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EuGH-Generalanwalt: Offensichtliche Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit kann Versagung der Vollstreckbarerklärung in anderem EU-Mitgliedsstaat zur Folge haben

EuGH-Generalanwalt
Schlussanträge vom 08.02.2024
C-633/22
Real Madrid Club de Fútbol u.a. gegen Société Éditrice du Monde SA u.a.


Der EuGH-Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass die offensichtliche Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit die Versagung der Vollstreckbarerklärung in anderem EU-Mitgliedsstaat zur Folge haben kann.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Erster Generalanwalt Szpunar: Eine offensichtliche Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit kann einen Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung darstellen

Eine Verurteilung zu Schadensersatz, dessen Betrag offensichtlich überhöht sei, führe zu einer abschreckenden Wirkung, die sowohl die journalistische Freiheit als auch die Informationsfreiheit beeinträchtige.

Vor nahezu zehn Jahren wurden die Zeitung Le Monde und einer ihrer Journalisten in Spanien wegen der 2006 erfolgten Veröffentlichung eines Artikels verurteilt, in dem über Verbindungen zwischen dem Fußballverein Real Madrid und Dr. Fuentes berichtet wurde, dem Drahtzieher eines Dopingrings im Radsport. Mit der Entscheidung, dass der Artikel verleumderisch sei und dem Ruf des Vereins schade, ordnete die spanische Justiz eine Strafzahlung in Höhe von 390 000 Euro gegen die Herausgeberin der Zeitung Le Monde und in Höhe von 33 000 gesamtschuldnerisch gegen Letztere und ihren Journalisten an.

Real Madrid beantragte die Vollstreckung dieser spanischen Entscheidungen in Frankreich. 2020 lehnte das Berufungsgericht Paris den Antrag aber unter Verweis auf die Ordre-public-Klausel ab: Die Verurteilung entfalte unter Verletzung der Presse- und der Meinungsäußerungsfreiheit eine abschreckende Wirkung auf Journalisten und Presseorgane in Bezug auf die Beteiligung an der öffentlichen Erörterung für die Allgemeinheit interessanter Themen.

Der mit der Rechtssache befasste französische Kassationsgerichtshof möchte vom Gerichtshof wissen, ob die von der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantierte Pressefreiheit in der Unionsrechtsordnung ein Grundprinzip darstellt, deren Verletzung einen Rückgriff auf die Ordre-Public-Klausel rechtfertigen kann.

Der Erste Generalanwalt Maciej Szpunar geht in seinen Schlussanträgen davon aus, dass ein Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung einer Entscheidung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beantragt wird, diese Vollstreckung versagen oder aufheben müsse, wenn sie zu einer offensichtlichen Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit führen würde.

Bei einer Verurteilung zu kompensatorischem Schadensersatz ist der Generalanwalt der Auffassung, dass die Gefahr einer Abschreckungswirkung, die über die Situation der unmittelbar betroffenen Person hinausgehe, die Versagung der Vollstreckbarerklärung rechtfertige, da sie eine offensichtliche und unverhältnismäßige Verletzung der Pressefreiheit in dem in Rede stehenden Mitgliedstaat darstelle. Insoweit stellt er klar, dass der Gesamtbetrag, den eine natürliche Person zu zahlen habe, als offensichtlich überhöht anzusehen sei, wenn diese Person jahrelang kämpfen müsste, um ihn vollständig zu begleichen, oder wenn der Betrag mehreren Dutzend Standardmindestlöhnen im betreffenden Mitgliedstaat entspreche. Was juristische Personen angehe, dürfe die Höhe des Presseunternehmen auferlegten Schadensersatzes nicht geeignet sein, deren finanzielles Gleichgewicht zu gefährden.

Unter Berücksichtigung ihrer Bedeutung in einer demokratischen Gesellschaft und in einem Rechtsstaat stelle die Pressefreiheit einen wesentlichen Grundsatz der Unionsrechtsordnung dar, dessen offensichtliche Verletzung einen Grund für die Versagung der Vollstreckbarerklärung bilden könne. Ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung sei nur in Ausnahmefällen möglich, und zwar dann, wenn bei einer Verurteilung zu kompensatorischen Schadensersatz die Vollstreckung der Entscheidung geeignet sei, im betroffenen Mitgliedstaat eine abschreckende Wirkung auf die Ausübung dieser Freiheit zu entfalten.


Ergebnis der Schlussanträge:
Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen der Cour de Cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) wie folgt zu beantworten:

Art. 45 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 34 Nr. 1 und Art. 45 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sowie Art. 11 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass

ein Mitgliedstaat, in dem die Vollstreckung einer in einem anderen Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung beantragt wird, die sich auf eine Verurteilung eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, und eines Journalisten wegen Schädigung des Rufs eines Sportvereins und eines Mitglieds seines medizinischen Teams durch eine in dieser Zeitung veröffentlichte Information bezieht, eine Vollstreckbarerklärung der Entscheidung versagen oder aufheben muss, wenn deren Vollstreckung zu einer offensichtlichen Verletzung der in Art. 11 der Charta der Grundrechte garantierten Freiheit der Meinungsäußerung führen würde.

Eine solche Verletzung ist zu bejahen, wenn die Vollstreckung der Entscheidung im Vollstreckungsmitgliedstaat eine potenziell abschreckende Wirkung in Bezug auf die Beteiligung sowohl der von der Verurteilung betroffenen Personen als auch anderer Presseunternehmen und Journalisten an der Debatte über ein Thema von allgemeinem Interesse hat. Eine potenziell abschreckende Wirkung liegt vor, wenn der Gesamtbetrag, dessen Zahlung gefordert wird, in Anbetracht der Art und der wirtschaftlichen Lage der betroffenen Person offensichtlich überhöht ist. Im Fall eines Journalisten liegt eine potenziell abschreckende Wirkung insbesondere dann vor, wenn dieser Betrag mehreren Dutzend Standardmindestlöhnen im Vollstreckungsmitgliedstaat entspricht. Im Fall eines Unternehmens, das eine Zeitung herausgibt, ist die potenziell abschreckende Wirkung so zu verstehen, dass das finanzielle Gleichgewicht dieser Zeitung offensichtlich gefährdet ist. Das Gericht des Vollstreckungsmitgliedstaats darf die Schwere des Verschuldens und das Ausmaß des Schadens nur berücksichtigen, um festzustellen, ob der Gesamtbetrag einer Verurteilung, obwohl er auf den ersten Blick offensichtlich überhöht scheint, angemessenen ist, um den Auswirkungen der verleumderischen Äußerungen entgegenzuwirken.

Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier: