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OLG Saarbrücken: ANOM-Chat-Daten können als Beweismittel verwendet werden und unterliegen keinem Beweisverwertungsverbot

OLG Saarbrücken
Beschluss vom 30.12.2022
4 HEs 35/22


Das OLG Saarbrücken hat entschieden, dass ANOM-Chat-Daten als Beweismittel verwendet werden können und keinem Beweisverwertungsverbot unterliegen.

Aus den Entscheidungsgründen:
Die Anordnung der Fortdauer der Untersuchungshaft ist gerechtfertigt. Sowohl die allgemeinen Voraussetzungen für das Fortbestehen der Untersuchungshaft als auch die in § 121 Abs. 1 StPO gesetzlich festgeschriebenen besonderen Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.

1. Der Angeklagte ist der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichts Saarbrücken vom 2. Juli 2022 (Bl. 272 ff. d.A.) zur Last gelegten Taten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge weiterhin dringend verdächtig. Soweit der Haftbefehl vom 2. Juli 2022 das Tatgeschehen rechtlich neben einer Strafbarkeit gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG zugleich als bewaffnetes unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge einordnet (§ 29a Abs. 1 Nr. 2, § 30a Abs. 2 Nr. 2 BtMG), handelt es sich um ein offensichtliches redaktionelles Versehen, das auf Wirksamkeit, Bestand und Fortdauer der Untersuchungshaft keine Auswirkungen hat. Wegen der Einzelheiten der verdachtsbegründenden Umstände wird auf den Haftbefehl sowie die zwischenzeitlich zur Hauptverhandlung zugelassene Anklageschrift vom 21. Oktober 2022 (Bl. 548 ff. d.A.) und das darin niedergelegte wesentliche Ergebnis der Ermittlungen Bezug genommen.

a) Danach ist insbesondere anzunehmen, dass es sich bei dem Angeklagten V. um den Nutzer der Kennung "h." des Krypto-Providers "A." handelt, der hierüber den Handel mit Betäubungsmitteln, hinsichtlich dessen sich ein dringender Verdacht im Übrigen jedenfalls hinsichtlich der Taten zu Ziff. 3. bis 6. des Haftbefehls vom 2. Juli 2022 aus den Ergebnissen der nationalen zunächst verdeckt sowie sodann offen geführten Ermittlungsmaßnahmen (Telekommunikationsüberwachung, Observation, Durchsuchungsmaßnahmen) ergibt, abgewickelt hat. Die überwachte Kommunikation, die den dringenden Tatverdacht für die Nutzung des Kryptodienstes A. durch den Angeklagten unter der Kennung "h." zum Zwecke der Abwicklung des Handels mit Betäubungsmitteln begründet und zur Einleitung des Ermittlungsverfahrens führte, ist nach derzeitigem Stand im Strafverfahren auch verwertbar. Das US-amerikanische Federal Bureau of Investigation (FBI) hat die Kommunikationsinhalte im Zuge gegenseitiger Rechtshilfe von einem nicht näher bezeichneten Mitgliedstaat der Europäischen Union erhalten, in dem sie aufgrund einer gerichtlichen Anordnung über einen Server des Providers A. gesichert worden waren, und stellte sie sodann unter Erteilung einer Genehmigung zur justiziellen Verwertung den Strafverfolgungsbehörden der jeweiligen Länder, hier dem Bundeskriminalamt, zur Verfügung (vgl. Vermerk der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main - Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität - vom 20. Mai 2021, S. 3 = Bl. 5 d.A.). Die Verwertung der auf diese Weise im Ausland außerhalb des vorliegenden Strafverfahrens erhobenen Beweise in dem Strafverfahren gegen den Angeklagten ist vom nationalen Prozessrecht gedeckt. Verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Verwertung in der Hauptverhandlung erhobener Beweise ist § 261 StPO, unabhängig davon, ob diese zuvor im Inland oder auf sonstige Weise - etwa im Wege der Rechtshilfe - erlangt worden sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 - 2 BvR 2500/09 und 857/10, BVerfGE 130, 1 ff. Rn. 120, 137 ff. m.w.N.; BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25). Ausdrückliche Verwendungsbeschränkungen für im Wege der Rechtshilfe aus dem Ausland erlangte Daten sieht das deutsche Recht nicht vor (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25). Soweit gleichsam die dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragenden Wertungen der auch bei grenzüberschreitendem Datenverkehr anwendbaren (vgl. BGH, Beschluss vom 21. November 2012 - 1 StR 310/12, juris) strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen sowohl des § 479 Abs. 2 i.V.m. § 161 Abs. 3 StPO als auch des § 100e Abs. 6 StPO Berücksichtigung zu finden haben (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25 und Rn. 68), schließt dies die Verwendung der vom FBI erlangten Daten und Kommunikationsinhalte im konkreten Fall aufgrund des dringenden Tatverdachts der Begehung von Straftaten des unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG als Katalogtaten im Sinne von § 161 Abs. 3 und § 100e Abs. 6 StPO nicht aus (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 - 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203 f.; vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21, juris Rn. 68 zur Heranziehung des Schutzniveaus aus § 100e Abs. 6 StPO im Fall der Verwertung von im Ausland gesicherter EncroChat-Kommunikation), zumal eine Verwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensführung aufgrund des Inhalts der gesicherten Kommunikation nicht zu besorgen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 68).

b) Der Verwertbarkeit steht auch nicht entgegen, dass die vom Angeklagten genutzte A.-App vom FBI mit dem Ziel entwickelt und dem Markt verdeckt zur Verfügung gestellt worden ist, die über den Server des Providers A. laufende, Ende zu Ende verschlüsselte Kommunikation aufgrund gerichtlicher Anordnung des bislang nicht näher benannten EU-Mitgliedstaates, in dem der Server gelegen ist, zu erheben und mittels eines bei der Entwicklung angehefteten Master-Keys zu entschlüsseln.

aa) Aufgrund des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung (Art. 82 AEUV) lässt ein von den nationalen deutschen Vorschriften abweichendes Verfahren die Verwertbarkeit von im Ausland erhobenen Beweisen grundsätzlich unberührt (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 50 ff., 73 ff. m.w.N.; Schomburg/Lagodny/Hackner, IRG Vor § 68 Rn 11 m.w.N.), und die nationalen deutschen Gerichte sind nicht verpflichtet, die Rechtmäßigkeit von originär im Ausland, mithin nicht aufgrund deutschen Rechtshilfeersuchens durchgeführten Ermittlungsmaßnahmen anhand der Vorschriften des ausländischen Rechts auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 26 ff. m.w.N.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 - 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203, 204). Das Vorliegen eines Beweisverwertungsverbots ist demnach ausschließlich nach nationalem Recht zu bestimmen.

bb) Danach ergibt sich ein Beweisverwertungsverbot vorliegend weder aus rechtshilfespezifischen Gründen noch aus nationalem Verfassungs- oder Prozessrecht oder den Vorgaben der EMRK (vgl. BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 25 ff.). Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die im Ausland erhobenen Beweise unter Verletzung völkerrechtlich verbindlicher und dem Individualrechtsgüterschutz dienender Garantien, wie etwa Art. 3 oder Art. 6 EMRK, oder unter Verstoß gegen die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze i.S.d. ordre public (vgl. § 73 IRG) gewonnen wurden oder die Ermittlungshandlung der Umgehung nationaler Vorschriften diente (vgl. Schomburg/Lagodny/Hackner, IRG Vor § 68 Rn 11 m.w.N). Weder liegt ein Art. 6 Abs. 1 EMRK verletzender und aufgrund dessen ein Verfahrenshindernis begründender Fall polizeilicher Tatprovokation (vgl. dazu etwa EGMR, Urteil vom 23. Oktober 2014 - 54648/09 - juris) vor, weil die Annahme, allein durch Schaffung der Möglichkeit einer abhörsicheren Kommunikation sei der Tatentschluss des Angeklagten zur Begehung der ihm vorgeworfenen Taten hervorgerufen worden, fernliegt, noch begründet der Umstand, dass sich die Datenerhebung gegen sämtliche Nutzer der A.-App ohne Beschränkung auf bestimmte Zielpersonen und ohne Vorliegen eines konkreten Tatverdachts richtete, mithin Verdachtsmomente erst generieren sollte, einen elementaren Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze. Das Inverkehrbringen der App diente nicht dazu, die Persönlichkeit der Nutzer durch Eindringen in deren Privat- oder Intimsphäre auszuspähen. Vielmehr war absehbar, dass die durch die Nutzung ermöglichte, vermeintlich abhörsichere Kommunikation, neben der eine normale Nutzung des Mobilfunkgerätes zum Telefonieren und mit Zugang zum Internet nicht mehr möglich war, nahezu ausschließlich im Bereich organisierter Kriminalität eingesetzt werden würde (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 - 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203, 204; zur Ablehnung eines Verstoßes gegen den Grundsatz des ordre public bei EncroChat-Daten vgl. OLG Brandenburg, Beschluss vom 3. August 2021 - 2 Ws 102/21 (S); 2 Ws 96/21 - juris; Hanseatisches OLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 - 1 Ws 2/21 -, juris, sowie dem Grunde nach auch BGH, Beschluss vom 2. März 2022 - 5 StR 457/21 -, juris Rn. 57). Ebenso wenig haben die deutschen Ermittlungsbehörden durch ein planmäßiges Vorgehen zur Umgehung nationaler Vorschriften zur Kommunikationsüberwachung an der Datengewinnung mitgewirkt (vgl. OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 22. November 2021 - 1 HEs 427/21 -, StraFo 2022, 203, 204).


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

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