg auf Facebook Stellung genommen. Unter diesem Beitrag hat der Beklagte kommentiert: „Selten so ein dämliches Stück Hirn-Vakuum in der Politik gesehen wie C.. Soll einfach abtauchen und die Sozialschulden ihrer Familie begleichen.“ Die Klägerin hat den Beklagten wegen dieses – mittlerweile gelöschten – Beitrags zunächst abmahnen lassen und sodann Klage auf Unterlassung und Schmerzensgeld erhoben. Der Beklagte hat geltend gemacht, er sei nicht der Urheber des Beitrags, jemand müsse sich seines Notebooks bemächtigt haben. Das Landgericht Heilbronn hat die Klage in erster Instanz vollumfänglich abgewiesen und ausgeführt, der Beitrag sei jedenfalls noch von der Meinungsfreiheit gedeckt.

Entscheidung des Senats

Der Senat hat dem Unterlassungsantrag stattgegeben.

Bei der Äußerung handele es sich um eine Schmähkritik, für die der Beklagte hafte, weil er seinen Rechner und sein Facebook-Nutzerkonto nicht ausreichend vor fremden Zugriffen gesichert und keine ausreichenden Anknüpfungstatsachen vorgetragen habe, die eine nach höchstrichterlichen Grundsätzen entwickelte Vermutungswirkung entfallen ließen. Zudem sei der Senat nach den Ausführungen des Beklagten in der Berufungsverhandlung davon überzeugt, dass er den streitgegenständlichen Beitrag selbst verfasst hat, denn er habe sich mehrfach von den Äußerungen distanziert, gleichzeitig den Beitrag aber damit verteidigt, dass es ihm erlaubt sein müsse, auf die Klägerin als Politikerin zu reagieren, um diese angesichts ihres (vom Beklagten näher beschriebenen) eigenen Verhaltens „fertig zu machen“.

Bei der Annahme einer Schmähung sei zwar grundsätzlich Zurückhaltung geboten, im Fall des Beklagten sei aber davon auszugehen, weil bei seinem Beitrag nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund stehe und seine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung habe, sondern es bei ihr nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher gehe:

Mit der Aussage auf dem Facebook-Nutzerkonto des Beklagten werde die Klägerin durch die Verwendung der Begriffe „dämlich“ und „Hirn-Vakuum“ als dumme und hirnlose Politikerin charakterisiert, die aus der Politik verschwinden soll („abtauchen“). Es handele sich um eine Äußerung, die durch die zusätzliche Verwendung des Begriffs „Stück“ (konkret: dämliches Stück Hirn-Vakuum) eine die Klägerin abwertende und diffamierende Komponente enthalte, weil ein Mensch (oder dessen Teile) nicht als Stück bezeichnet wird, da ihm damit jede persönliche Würde abgesprochen wird (Art. 1 GG). Die Aussage stehe zwar im Kontext der Beiträge der Klägerin und des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Landtag von Brandenburg und knüpfe damit äußerlich an eine – öffentlich geführte – Auseinandersetzung an, sei aber völlig von der vorherigen Auseinandersetzung losgelöst, indem die Klägerin nur persönlich beschimpft und angegangen werde. Auch wenn die Klägerin zunächst selbst stark abwertende und ebenfalls persönlichkeitsrechtsverletzende Begriffe verwandt habe – „ignorant, dumm und uninformiert“ –, könne der unsägliche Kommentar des Beklagten nicht mehr als adäquate Reaktion auf das Vorverhalten der Klägerin angesehen werden.

Bei der Aussage „Soll einfach abtauchen und die Sozialschulden ihrer Familie begleichen“ handele es sich ebenfalls um ein Werturteil, das nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt sei. Darin sei eine Herabsetzung von Immigranten zu sehen und der Klägerin angesonnen, zu verschwinden oder abzuhauen und den Mund zu halten. Auch insoweit fehle jeglicher Bezug zu der Diskussion um das Verhalten des Kabarettisten Dieter Nuhr, weshalb auch diese Aussage allein dazu diene, die Klägerin verächtlich zu machen.

Den ebenfalls geltend gemachten Geldentschädigungsanspruch hat der Senat mit der Begründung verneint, dass es trotz der eheblichen Persönlichkeitsrechtsverletzung an dem von der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorausgesetzten unabwendbaren Bedürfnis für die Zubilligung einer Geldentschädigung fehle, zumal die Klägerin selbst starke Worte benutzt und den Diskurs damit erst veranlasst habe und der streitgegenständliche Beitrag zeitnah gelöscht worden sei. Vor diesem Hintergrund sei der zugesprochene Unterlassungstitel ausreichend.

Die Revision hat der Senat nicht zugelassen, nachdem es sich um einen Einzelfall handele; eine grundsätzliche Bedeutung sei nicht erkennbar. Die Entscheidung ist damit rechtskräftig.

OLG Stuttgart - 4 U 58/23 - LG Heilbronn - 8 O 85/22



OLG Frankfurt: Twitter- / X-Kommentar mit "#DubistEinMann“ zum Post einer Transfrau zum Thema "Terf" keine Schmähkritik und von Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt

OLG Frankfurt
Hinweisbeschluss vom 26.09.2023
16 U 95/23


Das OLG Frankfurt hat im Rahmen eines Hinweisbeschlusses ausgeführt, dass ein Twitter- / X-Kommentar mit "#DubistEinMann“ zum Post einer Transfrau zum Thema "Terf" keine Schmähkritik darstellt und von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Keine Schmähkritik „#DubistEinMann“ ist eine zulässige Meinungsäußerung

Die Beklagte kommentierte einen Beitrag der Klägerin auf der Plattform „X“ u.a. mit „#DubistEinMann“. Diese Aussage ist unter Berücksichtigung des Kontextes und nach Abwägung der involvierten Interessen als zulässige Meinungsäußerung einzuordnen, beschloss das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit heute veröffentlichter Entscheidung und folgte damit der Einschätzung des Landgerichts. Die Klägerin nahm daraufhin ihren Eilantrag zurück.

Die Klägerin ist als Journalistin tätig. Sie ist Transfrau und Aktivistin. Ebenso wie die Beklagte ist sie auf der Plattform „X“, vormals Twitter, aktiv. Die Klägerin veröffentlichte dort den Beitrag: „Beim @Frauenrat tummeln sich gerade jede Menge #TERF #TERFs in den Kommentaren. Gebt dem Frauenrat doch mal ein wenig Support (Herz-Emoji)“. Die Beklagte kommentierte dies mit „8 likes (Smiley-Emoji mit lachendem Gesicht und Schweißtropfen) times changed! #DubistEinMann“. Die Klägerin begehrt von der Beklagten im Eilverfahren es zu unterlassen, hinsichtlich ihrer Person zu verbreiten, „sie sei ein Mann“. Das Landgericht hatte den Antrag zurückgewiesen.

Diese Einschätzung teilte auch das OLG. Die Klägerin könne nicht verlangen, dass die streitgegenständliche Äußerung unterlassen werde, bestätigte das OLG die landgerichtliche Entscheidung im Rahmen seines Hinweisbeschlusses. Der Aussagegehalt der angegriffenen Äußerung sei im Kontext mit dem sonstigen Inhalt des Tweets aus Sicht eines verständigen und unvoreingenommenen Lesers zu ermitteln. Demnach kommentiere die Beklagte die Äußerung und den Aufruf der Klägerin und bekunde ihre ablehnende Meinung zu dem in dem verlinkten Beitrag des Deutschen Frauenrates thematisierten Recht auf Selbstbestimmung und Transgeschlechtlichkeit. Der Post der Beklagten stelle sich als Antwort auf den Post der Klägerin und den dort verlinkten Beitrag des Deutschen Frauenrates dar. Vor dem angefügten Hashtag befinde sich der eigentliche Kommentar der Beklagten. Das Smiley-Emoji solle die Witzigkeit unterstreichen. Mit ihrem Kommentar bringe die Beklagte zum Ausdruck, dass das Thema an gesellschaftspolitischer Bedeutung verloren und die Einstellung hierzu sich geändert habe.

„Aufgrund der Schreibweise der nachfolgenden Äußerung ohne Leerzeichen und der atypischen Großschreibung des unbestimmten Artikels „ein“ sowie der Einkleidung als Hashtag versteht der Leser diese (#dubistEinMann) nicht als persönliche Ansprache der Klägerin im Sinne einer direkten Rede, sondern als verallgemeinernde, d.h. an jede Transfrau gerichtete Aussage“, vertiefte das OLG. Der Begriff „Mann“ korreliere für den Leser erkennbar mit dem von der Klägerin in ihrem Hashtag verwendeten Akronym „terf“ (Trans-Exclusionary Radical Feminist), „der für einen Feminismus steht, der transFrauen ausschließt und ausdrücken soll, dass die damit bezeichnete „transgeschlechtliche“ Personen, insbesondere Transfrauen, diskriminiert oder die Transidentität als solche infrage gestellt wird“. Prägend für die Lesart des Lesers sei auch, dass Hashtags insbesondere zur Verschlagwortung und Indexierung von Inhalten genutzt würden; durch die Verknüpfung mit anderen Beiträgen solle gerade Öffentlichkeit generiert werden.

Das Landgericht habe auch zu Recht verneint, dass hier Schmähkritik vorliege. Der Äußerung lasse sich nicht entnehmen, dass die Beklagte die Klägerin losgelöst vom Inhalt ihres Posts und des damit verlinkten Beitrags des Deutschen Frauenrats und damit abseits der Sachdebatte als Person herabwürdigen und diffamieren wolle.

Dem Recht der Beklagten auf Meinungsäußerungsfreiheit gebühre hier gegenüber dem Schutz des Persönlichkeitsrechts der Klägerin und ihrer geschlechtlichen Identität der Vorrang. Zu berücksichtigen sei u.a., dass sich die Klägerin wiederholt selbst aktiv in die Öffentlichkeit begeben und das Selbstbestimmungsrecht und ihr eigenes Geschlecht zum Gegenstand eines gesellschaftlichen Diskurses gemacht habe. Mit den von der Klägerin gesetzten Hashtags habe diese bewusst die dahinterstehende „Community“ angesprochen. Der hier thematisierte Entwurf des Selbstbestimmungsgesetzes und die damit verbundenen Wirkungen berührten die Öffentlichkeit wesentlich.

Die Klägerin hat nach Erhalt des Hinweisbeschlusses des OLG ihren Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückgenommen. Damit ist die landgerichtliche Entscheidung wirkungslos.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 26.9.2023, Az. 16 U 95/23

(vorausgehend Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 6.7.2023, Az. 2-03 O 228/23)


LG Hamburg: Instagram-Influencerin durfte Designerin als "Mörderin" bezeichnen - Von Meinungsäußerungsfreiheit gedeckte Kritik an der Verwendung von Leder als Kleidung

LG Hamburg
Beschluss vom 12.04.2023
324 O 96/23


Das LG Hamburg hat entschieden, dass eine Instagram-Influencerin eine Designerin als "Mörderin" bezeichnen durfte, da es sich vorliegend um eine von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckte Kritik an der Verwendung von Leder als Kleidung handelte.

Aus den Entscheidungsgründen:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung war zurückzuweisen. Den Antragstellerinnen steht kein Anspruch auf Unterlassung der angegriffenen Äußerungen aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2 BGB analog, 823 Abs. 1 BGB i.V.m. mit ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht bzw. Unternehmenspersönlichkeitsrecht zu.

Bei den mit den Anträgen zu 1.a), c) und d) angegriffenen Äußerungen handelt es sich um zulässige Meinungsäußerungen. Im Kontext verstehen Rezipienten die Äußerungen, wonach die Antragstellerin zu 2) eine „Mörderin“ sei, die Antragstellerinnen „Mordschauen“, „Leichenschauen“ oder „Kadaverschauen“ organisierten und die Geschäfte der Antragstellerinnen „blutig“ seien, als Kritik an der Verwendung von Leder als Kleidung. Das Verständnis, die Antragstellerinnen seien für die Tötung von Menschen verantwortlich, entsteht nicht. Die Äußerungen beinhalten eine durchaus scharfe Kritik, die sich allerdings vor dem Hintergrund der öffentlich geführten Diskussion über die Verwendung von Leder als Kleidung und als Ergebnis der Abwägung zwischen den Persönlichkeitsrechten der Antragstellerinnen und der Meinungsäußerungsfreiheit der Antragsgegnerin als zulässig darstellt. Insbesondere bestehen Anknüpfungspunkte für die Meinungsäußerungen, da die Antragstellerinnen als Modedesignerin bzw. Modeunternehmen unstreitig Kleidungsstücke mit Leder verarbeiten bzw. vertreiben.

Auch der Antrag zu 1.b) ist unbegründet. Nach dem Vortrag der Antragstellerinnen hat die Antragsgegnerin geäußert, „auf der Seite dieser Designerin (...) findest du Krokoleder, Kobraleder, Babysalamanderleder“ (S. 6 der Antragsschrift). Insoweit deckt sich die Äußerung der Antragsgegnerin schon nicht mit dem formulierten Antrag, wonach die Antragstellerin solche Ledersorten „verwende“. Unter Berücksichtigung der eigenen Äußerungen der Antragstellerinnen auf ihrer Webseite durfte sich die Antragsgegnerin in dieser Weise äußern. Aus den von der Antragsgegnerin vorgelegten Screenshots der Webseite ist ersichtlich, dass dort ein „Krokokleid“ mit „Krokopatches aus echtem Leder“ (Anlage AG 10a), eine „Jacke Cobraleder“ (Anlage AG 11a) und eine „Jacke, Baby-Salamander-Leder“ (Anlage AG 12a) angeboten wurden. Diese eigene Darstellung der Antragstellerinnen verstehen Betrachter der Webseite so, dass dort tatsächlich Kleidungsstücke aus den benannten Lederarten angeboten würden.

Auch hinsichtlich der mit dem Antrag zu 1.e) angegriffenen Äußerung besteht kein Unterlassungsanspruch. Die Äußerung hat die Antragsgegnerin nach Erhalt der Abmahnung der Antragstellerinnen getätigt, worin die Antragstellerinnen darauf hingewiesen haben, dass sämtliche verarbeitete Lederpatches aus Kalbsleder bestünden. Die daraufhin erfolgte Äußerung der Antragsgegnerin, wonach die Angaben auf der Homepage „irreführend und falsch“ seien, stellt vor dem Hintergrund der bereits dargelegten Inhalte der Webseite eine zulässige Meinungsäußerung dar, für die auch Anknüpfungstatsachen bestehen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


EuGH: Uploadfilter nach Maßgabe von Art. 17 der DSM-Richtlinie (EU-Richtlinie - 2019/790) unionsrechtskonform und zulässig

EuGH
Urteil vom 26.04.2022
C-401/19
Polen ./. Parlament und Rat


Der EuGH hat entschieden, dass Uploadfilter nach Maßgabe von Art. 17 der DSM-Richtlinie (EU-Richtlinie - 2019/790) unionsrechtskonform und zulässig sind.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Die Verpflichtung der Diensteanbieter für das Teilen von Online-Inhalten, die Inhalte, die Nutzer auf ihre Plattformen hochladen wollen, vor ihrer öffentlichen Verbreitung zu überprüfen, ist mit den erforderlichen Garantien verbunden, um ihre Vereinbarkeit mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit zu gewährleisten

Der Gerichtshof weist die von Polen erhobene Klage gegen Art. 17 der Richtlinie über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt ab Nach Art. 17 der Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt1 gilt der Grundsatz, dass die Diensteanbieter für das Teilen von Onlineinhalten (sogenanntes „Web 2.0“) unmittelbar haften, wenn Schutzgegenstände (Werke usw.) von den Nutzern ihrer Dienste rechtswidrig hochgeladen werden. Die betroffenen Diensteanbieter können sich jedoch von dieser Haftung befreien. Hierfür müssen sie insbesondere gemäß Art. 172 die von den Nutzern hochgeladenen Inhalte aktiv überwachen, um das Hochladen von
Schutzgegenständen zu verhindern, die die Rechteinhaber nicht über diese Dienste zugänglich machen wollen.

Polen hat beim Gerichtshof Klage auf Nichtigerklärung von Art. 17 der Richtlinie 2019/790 erhoben. Dieser Artikel verletze die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union3 verbürgt sind. Mit seinem Urteil von heute weist der Gerichtshof die von Polen erhobene Klage ab.

Der Gerichtshof führt zunächst aus, dass die Diensteanbieter für das Teilen von Online-Inhalten, um in den Genuss der in Art. 17 der Richtlinie 2019/790 vorgesehenen Haftungsbefreiung zu kommen, de facto verpflichtet sind, eine vorherige Kontrolle der Inhalte durchzuführen, die Nutzer auf ihre Plattformen hochladen möchten, sofern sie von den Rechteinhabern die insoweit
einschlägigen und notwendigen Informationen erhalten haben. Im Übrigen sind diese Diensteanbieter, um eine solche vorherige Kontrolle durchführen zu können, in Abhängigkeit von der Zahl der hochgeladenen Dateien und der Art des fraglichen Schutzgegenstands gezwungen, auf Instrumente zur automatischen Erkennung und Filterung zurückzugreifen. Eine solche
vorherige Kontrolle und eine solche vorherige Filterung sind jedoch dazu angetan, ein wichtiges Mittel zur Verbreitung von Inhalten im Internet einzuschränken. Unter diesen Umständen bewirkt die für die Diensteanbieter für das Teilen von Online-Inhalten eingeführte spezielle Haftungsregelung eine Einschränkung der Ausübung des Rechts der Nutzer der
entsprechenden Dienste auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit.

Sodann führt der Gerichtshof zur Rechtfertigung einer solchen Einschränkung und insbesondere zu ihrer Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das mit Art. 17 der Richtlinie 2019/790 verfolgte legitime Ziel des Schutzes der Rechte des geistigen Eigentums erstens aus, dass der

Unionsgesetzgeber, um der Gefahr vorzubeugen, die u. a. die Nutzung von Instrumenten zur automatischen Erkennung und Filterung für das Recht der Nutzer von Diensten für das Teilen von Online-Inhalten auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit darstellt, eine klare und präzise Grenze für die Maßnahmen aufgestellt hat, die in Umsetzung der in dieser Bestimmung vorgesehenen Verpflichtungen getroffen oder verlangt werden können, indem er insbesondere Maßnahmen ausgeschlossen hat, die rechtmäßige Inhalte beim Hochladen filtern oder sperren. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass ein Filtersystem, bei dem die Gefahr bestünde, dass es nicht hinreichend zwischen einem unzulässigen Inhalt und
einem zulässigen Inhalt unterscheidet, so dass sein Einsatz zur Sperrung von Kommunikationen mit zulässigem Inhalt führen könnte, mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit unvereinbar wäre und das angemessene Gleichgewicht zwischen ihm und dem Recht des geistigen Eigentums nicht beachten würde.

Zweitens sieht Art. 17 der Richtlinie 2019/790 vor, dass es den Nutzern dieser Dienste mit dem nationalen Recht gestattet wird, von ihnen beispielsweise zum Zweck von Parodien oder Pastiches generierte Inhalte hochzuladen, und dass sie von den Anbietern dieser Dienste darüber informiert werden, dass sie Werke und sonstige Schutzgegenstände im Rahmen der im Unionsrecht vorgesehenen Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf das Urheberrecht und verwandte Schutzrechte nutzen können.

Drittens kann nach diesem Art. 17 die Haftung der Diensteanbieter für die Sicherstellung der Nichtverfügbarkeit bestimmter Inhalte nur unter der Voraussetzung ausgelöst werden, dass die betreffenden Rechteinhaber ihnen die einschlägigen und notwendigen Informationen über diese Inhalte übermitteln.

Viertens sieht Art. 17 vor, dass seine Anwendung nicht zu einer Pflicht zur allgemeinen Überwachung führen darf, was bedeutet, dass die Diensteanbieter für das Teilen von Online-Inhalten nicht verpflichtet sein können, das Hochladen und die öffentliche Zugänglichmachung von Inhalten zu verhindern, die sie im Hinblick auf die von den Rechteinhabern bereitgestellten Informationen sowie etwaige Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf das Urheberrecht eigenständig inhaltlich beurteilen müssten, um ihre Rechtswidrigkeit festzustellen.

Fünftens führt Art. 17 mehrere verfahrensrechtliche Garantien ein, die das Recht der Nutzer dieser Dienste auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit in den Fällen schützen, in denen die Anbieter dieser Dienste trotz der Garantien, die in diesen Bestimmungen vorgesehen sind, dennoch irrtümlich oder ohne Grundlage zulässige Inhalte sperren sollten.

Der Gerichtshof zieht daraus den Schluss, dass die sich aus der mit der Richtlinie eingeführten speziellen Haftungsregelung ergebende Verpflichtung der Diensteanbieter für das Teilen von Online-Inhalten, die Inhalte, die Nutzer auf ihre Plattformen hochladen möchten, vor ihrer öffentlichen Verbreitung zu kontrollieren, vom Unionsgesetzgeber mit angemessenen Garantien versehen wurde, um die Wahrung des Rechts der Nutzer dieser Dienste auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit und das angemessene Gleichgewicht zwischen diesem Recht und dem Recht des geistigen Eigentums sicherzustellen.

Nichtsdestoweniger ist es Sache der Mitgliedstaaten, bei der Umsetzung von Art. 17 der Richtlinie in ihr innerstaatliches Recht darauf zu achten, dass sie sich auf eine Auslegung dieser Bestimmung stützen, die es erlaubt, ein angemessenes Gleichgewicht zwischen den verschiedenen durch die Charta geschützten Grundrechten sicherzustellen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BayObLG: Bezeichnung eines Richters als "menschlicher Abschaum“ nicht von Meinungsfreiheit gedeckt und als Beleidigung strafbar

BayObLG
Urteil vom 03.02.2022
204 StRR 20/22


Das BayObLG hat entschieden, dass die Bezeichnung eines Richters als "menschlicher Abschaum“ nicht von Meinungsfreiheit gedeckt und als Beleidigung strafbar ist.

Die Pressemitteilung des Gertichts:

Auch die Meinungsäußerungsfreiheit gegenüber Richtern hat ihre Grenzen

Der 4. Strafsenat des Bayerischen Obersten Landesgerichts, welcher seinen Sitz in Nürnberg hat, hatte sich in einer Revisionsentscheidung mit den Grenzen der Meinungsäußerungsfreiheit gegenüber Richtern auseinanderzusetzen.

Der Angeklagte hatte einen Richter am Amtsgericht als „menschlichen Abschaum“ bezeichnet. Das Amtsgericht Weißenburg hatte ihn mit Urteil vom 21.07.2021 wegen Beleidung in zwei Fällen schuldig gesprochen und zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Sprungrevision zum Bayerischen Obersten Landesgericht eingelegt. Mit Beschluss vom 3. Februar 2022 hat der 4. Strafsenat den Schuldspruch, also die Verurteilung wegen Beleidigung, bestätigt.

Der Senat geht davon aus, dass die Bezeichnung des Amtsrichters als „menschlichen Abschaum“ eine sogenannte Formalbeleidigung darstellt. In diesem Fall trete die Meinungsfreiheit ohne weitere Gewichtung und Einzelfallabwägung hinter den Ehrenschutz zurück. Der Angeklagte habe mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung ein nach allgemeiner Auffassung besonders krasses, aus sich heraus herabwürdigendes Schimpfwort verwendet, das eine kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit darstelle. Die verwendete Beschimpfung lasse das absolute Mindestmaß menschlichen Respekts vermissen und sei deshalb grundsätzlich nicht mit der Meinungsfreiheit vereinbar.

Lediglich ergänzend führt der Senat aus, dass auch bei einer Abwägung widerstreitender Interessen das Recht der Meinungsfreiheit hinter dem Ehrschutz des beschimpften Amtsträgers im konkreten Fall zurücktreten würde. Grundsätzlich gehöre es zum Kernbereich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, gerichtliche Entscheidungen ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen zu kritisieren. Aus diesem Grund komme der Meinungsäußerungsfreiheit in diesen Fällen besonders hohes Gewicht zu. Auch scharfe und übersteigerte Äußerungen würden noch dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen.

Anders sei der Fall jedoch dann, wenn die Äußerung als äußerst grob herabwürdigend einzuordnen sei. Der abschätzige Begriff „menschlicher Abschaum“ treffe ausschließlich die Person des Richters und nicht dessen Tätigkeiten oder Verhaltensweisen. Der Angeklagte habe genügend alternative Äußerungsmöglichkeiten gehabt, um seine Einwendungen auch mit deutlichen Worten vorzubringen.


Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz - UrhDaG am 01.08.2021 in Kraft getreten - Gesetz über die urheberrechtliche Verantwortlichkeit von Diensteanbietern für das Teilen von Online-Inhalten

Das Gesetz über die urheberrechtliche Verantwortlichkeit von Diensteanbietern für das Teilen von Online-Inhalten (Urheberrechts-Diensteanbieter-Gesetz UrhDaG) ist am 01.08.2021 in Kraft getreten.

Siehe auch zum Thema:

Bundestag hat Gesetz zur Anpassung des Urheberrechts an die Erfordernisse des digitalen Binnenmarktes angenommen - Uploadfilter & Co.

EuGH-Generalanwalt: Uploadfilter - Art.17 Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt mit Meinungs- und Informationsfreiheit vereinbar


EuGH-Generalanwalt: Uploadfilter - Art.17 Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt mit Meinungs- und Informationsfreiheit vereinbar

EuGH-Generalanwalt
Schlussanträge vom 15.07.2021
C-401/19
Polen / Parlament und Rat


Der EuGH-Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass Art. 17 der Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt (Upload-Filter) mit der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit vereinbar ist.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Generalanwalt Saugmandsgaard Øe: Art. 17 der Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt ist vereinbar mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit, die in Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verbürgt sind Zwar wird mit Art. 17 in die Freiheit der Meinungsäußerung eingegriffen, doch genügt der Eingriff den Anforderungen der Charta

Nach Art. 17 der Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt1 haften Anbieter von Online-Sharing-Diensten (sogenanntes „Web 2.0“) unmittelbar, wenn Schutzgegenstände (Werke usw.) von den Nutzern ihrer Dienste rechtswidrig hochgeladen werden. Die betroffenen Diensteanbieter können sich jedoch von dieser Haftung befreien. Hierfür müssen sie gemäß Art. 17 die von den Nutzern hochgeladenen Inhalte aktiv überwachen, um das Hochladen derjenigen Schutzgegenstände zu verhindern, die die Rechteinhaber nicht über diese Dienste zugänglich machen wollen. Diese vorbeugende Überwachung muss in vielen Fällen in Form einer Filterung erfolgen, die mit Hilfe von Tools zur automatischen Inhaltserkennung durchgeführt wird.

Polen hat beim Gerichtshof Klage auf Nichtigerklärung von Art. 17 der Richtlinie 2019/790 erhoben. Dieser Artikel verletze die Freiheit der Meinungsäußerung und die Informationsfreiheit, die in Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verbürgt sind. Der Gerichtshof hat sich also anhand einer Kontrolle der Rechtmäßigkeit dieses Art. 17 damit zu befassen, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen es mit diesen Freiheiten vereinbar ist, wenn den Online-Vermittlern gewisse Überwachungs- und Filterungspflichten auferlegt werden.

In seinen heutigen Schlussanträgen schlägt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe dem Gerichtshof vor, die Vereinbarkeit von Art. 17 der Richtlinie 2019/790 mit der Freiheit der Meinungsäußerung festzustellen und daher die Klage der Republik Polen abzuweisen.

Der Generalanwalt geht insoweit davon aus, dass die angefochtenen Bestimmungen durchaus in die Freiheit der Meinungsäußerung der Nutzer von Online-Sharing-Diensten eingreifen. Dieser Eingriff erfülle aber die Anforderungen von Art. 52 Abs. 1 der Charta und sei daher mit dieser vereinbar.

Insbesondere achten nach Ansicht des Generalanwalts die angefochtenen Bestimmungen den Wesensgehalt der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit. Zwar können die Behörden im Hinblick auf die besondere Bedeutung des Internets für diese Freiheit die Online-Vermittler nicht dazu verpflichten, die über ihre Dienste geteilten oder übertragenen Inhalte
generell nach unzulässigen oder unerwünschten Informationen jeglicher Art zu durchsuchen, doch der Unionsgesetzgeber kann – wie im vorliegenden Fall – die Entscheidung treffen, bestimmten Online-Vermittlern bestimmte Maßnahmen zur Überwachung ganz bestimmter unzulässiger Informationen vorzuschreiben.

Weiter weist der Generalanwalt darauf hin, dass Art. 17 der Richtlinie 2019/790 einer von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entspricht, da mit ihm ein wirksamer Schutz geistigen Eigentums sichergestellt werden soll.

Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit führt der Generalanwalt u. a. aus, dass dem Unionsgesetzgeber ein weites Ermessen zustehe, um die Freiheit der Meinungsäußerung und die Rechte der Inhaber des geistigen Eigentums miteinander in Einklang zu bringen. Somit habe der Gesetzgeber die Entscheidung treffen können, die für Anbieter von Online-Diensten geltende Haftungsregelung, die sich ursprünglich aus der Richtlinie 2000/31 über den elektronischen Geschäftsverkehr ergeben habe, dahin zu ändern, dass bestimmten Anbietern Überwachungspflichten auferlegt werden.

Gleichwohl birgt diese neue Regelung eine Gefahr des „Overblockings“ zulässiger Informationen. Die Anbieter von Online-Sharing-Diensten könnten, um jegliches Risiko einer Haftung gegenüber den Rechteinhabern zu vermeiden, dazu neigen, systematisch das Hochladen aller Inhalte zu verhindern, bei denen von den Rechteinhabern benannte Schutzgegenstände wiedergegeben werden, einschließlich der Inhalte mit einer zulässigen, etwa durch Ausnahmen und Beschränkungen des Urheberrechts gedeckten, Nutzung dieser Gegenstände. Durch den Einsatz von Tools zur automatischen Inhaltserkennung steigt diese Gefahr, weil die Tools nicht in der Lage sind, den Kontext zu verstehen, in dem ein solcher Schutzgegenstand wiedergegeben wird. Der Unionsgesetzgeber musste also ausreichende Schutzvorkehrungen treffen, um diese Gefahr zu
minimieren.

Nach Auffassung des Generalanwalts sind solche Vorkehrungen aber in Art. 17 der Richtlinie 2019/790 getroffen worden.
Zum einen hat der Unionsgesetzgeber für Nutzer von Online-Sharing-Diensten das Recht begründet, zulässige Nutzungen der Schutzgegenstände vorzunehmen; dazu gehört auch das Recht, die Ausnahmen und Beschränkungen des Urheberrechts
in Anspruch zu nehmen. Die Anbieter dieser Dienste dürfen, damit dieses Recht wirksam ist, nicht präventiv alle Inhalte
sperren, die von den Rechteinhabern benannte Schutzgegenstände wiedergeben, einschließlich zulässiger Inhalte. Nach einer solchen präventiven Sperrung den Nutzern im Rahmen eines Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahrens die Möglichkeit einzuräumen, ihre zulässigen Inhalte erneut hochzuladen, wäre nicht ausreichend.

Zum anderen hat der Unionsgesetzgeber betont, dass Art. 17 der Richtlinie 2019/790 den Anbietern von Sharing-Diensten keine Pflicht zur allgemeinen Überwachung auferlegen darf.

Daher dürfen nach Auffassung des Generalanwalts diese Anbieter nicht zu Schiedsrichtern der Online-Rechtmäßigkeit gemacht werden, die komplizierte Fragen des Urheberrechts entscheiden müssen.

Folglich müssen die Anbieter von Sharing-Diensten nur solche Inhalte ausfindig machen und sperren, die mit von den Rechteinhabern benannten Schutzgegenständen „identisch“ sind oder diesen „entsprechen“, d. h. Inhalte, deren Unzulässigkeit im Hinblick auf die von den Rechteinhabern bereitgestellten Informationen als offenkundig angesehen werden kann. Dagegen
dürften in allen zweifelhaften Situationen – bei kurzen Auszügen eines Werks, die in einen längeren Inhalt eingebaut sind, bei „transformativen“ Werken usw. –, in denen insbesondere die Anwendung von Ausnahmen und Beschränkungen des Urheberrechts berechtigterweise in Betracht kommen könnte, die betreffenden Inhalte nicht präventiv gesperrt werden. Die Gefahr eines „Overblocking“ ist damit minimiert. Die Rechteinhaber müssen die Entfernung und Sperrung der betreffenden Inhalte mittels eines begründeten Hinweises beantragen oder sogar ein Gericht anrufen, damit dieses über die Zulässigkeit der Inhalte entscheidet und, falls sie unzulässig sein sollten, deren Entfernung und Sperrung anordnet.


Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:



BVerfG: Verfassungsrechtliche Vorgaben - Strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung und Meinungsfreiheit

BVerfG
Beschlüsse vom 19.05.2020
1 BvR 2459/19, 1 BvR 2397/19, 1 BvR 1094/19 und 1 BvR 362/18


Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zu den verfassungsrechtlichen Vorgaben bei der strafrechtlichen Verurteilung wegen Beleidigung unter Berücksichigung der Meinungsfreiheit in mehreren Entscheidungen präzisiert.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Klarstellung verfassungsrechtlicher Maßgaben für strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrbeeinträchtigender Äußerungen

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichten Beschlüssen über vier Verfassungsbeschwerden entschieden, die sich jeweils gegen strafgerichtliche Verurteilungen wegen Beleidigung richteten. Während die Kammer zwei Verfassungsbeschwerden nicht zu Entscheidung angenommen hat, hatten die anderen beiden Verfassungsbeschwerden Erfolg.

Die Kammer hat diese Verfahren zum Anlass genommen, um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Spannungsverhältnis von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht bei ehrverletzenden Äußerungen klarstellend zusammenzufassen. Dabei hat sie bekräftigt, dass die Beurteilung, ob eine ehrbeeinträchtigende Äußerung rechtswidrig und unter den Voraussetzungen der §§ 185, 193 StGB strafbar ist, in aller Regel von einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen abhängig ist, die eine Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen einer Äußerung und ihrer Bedeutung erfordert. Dabei hat sie wesentliche Kriterien zusammengefasst, die bei dieser Abwägung von Bedeutung sein können. In Abgrenzung dazu hat die Kammer wiederholt, dass eine Abwägung nur in besonderen Ausnahmefällen und nur unter engen Voraussetzungen entbehrlich sein kann, nämlich in den – verfassungsrechtlich spezifisch definierten – Fällen einer Schmähkritik, einer Formalbeleidigung oder einer Verletzung der Menschenwürde. Sie hat die speziellen Voraussetzungen solcher Fallkonstellationen klargestellt und hervorgehoben, dass deren Bejahung von den Fachgerichten klar kenntlich zu machen und in gehaltvoller Weise zu begründen ist. Umgekehrt hat die Kammer betont, dass die Ablehnung eines solchen Sonderfalls, insbesondere das Nichtvorliegen einer Schmähung, das Ergebnis der Abwägung nicht präjudiziert.

Unter Anwendung dieser Maßstäbe hat die Kammer entschieden, dass in zwei Verfahren die von den Fachgerichten vorgenommene Abwägung, wonach die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts die Meinungsfreiheit überwiege, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Demgegenüber genügt die Abwägung in den anderen beiden Verfahren auch unter Berücksichtigung des fachgerichtlichen Wertungsrahmens den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, weil jeweils keine hinreichende Auseinandersetzung mit den konkreten Situationen erkennbar ist, in denen die Äußerungen gefallen sind.

Sachverhalte:

1. Dem Verfahren 1 BvR 2397/19, in dem die Kammer die auch für die anderen Verfahren maßgeblichen Maßstäbe übergreifend zusammenfasst, liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einem von ihm geführten Internetblog zugrunde. Der Beschwerdeführer hatte sich 2002 von seiner damaligen Partnerin getrennt und führte anschließend vor verschiedenen bayerischen Gerichten zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen um das Umgangsrecht mit der gemeinsamen Tochter, das ihm ab 2012 ganz verwehrt wurde. 2016 verfasste er in seinem Internetblog aus Anlass einer für ihn nachteiligen Berufungsentscheidung drei weitere Einträge. Darin nannte er unter anderem die an der Entscheidung beteiligten Richter sowie diverse andere Personen namentlich, stellte Fotos von ihnen ins Netz und bezeichnete sie mehrfach als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien. Sie hätten auf Geheiß des namentlich genannten „rechtsradikalen“ Präsidenten des Oberlandesgerichts offenkundig massiv rechtsbeugend agiert. Der Beschwerdeführer wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Zwar handele es sich wegen des sachlichen Bezugs und der verständlichen schweren emotionalen Situation des Beschwerdeführers nicht um Schmähkritik. Bei einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen überwiege jedoch der Ehrschutz. Die Kammer beurteilte das als verfassungsgemäß.

2. Dem Verfahren 1 BvR 2459/19 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einer verwaltungsgerichtlichen Klageschrift zugrunde. Die Stadtbibliothek hatte – nach Rücksprache mit dem dortigen Rechtsamt – bei der Bestellung eines Buchs von ihm verlangt, das Bestellformular selbst auszufüllen. Hintergrund war, dass der Beschwerdeführer vorher eine Fernleihgebühr für ein Buch nicht entrichtet hatte, weil er der Ansicht gewesen war, ein anderes Buch bestellt zu haben. Schon zuvor hatte die Leiterin des Rechtsamtes in einer anderen Angelegenheit Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer gestellt, aufgrund derer ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschung gegen ihn eingeleitet worden war. In diesem Verfahren hatte er die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens über deren Geisteszustand beantragt. Noch ehe über diesen Antrag entschieden wurde, erhob der Beschwerdeführer wegen des Streits mit der Stadtbibliothek Klage vor dem Verwaltungsgericht. In der Klageschrift äußerte er, „unter Berücksichtigung, … dass in der Sache die Leiterin des Rechtsamtes R., eine in stabiler und persönlichkeitsgebundener Bereitschaft zur Begehung von erheblichen Straftaten befindlichen Persönlichkeit, deren geistig seelische Absonderlichkeiten und ein Gutachten zu deren Geisteskrankheit Gegenstand von gerichtlichen Auseinandersetzungen sind, involviert ist“, behalte er sich vor, „ein Ordnungsgeld in angemessener Höhe zu beantragen“. Aufgrund dieser Äußerung verurteilten die Strafgerichte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Zwar handele es sich nicht um einen Fall der Schmähkritik, da ein Sachbezug nicht völlig fehle. Die gebotene Abwägung falle jedoch zugunsten des Persönlichkeitsrechts aus. Auch dies beurteilte die Kammer als verfassungsgemäß.

3. Dem Verfahren 1 BvR 362/18 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers im Rahmen einer Dienstaufsichtsbeschwerde zugrunde. Der als Rechtsanwalt tätige Beschwerdeführer vertrat 2015 einen Tierschutzverein, für den er vor einem Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt ein Erlaubnisverfahren führte, an dessen Ende die vom Verein beantragte Erlaubnis erteilt wurde. Anschließend erhob der Beschwerdeführer eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den zuständigen Abteilungsleiter, in der er die Ansicht vertrat, das Amt habe eine unglaubliche materielle Unkenntnis, langsame Bearbeitungszeiten und eine offensichtlich vorsätzliche Hinhaltetaktik in der Sache gezeigt. Nach Schilderung von aus Sicht des Beschwerdeführers kritikwürdigen Vorfällen äußerte er, nunmehr gehe es noch um die Verfahrenskosten des Vereins. Diese habe die Behörde zwar bereits formell anerkannt, es scheine aber so, als ob der zuständige Abteilungsleiter durch immer wieder neue Vorgaben letztlich die Kosten nicht erstatten möchte. Weiter hieß es, dessen Verhalten „sehen wir mittlerweile nur noch als offenbar persönlich bösartig, hinterhältig, amtsmissbräuchlich und insgesamt asozial uns gegenüber an“. Die Strafgerichte verurteilten den Beschwerdeführer daraufhin wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Durch die verwendete Formulierung „persönlich“, „hinterhältig“ und „asozial“ sei es nur noch um eine konkrete Diffamierung des von ihm namentlich ausdrücklich benannten Abteilungsleiters gegangen, ohne dass dabei noch ein konkreter Bezug zur Sache erkennbar sei. Die Kammer beurteilte dies als eine Verletzung der Meinungsfreiheit.

4. Dem Verfahren 1 BvR 1094/19 liegen Äußerungen des Beschwerdeführers in einem einkommensteuerrechtlichen Festsetzungsverfahren zugrunde. Im Rahmen des Verfahrens, in dem insbesondere die Abzugsfähigkeit der Kosten für ein gerichtliches Vorgehen gegen den Rundfunkbeitrag strittig war, erhielt der Beschwerdeführer ein beigelegtes Rundschreiben des nordrhein-westfälischen Finanzministers. Dort hieß es unter anderem, Steuern machten „keinen Spaß, aber Sinn. Die Leistungen des Staates, die wir alle erwarten und gern nutzen, gibt es nicht zum Nulltarif“. Daraufhin verfasste der Beschwerdeführer ein weiteres Schreiben an die Finanzbehörden, das hauptsächlich die Frage der Absetzbarkeit der Kosten des rechtlichen Vorgehens gegen den Rundfunkbeitrag zum Gegenstand hatte. Am Ende erklärte er, weitere Dienstaufsichtsbeschwerden jetzt zu erheben, dürfte sinnlos sein: „Solange in Düsseldorf eine rote Null als Genosse Finanzministerdarsteller dilettiert, werden seitens des Fiskus die Grundrechte und Rechte der Bürger bestenfalls als unverbindliche Empfehlungen, normalerweise aber als Redaktionsirrtum des Gesetzgebers behandelt.“ Wegen dieser Äußerung verurteilten die Strafgerichte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe. Der Beschwerdeführer überschreite die Grenze eines Angriffs auf die Ehre des Finanzministers, den er als Person herabwürdige. Zwar werde nicht verkannt, dass die freie Meinungsäußerung ein hohes Rechtsgut sei und dass in der Öffentlichkeit stehende Personen deutliche Kritik auszuhalten hätten. Doch seien auch diese Personen wie andere Bürger geschützt, wenn die Grenze eines persönlichen Angriffs überschritten werde. Auch dies beurteilte die Kammer als Verletzung der Meinungsfreiheit.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

I. Die Kammer hat das Verfahren 1 BvR 2397/19 genutzt, um die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage zusammenzufassen, welche Anforderungen das Grundrecht auf Meinungsfreiheit an strafrechtliche Verurteilungen wegen ehrbeeinträchtigender Äußerungen stellt.

1. Da Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG jedem das Recht gibt, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten, auch wenn dies in polemischer oder verletzender Weise geschieht, greifen strafrechtliche Verurteilungen wegen Beleidigung (§ 185 StGB) in das Grundrecht der Meinungsfreiheit ein. Die Anwendung dieser Strafnorm erfordert daher eine der Meinungsfreiheit gerecht werdende Ermittlung des Sinns der infrage stehenden Äußerung und darauf aufbauend im Normalfall eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die der persönlichen Ehre auf der einen und der Meinungsfreiheit auf der anderen Seite drohen. Hierfür bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung fällt. Eine ehrbeeinträchtigende Äußerung ist daher nur dann eine gemäß § 185 StGB tatbestandsmäßige und rechtswidrige (§ 193 StGB) Beleidigung, wenn das Gewicht der persönlichen Ehre in der konkreten Situation die Meinungsfreiheit des Äußernden überwiegt.

a) Das Ergebnis der von den Fachgerichten vorzunehmenden Abwägung ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Das Bundesverfassungsgericht überprüft lediglich, ob die Gerichte innerhalb des ihnen zustehenden Wertungsrahmens die jeweils für den Fall erheblichen Abwägungs- gesichtspunkte identifiziert und ausreichend in Rechnung gestellt haben. Die Kammer hat das Verfahren zum Anlass genommen, wesentliche Abwägungsgesichtspunkte, die je nach der konkreten Situation zu berücksichtigen sein können, aufzuzählen. Maßgeblich ist, dass die konkrete Situation der Äußerung erfasst und unter Berücksichtigung ihrer kontextbezogenen Bedeutung wie ihrer emotionalen Einbettung in Blick auf die betroffenen Grundrechte hinreichend gewürdigt wird. Hierfür kann unter Umständen letztlich dann auch eine recht knappe Abwägung ausreichen.

b) Zu den Umständen, die häufig bei der Abwägung von Bedeutung sein können, hat die Kammer ausgeführt, dass mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung zunächst deren konkreter ehrschmälernder Gehalt erheblich ist. Dieser hängt insbesondere davon ab, ob und inwieweit die Äußerung grundlegende, allen Menschen gleichermaßen zukommende Achtungsansprüche betrifft oder ob sie eher das jeweils unterschiedliche soziale Ansehen des Betroffenen schmälert. Auch ist das Gewicht der Meinungsfreiheit umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht. Da der grundrechtliche Schutz gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist, ist in die Abwägung gegebenenfalls einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken Gegenstand der Äußerung ist. Dabei kann zwischen Personen zu unterscheiden sein, die wie etwa Politiker bewusst in die Öffentlichkeit treten, und solchen, denen als staatliche Amtswalter ohne ihr besonderes Zutun eine Aufgabe mit Bürgerkontakt übertragen wurde. Der Gesichtspunkt der Machtkritik bleibt allerdings in die Abwägung eingebunden und erlaubt nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgern oder Politikern. Denn die Verfassung setzt gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen.

Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann insbesondere erheblich sein, ob sie unvermittelt in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. Denn für die Freiheit der Meinungsäußerung wäre es besonders abträglich, wenn vor einer mündlichen Äußerung jedes Wort auf die Waagschale gelegt werden müsste. Ebenfalls erheblich kann sein, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvollziehbarer Anlass bestand und welche konkrete Verbreitung und Wirkung sie entfaltet. Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall, der je nach Situation bei Äußerungen in „sozialen Netzwerken“ im Internet gegeben sein kann. Auch hier ist allerdings nicht allgemein auf das Medium als solches, sondern auf die konkrete Breitenwirkung abzustellen.

2. Eine solche Abwägung kann zwar im Einzelfall entbehrlich sein, wenn herabsetzende Äußerungen die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Die Kammer hat aber in Bekräftigung der ständigen Rechtsprechung noch einmal deutlich gemacht, dass es sich dabei um Ausnahmefälle handelt, die an strenge Voraussetzungen geknüpft sind.

a) Der eine Abwägung entbehrlich machende und damit die Meinungsfreiheit verdrängende Effekt dieser Ausnahmetatbestände gebietet es in formaler Hinsicht, ihre Annahme klar kenntlich zu machen und in einer gehaltvollen und verfassungsrechtlich tragfähigen Weise zu begründen. Diese Begründung darf sich nicht in der bloßen Behauptung erschöpfen, ihre Voraussetzungen lägen vor. Vielmehr sind die maßgebenden Gründe unter Auseinandersetzung mit objektiv feststellbaren Umständen des Falles nachvollziehbar darzulegen.

b) Bejaht ein Gericht zu Unrecht einen solchen Ausnahmetatbestand und verzichtet daher auf eine Abwägung, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht. Umgekehrt schließt die gerichtliche Feststellung des Vorliegens der genannten Ausnahmetatbestände eine – hilfsweise – Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Schutz der Persönlichkeit nach den konkreten Umständen des Falles nicht aus, sondern bietet sich vielmehr in den vielfach nicht eindeutig gelagerten Grenzfällen an.

c) Die Kammer hat diese Beschlüsse genutzt, um die engen Voraussetzungen dieser Ausnahmetatbestände in Erinnerung zu rufen:

aa) Der Charakter einer Äußerung als Schmähkritik folgt nicht schon aus einem besonderen Gewicht der Ehrbeeinträchtigung. Eine Schmähung ist nicht einfach eine besonders drastisch verunglimpfende Form von Beleidigung, sondern bestimmt sich nach sachlichen Gesichtspunkten. Im verfassungsrechtlichen Sinn zeichnet sich die Schmähung dadurch aus, dass eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr allein um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa aus verselbständigter persönlicher Feindschaft („Privatfehde“) oder aber auch dann, wenn – insbesondere unter den Kommunikationsbedingungen des Internets – Personen ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen heraus verunglimpft und verächtlich gemacht werden. Eine solche Annahme bedarf einer auf die konkreten Umstände des Falles bezogenen Darlegung. Davon abzugrenzen sind Fälle, in denen die Äußerung, auch wenn sie gravierend ehrverletzend und damit unsachlich ist, letztlich (überschießendes) Mittel zum Zweck der Kritik oder Ausdruck der Empörung über bestimmte Vorkommnisse ist und damit nicht allein der Verächtlichmachung von Personen dient.

bb) Ebenfalls an strenge Maßstäbe geknüpft sind die Fälle der Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinn. Um solche kann es sich etwa bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern – etwa aus der Fäkalsprache – handeln. Bei ihnen ist das maßgebliche Kriterium nicht der fehlende Sachbezug einer Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit, die die Betroffenen insgesamt verächtlich macht, und damit die spezifische Form dieser Äußerung.

cc) Die Meinungsfreiheit muss zudem stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt. Dies kommt indes nur in Betracht, wenn sich die Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht.

d) Die Kammer hat schließlich deutlich gemacht, dass das Fehlen einer dieser eng umgrenzten Ausnahmekonstellationen keine Vorfestlegung für einen Vorrang der Meinungsfreiheit begründet. Eine solche Vorfestlegung ergibt sich nicht aus der Vermutung zugunsten der freien Rede, die keinen generellen Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsschutz begründet. Aus ihr folgt aber, dass Meinungsäußerungen, die die Ehre anderer beeinträchtigen, im Normalfall nur nach Maßgabe einer Abwägung sanktioniert werden können.

II. Diesen Maßstäben werden nur die zu den ersten beiden Sachverhalten ergangenen Entscheidungen gerecht:

Im Verfahren 1 BvR 2397/19 sind die Strafgerichte unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Anforderungen zu dem Ergebnis gelangt, dass wegen des vorhandenen Sachbezugs noch keine Schmähkritik vorlag, dass bei der gebotenen Abwägung aber das Gewicht des Persönlichkeitsrechts der Betroffenen die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers deutlich überwiegt. Überzeugend und tragfähig wird begründet, dass im Streitfall die Aspekte der Machtkritik und des „Kampfs um das Recht“ den Schutz der persönlichen Ehre auch von Amtsträgern nicht in unzumutbarer Weise zurückdrängen können, zumal hier die persönliche Kränkung das sachliche Anliegen weitgehend überlagert. Zudem haben die Fachgerichte in nachvollziehbarer Weise auf die wiederkehrende, besonders hartnäckige und durch die Namensnennung, den anklagenden Duktus und die Untermalung durch Bilder anprangernde Form der Äußerungen abgestellt, ferner darauf, dass es sich um Äußerungen handelt, die die berufliche Integrität der betroffenen Richter grundsätzlich infrage stellen und gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Internetblog verbreitet wurden. Die Kammer hält diese Abwägung für verfassungsrechtlich tragfähig und bestätigt, dass sie kaum anders hätte ausgehen können.

Im Verfahren 1 BvR 2459/19 kann dahinstehen, ob die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers – wie das Amtsgericht angenommen hat – bereits unter dem Gesichtspunkt der Schmähkritik gerechtfertigt wäre. Denn jedenfalls genügt die Abwägungsentscheidung des Landgerichts den verfassungsrechtlichen Vorgaben an eine angemessene Berücksichtigung der Meinungsfreiheit bei Handhabung des § 185 StGB. Dabei durfte es maßgeblich auf den erheblich ehrschmälernden Gehalt der Äußerung und den nur schwach ausgeprägten Sachbezug abstellen. Ebenfalls überzeugend weist das Landgericht darauf hin, dass die bestrafte, primär wertende Äußerung zum Geisteszustand der Betroffenen auch tatsächliche Elemente aufweist, die der Beschwerdeführer bewusst falsch wiedergab. Im konkreten Kontext, den das Landgericht situationsbezogen gewürdigt hat, steht hier der Verurteilung auch nicht entgegen, dass sich die Äußerung auf eine staatliche Amtsträgerin und deren dienstliche Handlungen bezog und nur ein kleiner Personenkreis von ihr Kenntnis erhielt.

Im Verfahren 1 BvR 362/18 ist bereits unklar, ob die Gerichte von einer Schmähung ausgegangen sind. Dazu hätten sie in Auseinandersetzung mit der Äußerung und ihren Umständen näher darlegen müssen, warum es nur noch um eine konkrete Diffamierung ohne Sachbezug gegangen sein soll. Dies wird von den Gerichten nicht näher ausgeführt und ist auch nicht ersichtlich. Vielmehr handelt es sich um eine persönlich formulierte Ehrkränkung in Anknüpfung und unter Bezug auf eine fortdauernde Auseinandersetzung mit einem sachlichen Kern. Dabei stehen ersichtlich auch nicht verächtlich machende Beschimpfungen in Rede, die gegenüber Dritten unter überhaupt keinen Bedingungen geäußert werden dürften und deshalb als Formalbeleidigung zu beurteilen wären. Zur strafrechtlichen Verurteilung kann eine solche Äußerung folglich nur nach Maßgabe einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers führen. Die Gerichte erwähnen zwar das Erfordernis einer „Interessenabwägung“, nehmen aber eine solche Abwägung in der Sache nicht vor, sondern stellen allein abstrakt auf den Wortlaut der ehrverletzenden Äußerungen ab. Hierin liegt nicht, wie verfassungsrechtlich geboten, eine Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerung gefallen ist.

Im Verfahren 1 BvR 1094/19 kann sich die strafgerichtliche Verurteilung ebenfalls nicht auf den Gesichtspunkt der Schmähkritik oder der Formalbeleidigung stützen. Die angegriffenen Entscheidungen sind auch nicht von einer verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Abwägung getragen. Sie lassen keine hinreichende Auseinandersetzung mit der konkreten Situation, in der die Äußerung gefallen ist, erkennen und zeigen nicht auf, weshalb das Interesse an einem Schutz des Persönlichkeitsrechts des damaligen nordrhein-westfälischen Finanzministers die erheblichen für die Zulässigkeit der Äußerung sprechenden Gesichtspunkte überwiegt. Die Entscheidungen gehen auf Inhalt, Anlass, Motivation sowie die konkrete Wirkung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Falls nicht sachhaltig ein, sondern weisen der Äußerung ohne nähere Begründung eine unmittelbar in die Privatsphäre reichende Bedeutung zu, obwohl es angesichts der sonstigen Äußerungen des Beschwerdeführers in dem Verfahren naheliegend gewesen wäre, sie in erster Linie auf das politische Handeln des Finanzministers zu beziehen. Auch berücksichtigen sie nicht, dass die Fähigkeit einer Person zur sachgemäßen Führung höchster öffentlicher oder politischer Ämter nicht Teil des grundlegenden sozialen Achtungsanspruchs ist, dass die Äußerung allein in einem an den zuständigen Sachbearbeiter gerichteten Schreiben im Rahmen eines nichtöffentlichen behördlichen Verfahrens getätigt wurde und dass der Betroffene sich mit seinem personalisierten Schreiben selbst zu Wort gemeldet und damit einen konkreten Anlass für die Reaktion des Beschwerdeführers gesetzt hatte.




BVerfG: Falsche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik verletzt die Meinungsfreiheit

BVerfG
Beschluss vom 14.06.2019
1 BvR 2433/17


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die falsche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik die Meinungsfreiheit verletzt.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Verletzung der Meinungsfreiheit durch fälschliche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik

Grundsätzlich ist über die Frage, ob eine Äußerung als Beleidigung zu bestrafen ist oder von der Meinungsfreiheit geschützt ist, im Wege einer Abwägung zu entscheiden. Bei Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik tritt demgegenüber die Meinungsfreiheit von vornherein zurück; es bedarf hier ausnahmsweise keiner Abwägung im Einzelfall. Deshalb sind hinsichtlich des Vorliegens von Schmähkritik strenge Maßstäbe anzuwenden. Maßgeblich ist hierfür nicht einfach eine wertende Gesamtbetrachtung, sondern die Frage, ob die Äußerung einen Sachbezug hat. Nur wenn eine Äußerung der Sache nach allein auf die Diffamierung einer Person als solche, etwa im Rahmen einer Privatfehde zielt, kommt eine Beurteilung als Schmähung in Betracht; insoweit sind Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln. Wenn die Äußerung hingegen – wie in der Regel – im Kontext einer Sachauseinandersetzung steht, bedarf es einer Abwägung, die die Bedeutung der Äußerung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls gewichtet.

Vor diesem Hintergrund hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss der Verfassungsbeschwerde eines wegen Beleidigung Verurteilten stattgegeben, der die Verhandlungsführung einer Amtsrichterin mit nationalsozialistischen Sondergerichten und Hexenprozessen verglichen hatte. Dies war von den Fachgerichten unzutreffend als Schmähkritik eingeordnet worden, obwohl es sich nicht um eine reine Herabsetzung der Betroffenen handelte, sondern ein sachlicher Bezug zu dem vom Beschwerdeführer geführten Zivilprozess bestand.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war Kläger eines amtsgerichtlichen Zivilprozesses. In der Begründung eines Ablehnungsgesuchs schilderte er ausführlich seinen Eindruck, die Richterin habe einen vom Beklagten benannten Zeugen einseitig zu seinen Lasten vernommen und diesem die von ihr erwünschten Antworten gleichsam in den Mund gelegt. Er führte weiter aus, „die Art und Weise der Beeinflussung der Zeugen und der Verhandlungsführung durch die Richterin sowie der Versuch, den Kläger von der Verhandlung auszuschließen“ erinnerten stark an „einschlägige Gerichtsverfahren vor ehemaligen nationalsozialistischen deutschen Sondergerichten“. Die gesamte Verhandlungsführung der Richterin habe „eher an einen mittelalterlichen Hexenprozess als an ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführtes Verfahren“ erinnert. Wegen dieser Äußerungen verurteilte das Amtsgericht den Beschwerdeführer wegen Beleidigung zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen. Berufung, Revision und Anhörungsrüge des Beschwerdeführers blieben erfolglos.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Entscheidungen der Gerichte verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die Äußerungen fallen in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit, da die polemische oder verletzende Formulierung einer Aussage diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts entzieht.

2. Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gilt nicht vorbehaltlos, sondern findet nach Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, namentlich in dem der hier angegriffenen Verurteilung zugrunde liegenden § 185 StGB. Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG grundsätzlich eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht. Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, weshalb deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist. Sie erlaubt es insbesondere nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

Einen Sonderfall bei der Auslegung und Anwendung der §§ 185 ff. StGB bilden herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktreten wird. Diese für die Meinungsfreiheit einschneidende Folge gebietet es aber, hinsichtlich des Vorliegens von Formalbeleidigungen und Schmähkritik strenge und eigenständige Maßstäbe anzuwenden. Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehre richten sich nach dem Kriterium des sachlichen Bezugs. Solange ein Bezug zu einer Sachauseinandersetzung besteht und sich die Äußerungen damit nicht – wie etwa im Fall der Privatfehde – auf eine bloße persönliche Diffamierung oder Herabsetzung der von der Äußerung Betroffenen beschränken, sind sie nicht als Schmähung einzustufen, sondern können sie nur nach Maßgabe einer umfassenden und einzelfallbezogenen Abwägung mit der Meinungsfreiheit als Beleidigung bestraft werden. Ob ein solcher sachlicher Bezug gegeben ist, ist unter Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung zu ermitteln.

3. Diesen Maßstäben genügen die Entscheidungen nicht. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind schon dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind. So liegt der Fall hier; die inkriminierten Äußerungen stellen keine Schmähkritik dar. Mit seinen Vergleichen richtete sich der Beschwerdeführer gegen die Verhandlungsführung der Richterin in dem von ihm betriebenen Zivilverfahren. Dieses bildete den Anlass der Äußerungen, die im Kontext der umfangreichen Begründung eines Befangenheitsgesuchs getätigt wurden. Die Äußerungen entbehren daher insofern nicht eines sachlichen Bezugs. Sie lassen sich wegen der auf die Verhandlungsführung und nicht auf die Richterin als Person gerichteten Formulierungen nicht sinnerhaltend aus diesem Kontext lösen und erscheinen daher nicht als bloße Herabsetzung der Betroffenen. Historische Vergleiche mit dem Nationalsozialismus oder Vorwürfe einer „mittelalterlichen“ Gesinnung können besonderes Gewicht im Rahmen der Abwägung haben, begründen aber nicht schon für sich besehen die Annahme des Vorliegens von Schmähkritik.

Die Ausführungen, mit denen das Landgericht eine Wahrnehmung berechtigter Interessen nach § 193 StGB verneint, nehmen die unzutreffende Einordnung der Äußerung als Schmähung nicht zurück, sondern bauen auf ihr auf. Zwar hebt das Landgericht insoweit zutreffend das besondere Interesse des Beschwerdeführers an der Verteidigung seiner Rechtsansichten im „Kampf ums Recht“ hervor und berücksichtigt zu seinen Gunsten, dass die Äußerungen Dritten gegenüber nicht bekannt wurden. Indem es demgegenüber dann aber geltend macht, dass die gewählten Formulierungen für die Verteidigung der Rechtsansichten nicht erforderlich gewesen seien, knüpft es an seinem unzutreffenden Verständnis des Begriffs der „Schmähung“ als Ehrbeeinträchtigung, die durch die Sache nicht mehr geboten ist, an und verkennt, dass der Beschwerdeführer unter Berücksichtigung seiner Meinungsfreiheit nicht auf das zur Begründung seiner Rechtsansicht Erforderliche beschränkt werden darf.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerfG: Meinungsfreiheit deckt Bezeichnung einer mündlichen Verhandlung vor Gericht als Musikantenstadl - Keine Strafbarkeit

BVerfG
Beschluss vom 06.06.2017
1 BvR 180/17


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Bezeichnung einer mündlichen Verhandlung vor Gericht als "Musikantenstadl" ist von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt und nicht strafbar.

Die Entscheidung:

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde [...] hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Kirchhof und die Richter Masing, Paulus am 6. Juni 2017 einstimmig beschlossen:

Das Urteil des Amtsgerichts Gera vom 29. Juni 2016 - 302 Js 36279/14 15 Cs - und der Beschluss des Landgerichts Gera vom 15. Dezember 2016 - 302 Js 36279/14 7 Ns - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes.

Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Gera zurückverwiesen.

Der Freistaat Thüringen hat dem Beschwerdeführer die ihm im Verfassungsbeschwerdeverfahren entstande nen notwendigen Auslagen zu erstatten.

Der Wert des Gegenstands der anwaltlichen Tätigkeit im Verfassungsbeschwerdeverfahren wird auf 25.000 € (in Worten: fünfundzwanzigtausend Euro) festgesetzt.

G r ü n d e :


Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine strafgerichtliche Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB.
I.

1. Der Beschwerdeführer ist Rechtsanwalt im Ruhestand. Im Jahr 2014, als er noch beruflich aktiv war, war er Verteidiger eines wegen Unfallflucht Angeklagten, der zunächst vom Amtsgericht verurteilt wurde. In der zweiten Instanz wurde das Verfahren auf Kosten der Staatskasse gemäß § 153 Abs. 2 StPO eingestellt. Da sein Antrag auf Kostenerstattung für dieses Verfahren trotz mehrfacher Mahnungen zwei Monate lang nicht beschieden wurde, wandte der Beschwerdeführer sich an den die Dienstaufsicht innehabenden Präsidenten des Landgerichts. In seinem Schreiben beschwerte er sich über die schleppende Bearbeitung des Kostenfestsetzungsantrags und schilderte sodann ausführlich, warum der Prozess seiner Meinung nach seitens des zuständigen Richters schlecht geführt worden sei. Unter anderem erklärte er:
„Der Verlauf der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht P. glich dann schon dem, was ich als ,Musikantenstadl‘ bezeichnen möchte. Kein vernünftiges Eigenargument auf Seiten des Richters, aber eine ,Gesamtsicht der Dinge‘. Es wird mir ein ewiges Rätsel bleiben, wie es möglich ist, dass aus nicht einem einzigen stichhaltigen Argument eine ,stichhaltige Gesamtsicht‘ zusammengenäht - halt besser: zusammengeschustert - wird. (...)“.

Der Präsident des Landgerichts stellte Strafantrag.

2. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer mit angegriffenem Urteil wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 30 €. Der Vergleich der mündlichen Verhandlung mit einem „Musikantenstadl“ sei geeignet, den zuständigen Richter in seiner Ehre zu kränken. Die richterliche Tätigkeit werde damit gegenüber dem zur Dienstaufsicht und Beurteilung der Leistungen des Richters berufenen Landgerichtspräsidenten einer Veranstaltung der Volksbelustigung gleichgestellt. Die Äußerung des Beschwerdeführers sei auch nicht dadurch gerechtfertigt, dass dieser mit seinem Schreiben nach eigenen Angaben allein die Beschleunigung des Kostenfestsetzungsverfahrens bezweckt habe. Denn das Strafverfahren sei zu dem Zeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen, so dass es keine Rechtfertigung für eine nachträgliche Diffamierung der Verhandlungsleitung gebe, die in keinem Zusammenhang mit der Kostenerstattung stehe. Die Äußerung des Beschwerdeführers sei auch nicht durch das Petitionsrecht oder Art. 5 GG beziehungsweise Art. 10 der EMRK gerechtfertigt. Denn diese rechtfertigten keine beleidigenden Äußerungen, die wie hier pauschal die Verhandlung eines Richters in den Bereich der Lächerlichkeit stellten und keinen konkreten Sachbezug aufwiesen.

3. Den Antrag des Beschwerdeführers auf Annahme der Berufung wies das Landgericht mit angegriffenem Beschluss zurück. Die Berufung sei gemäß § 313 Abs. 1 StGB nicht zur Entscheidung anzunehmen, weil sie offensichtlich unbegründet sei.

4. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seiner Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG und des Petitionsrechts aus Art. 17 GG.

5. Dem Thüringer Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Die Akten des Ausgangsverfahrens lagen dem Bundesverfassungsgericht vor.
II.

Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden (vgl. BVerfGE 61, 1 <7 ff.>; 90, 241 <246 ff.>; 93, 266 <292 ff.>). Dies gilt namentlich für den Einfluss des Grundrechts auf Meinungsfreiheit bei Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Vorschriften der §§ 185 ff. StGB (vgl. BVerfGE 82, 43 <50 ff.>; 85, 23 <30 ff.>; 93, 266 <292 ff.>).

2. Die Verfassungsbeschwerde ist danach zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

a) Die inkriminierte Äußerung fällt in den Schutzbereich des Grundrechts auf Meinungsfreiheit. Sie ist durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens und des Meinens geprägt und deshalb als Werturteil anzusehen. Die polemische oder verletzende Formulierung einer Aussage entzieht diese grundsätzlich nicht dem Schutzbereich des Grundrechts (vgl. BVerfGE 54, 129 <138 f.>; 93, 266 <289>; stRspr).

b) Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gilt allerdings nicht vorbehaltlos, sondern findet nach Art. 5 Abs. 2 GG seine Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, namentlich in dem der hier angegriffenen Verurteilung zugrunde liegenden § 185 StGB (vgl. BVerfGE 93, 266 <290 ff.>). Auslegung und Anwendung der Strafvorschriften ist grundsätzlich Sache der Strafgerichte. Das Bundesverfassungsgericht ist auf die Klärung beschränkt, ob das Strafgericht die wertsetzende Bedeutung des Freiheitsrechts verkannt hat (vgl. BVerfGE 7, 198 <208 f.>; 93, 266 <292>; stRspr). Steht ein Äußerungsdelikt in Frage, so verlangt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG eine Gewichtung der Beeinträchtigung, die der Meinungsfreiheit des sich Äußernden einerseits und der persönlichen Ehre des von der Äußerung Betroffenen andererseits droht (vgl. BVerfGE 7, 198 <212>; 93, 266 <293>; stRspr). Handelt es sich bei der Äußerung um eine Stellungnahme in einem gerichtlichen Verfahren, die der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung dient, so sind bei der Anwendung des § 193 StGB auch die Auswirkungen des Rechtsstaatsprinzips zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 11. April 1991 - 2 BvR 963/90 -, NJW 1991, S. 2074 <2075>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. März 2000 - 2 BvR 1392/96 -, NJW 2000, S. 3196 <3197>). Das Recht, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt ohne Furcht vor staatlichen Sanktionen auch scharf kritisieren zu können, gehört zum Kernbereich der Meinungsfreiheit, weshalb deren Gewicht insofern besonders hoch zu veranschlagen ist (vgl. BVerfGE 93, 266 <293>). Die Meinungsfreiheit erlaubt es insbesondere nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen.

c) Diese verfassungsrechtlichen Anforderungen erfüllen die angegriffenen Entscheidungen nicht.

aa) Das Amtsgericht hat zwar geprüft, ob die Äußerung durch die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) gedeckt sein könnte. Indem es argumentiert, das Strafverfahren sei zu jenem Zeitpunkt bereits abgeschlossen gewesen und daher eine Rechtfertigung der darauf bezogenen Äußerung ausgeschlossen, verkennt es jedoch die Reichweite der Meinungsfreiheit. Zum einen deckt diese auch die Kritik bereits abgeschlossener Strafverfahren. Zum anderen übersieht das Gericht, dass das Kostenfestsetzungsverfahren durchaus mit dem vorhergehenden Erkenntnisverfahren in Zusammenhang steht. Der Beschwerdeführer verbindet seine Kritik an der schleppenden Bearbeitung seines Kostenfestsetzungsantrags mit Ausführungen zu den aus seiner Sicht schon in der mündlichen Verhandlung zu verzeichnenden Schwächen, um seinem Anliegen Nachdruck zu verleihen. Überdies hat das Amtsgericht bei der Abwägung auch nicht hinreichend berücksichtigt, dass die Äußerung nicht öffentlich, sondern in einer allein an den Präsidenten des Landgerichts adressierten Dienstaufsichtsbeschwerde gefallen ist, so dass der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Richters nur eine geringe Außenwirkung entfaltet hat.

bb) Da das Landgericht die Berufung als offensichtlich unbegründet erachtet hat, leidet seine Entscheidung an denselben Mängeln wie das Urteil des Amtsgerichts.

3. Ob die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen der beanstandeten Meinungsäußerung auch einen Verstoß gegen das in Art. 17 GG gewährleistete Petitionsrecht darstellt, war von der Kammer nicht mehr zu entscheiden, da die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen bereits wegen Verstoßes gegen Art. 5 Abs. 1 GG aufgehoben wurden.

4. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen wird.

5. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG (vgl. BVerfGE 79, 365 <366 ff.>).


BVerfG: Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik ohne Abwägung verletzt Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. Satz 1 GG

BVerfG
Beschluss vom 08.02.2017
1 BvR 2973/14


Das Bundesverfassungsgericht hat nochmals klargestellt, dass die Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik ohne Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Äußernden und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Betroffenen eine Verletzung der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. Satz 1 GG darstellt.

Dieser Beschluss veranschaulicht, weshalb das geplante Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) verfassungsrechtlich unzulässig und zum Scheitern verurteilt ist.

Die Pressemitteilung des BVerfG:

Die falsche Einordnung einer Äußerung als Schmähkritik verkürzt den grundrechtlichen Schutz der Meinungsfreiheit

Wegen seines die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik von Verfassungs wegen eng zu verstehen. Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung. Die Annahme einer Schmähung hat wegen des mit ihr typischerweise verbundenen Unterbleibens einer Abwägung gerade in Bezug auf Äußerungen, die als Beleidigung beurteilt werden, ein eng zu handhabender Sonderfall zu bleiben. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss entschieden und damit einer Verfassungsbeschwerde gegen die strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Beleidigung stattgegeben.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war Versammlungsleiter einer ordnungsgemäß angemeldeten Demonstration aus dem rechten Spektrum in Köln. Die Demonstration stieß auf zahlreiche Gegendemonstranten. Unter diesen war auch ein Bundestagsabgeordneter der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vor Ort, um die Durchführung des Aufzuges aktiv zu verhindern. Er bezeichnete die Teilnehmer der Demonstration mehrfach wörtlich und sinngemäß als „braune Truppe“ und „rechtsextreme Idioten“. Der Beschwerdeführer äußerte sich über den Bundestagsabgeordneten wörtlich wie folgt:

„Ich sehe hier einen aufgeregten grünen Bundestagsabgeordneten, der Kommandos gibt, der sich hier als Obergauleiter der SA-Horden, die er hier auffordert. Das sind die Kinder von Adolf Hitler. Das ist dieselbe Ideologie, die haben genauso angefangen.“

Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung in Form einer Schmähkritik zu einer Geldstrafe. Auf die Berufung des Beschwerdeführers verwarnte das Landgericht den Beschwerdeführer und behielt sich die Verurteilung zu einer Geldstrafe vor. Die Revision zum Oberlandesgericht blieb erfolglos. Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die gerichtlichen Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung seiner Meinungsfreiheit.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit schützt nicht nur sachlich-differenzierte Äußerungen. Vielmehr darf Kritik auch pointiert, polemisch und überspitzt erfolgen. Einen Sonderfall bilden hingegen herabsetzende Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen. Dann ist ausnahmsweise keine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht notwendig, weil die Meinungsfreiheit regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurücktritt. Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit sind auch dann verkannt, wenn eine Äußerung unzutreffend als Tatsachenbehauptung, Formalbeleidigung oder Schmähkritik eingestuft wird mit der Folge, dass sie dann nicht im selben Maß am Schutz des Grundrechts teilnimmt wie Äußerungen, die als Werturteil ohne beleidigenden oder schmähenden Charakter anzusehen sind.

2. Die Gerichte ordnen die Äußerung des Beschwerdeführers in verfassungsrechtlich nicht mehr tragbarer Weise als Schmähkritik ein und unterlassen die verfassungsrechtlich gebotene Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von der Äußerung Betroffenen. Die angegriffenen Entscheidungen verkennen, dass der Beschwerdeführer mit seiner Äußerung auch das Handeln des Geschädigten kommentierte, der sich maßgeblich an der Blockade der vom Beschwerdeführer als Versammlungsleiter angemeldeten Versammlung beteiligte und die Teilnehmenden auch seinerseits als „braune Truppe“ und „rechtsextreme Idioten“ beschimpft hatte. Es ging dem Beschwerdeführer nicht ausschließlich um die persönliche Herabsetzung des Geschädigten. Bereits die unzutreffende Einordnung verkennt Bedeutung und Tragweite der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG geschützten Meinungsfreiheit.

3. Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf diesem Fehler. Wie diese Abwägung ausgeht, ist verfassungsrechtlich nicht vorgegeben. Bei erneuter Befassung wird auf der einen Seite das Vorverhalten des Geschädigten, der aktiv eine Demonstration verhindern wollte, wie auf der anderen Seite das schwere Gewicht einer Ehrverletzung zu berücksichtigen sein, das in einem individuell adressierten Vergleich mit Funktionsträgern des nationalsozialistischen Unrechtsregimes liegt.

BVerfG: Allgemeine Kundgabe von ACAB (all cops are bastards) regelmäßig keine strafbare Beleidigung

BVerfG
Beschlüsse vom 17.05.2016
1 BvR 257/14
1 BvR 2150/14


Das Bundesverfassungsgericht, dass die allgemeine Kundgabe des Kürzels ACAB ("all cops are bastards") durch Aufdruck auf einem Kleidungsstück oder Transparenten regelmäßig nicht strafbar ist. Es fehlt vor dem Hintergrund der Meinungsäußerungsfreiheit - so das BVerfG - ein Bezug zu einer hinreichend überschaubaren und abgegrenzten Personengruppe, um eine strafbare Kollektivbeleidigung zu begründen.

Die Pressemitteilung des BVerfG:

"Kollektivbeleidigung“ nur bei Bezug zu einer hinreichend überschaubaren und abgegrenzten Personengruppe

Die Kundgabe der Buchstabenkombination „ACAB“ im öffentlichen Raum ist vor dem Hintergrund der Freiheit der Meinungsäußerung nicht ohne weiteres strafbar. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats in zwei heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden. Die Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 Strafgesetzbuch (StGB) setzt voraus, dass sich die Äußerung auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe bezieht; ansonsten ist der Eingriff in die Meinungsfreiheit nicht gerechtfertigt.

Sachverhalt:

1. Beim Besuch eines Fußballspiels trug der Beschwerdeführer des Verfahrens 1 BvR 257/14 eine schwarze Hose, die im Gesäßbereich großflächig mit dem gut sicht- und lesbaren Schriftzug „ACAB“ bedruckt war. Nach dem Spiel verließ er das Stadion auf einem Weg, der an einigen dort eingesetzten Bereitschaftspolizisten vorbeiführte. Das Amtsgericht verurteilte den Beschwerdeführer wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB. Die Berufung zum Landgericht und die Revision zum Oberlandesgericht blieben erfolglos.

2. Der Beschwerdeführer im Verfahren 1 BvR 2150/14 hielt während eines Fußballspiels gemeinsam mit anderen Personen verschiedene großflächige Banner hoch. Ein Transparent trug die Aufschrift „Stuttgart 21 - Polizeigewalt kann jeden treffen“, ein weiteres war mit der Aufschrift „BFE ABSCHAFFEN“ versehen, wobei „BFE“ für die Beweis- und Festnahmeeinheiten der Polizei steht. Der Beschwerdeführer und vier weitere Personen trennten vier Buchstaben aus diesem Transparent heraus und hielten diese dann in der Formation „A C A B !“ hoch. Das Landgericht sprach den Beschwerdeführer der Beleidigung schuldig und verwarnte ihn, nachdem ein den Beschwerdeführer freisprechendes Urteil durch das Oberlandesgericht aufgehoben worden war. Die erneute Revision des Beschwerdeführers blieb erfolglos.

Mit ihren Verfassungsbeschwerden wenden sich die Beschwerdeführer gegen die Verurteilungen und rügen die Verletzung des Grundrechts auf Meinungsfreiheit.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die Parole „ACAB“ ist nicht von vornherein offensichtlich inhaltlos, sondern bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck. Es handelt sich um eine Meinungsäußerung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Die strafrechtlichen Verurteilungen der Beschwerdeführer greifen in dieses Grundrecht ein.

2. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Die angegriffenen Entscheidungen sind vorliegend jedoch nicht mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung vereinbar. Sie tragen die Annahme einer hinreichenden Individualisierung des negativen Werturteils nicht.

a) Eine herabsetzende Äußerung, die weder bestimmte Personen benennt noch erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne individuelle Aufschlüsselung ein Kollektiv erfasst, kann zwar unter bestimmten Umständen ein Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs sein. Je größer das Kollektiv ist, auf das sich die herabsetzende Äußerung bezieht, desto schwächer kann auch die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds werden, weil es bei den Vorwürfen an große Kollektive meist nicht um das individuelle Fehlverhalten oder individuelle Merkmale der Mitglieder, sondern um den aus der Sicht des Sprechers bestehenden Unwert des Kollektivs und seiner sozialen Funktion sowie der damit verbundenen Verhaltensanforderungen an die Mitglieder geht. Dabei ist es verfassungsrechtlich nicht zulässig, eine auf Angehörige einer Gruppe im Allgemeinen bezogene Äußerung allein deswegen als auf eine hinreichend überschaubare Personengruppe bezogen zu behandeln, weil eine solche Gruppe eine Teilgruppe des nach der allgemeineren Gattung bezeichneten Personenkreises bildet.

b) Diesen Vorgaben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Es fehlt an hinreichenden Feststellungen zu den Umständen, die die Beurteilung tragen könnten, dass sich die Äußerungen jeweils auf eine hinreichend überschaubare und abgegrenzte Personengruppe beziehen. Nach den dargelegten Maßstäben reicht es nicht aus, dass die Polizeikräfte, die die Parole „ACAB“ wahrnehmen, eine Teilgruppe aller Polizistinnen und Polizisten bilden. Vielmehr bedarf es einer personalisierenden Adressierung dieser Parole, für die hier nichts ersichtlich ist. Das Wissen der Beschwerdeführer, dass Polizei im Stadion ist und die Parole wahrnehmen würde, reicht hierfür nach verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht.

aa) Im Verfahren 1 BvR 257/14 fehlen insbesondere Feststellungen dazu, dass sich der Beschwerdeführer bewusst in die Nähe der Einsatzkräfte der Polizei begeben hat, um diese mit seiner Parole zu konfrontieren.

bb) Im Verfahren 1 BvR 2150/14 setzen sich die Fachgerichte darüber hinaus nicht sachhaltig damit auseinander, dass unmittelbar vor der Verwendung des Akronyms „ACAB“ Kritik an den Beweis- und Festnahmeeinheiten „(BFE)“ sowie an den Polizeieinsätzen im Rahmen des Projekts „Stuttgart 21“ geäußert und damit eine in der Öffentlichkeit viel diskutierte Frage aufgenommen worden war. Insoweit kann die strafgerichtliche Entscheidung nicht darauf gestützt werden, dass es sich bei der Aktion des Beschwerdeführers um eine unzulässige Schmähung gehandelt habe. Zum einen setzt auch die Annahme einer Schmähung eine personalisierte Zuordnung der Äußerungen voraus. Zum anderen ist der Begriff der Schmähung, der keine Abwägung mehr mit der Meinungsfreiheit verlangt, von Verfassungs wegen eng zu definieren und erfasst nur Fälle, in denen es nicht mehr um die Auseinandersetzung in der Sache geht, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Aus den Feststellungen des Gerichts ist nicht ersichtlich, dass die Äußerung sich individualisiert gegen bestimmte Beamte richtete.

c) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen, dass die Gerichte bei erneuter Befassung zu einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden.


BVerfG: Emotionale Äußerungen und Recht auf Gegenschlag von Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt - Kachelmann

BVerfG
Beschluss vom 10.03.2016
1 BvR 2844/13


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass auch emotionale Äußerungen und das Recht auf Gegenschlag von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt sind. Gegenstand des Verfahrens waren Äußerungen der Ex-Geliebten des Wettermoderators Kachelmann.

Die Pressemitteilung des BVerfG:

Meinungsfreiheit schützt auch emotionalisierte Äußerungen

Die Meinungsfreiheit umfasst auch die Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert darzustellen, insbesondere als Erwiderung auf einen unmittelbar vorangegangenen Angriff auf die Ehre, der gleichfalls in emotionalisierender Weise erfolgt ist. Dies hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden. Damit gab sie der Verfassungsbeschwerde einer Beschwerdeführerin statt, die sich gegen eine zivilgerichtliche Unterlassungsverurteilung gewandt hatte.

Sachverhalt:

Der Kläger des Ausgangsverfahrens war mit der Beschwerdeführerin liiert, bis sie ihn Anfang des Jahres 2010 wegen Vergewaltigung und gefährlicher Körperverletzung anzeigte. Im darauf folgenden Strafprozess vor dem Landgericht wurde der Kläger freigesprochen, da ihm eine Straftat nicht nachgewiesen werden konnte. Am Tag des Freispruchs sowie am Tag darauf äußerten sich die Anwälte des Klägers in Fernsehsendungen über die Beschwerdeführerin. Etwa eine Woche nach der Verkündung des freisprechenden Urteils erschien zudem ein Interview mit dem Kläger, in dem er über die Beschwerdeführerin sprach. Daraufhin gab auch die Beschwerdeführerin ein Interview, das eine Woche nach der Veröffentlichung des Interviews mit dem Kläger erschien.

In der Folgezeit begehrte der Kläger von der Beschwerdeführerin die Unterlassung mehrerer Äußerungen, die sie im Rahmen dieses Interviews getätigt hatte. Das Landgericht verurteilte die Beschwerdeführerin antragsgemäß. Die Berufung zum Oberlandesgericht und die Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof blieben ohne Erfolg.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen alle drei Entscheidungen und rügt im Wesentlichen die Verletzung ihrer Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG).

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrer Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

1. Die Urteile des Landgerichts und des Oberlandesgerichts berühren den Schutzbereich der Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Einordnung der Äußerungen als Werturteile und Tatsachenbehauptungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Tatsachenbehauptungen sind nicht erwiesen unwahr. Im Strafverfahren konnte nicht geklärt werden, ob die Angaben der Beschwerdeführerin oder die des Klägers der Wahrheit entsprechen. Nach dem Freispruch des Klägers stellen sich deshalb die verschiedenen Wahrnehmungen als subjektive Bewertungen eines nicht aufklärbaren Geschehens dar, die nicht als Tatsachenbehauptungen, sondern als Meinungen zu behandeln sind.

2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Meinungsfreiheit der Beschwerdeführerin. Die Untersagung der streitgegenständlichen Äußerungen bewegt sich nicht mehr im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.

a) Das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung ist als subjektive Freiheit des unmittelbaren Ausdrucks der menschlichen Persönlichkeit ein grundlegendes Menschenrecht. Sie umfasst nicht zuletzt die Freiheit, die persönliche Wahrnehmung von Ungerechtigkeiten in subjektiver Emotionalität in die Welt zu tragen. Dabei kann insbesondere bei Vorliegen eines unmittelbar vorangegangenen Angriffs auf die Ehre eine diesem Angriff entsprechende, ähnlich wirkende Erwiderung gerechtfertigt sein. Wer im öffentlichen Meinungskampf zu einem abwertenden Urteil Anlass gegeben hat, muss eine scharfe Reaktion auch dann hinnehmen, wenn sie das persönliche Ansehen mindert.

b) Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben nicht. Zwar haben die Gerichte zutreffend einerseits das große Informationsinteresse der Öffentlichkeit und andererseits den Freispruch berücksichtigt, der dazu führt, dass die schweren Vorwürfe, die Gegenstand des Strafverfahrens waren, nicht unbegrenzt wiederholt werden dürfen. Auch haben sie berücksichtigt, wieweit die Äußerungen sich auf öffentliche Angelegenheiten bezogen.

Indem die Gerichte davon ausgingen, dass sich die Beschwerdeführerin auf eine sachliche Wiedergabe der wesentlichen Fakten zu beschränken habe, und hierfür auf das öffentliche Informationsinteresse abstellen, verkennen sie die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch unabhängig von einem solchen Interesse geschützte Freiheit, ein Geschehen subjektiv und sogar emotionalisiert zu bewerten. Zugleich übersieht diese Sichtweise das öffentliche Interesse an einer Diskussion der Konsequenzen und Härten, die ein rechtsstaatliches Strafprozessrecht aus Sicht möglicher Opfer haben kann. Zu Gunsten der Beschwerdeführerin war in die Abwägung zudem einzustellen, dass sie sich in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu dem (noch nicht rechtskräftigen) Freispruch äußerte und lediglich wiederholte, was der Öffentlichkeit aufgrund der umfänglichen Berichterstattung zu dem Strafverfahren bereits bekannt war. Die Gerichte haben überdies das vorangegangene Verhalten des Klägers nicht in der gebotenen Weise berücksichtigt. Der Beschwerdeführerin steht ein „Recht auf Gegenschlag“ zu und dabei ist sie nicht auf eine sachliche, am Interview des Klägers orientierte Erwiderung beschränkt, weil auch der Kläger und seine Anwälte sich nicht sachlich, sondern gleichfalls in emotionalisierender Weise äußerten. Der Kläger, der auf diese Weise an die Öffentlichkeit trat, muss eine entsprechende Reaktion der Beschwerdeführerin hinnehmen.


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