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OLG Hamburg: Erteilung von Rezepten für verschreibungspflichtige Arzneimittel über das Internet ohne vorherigen persönlichen Kontakt von Arzt und Patient unzulässig

OLG Hamburg
Beschluss vom 15.08.2023
5 U 93/22


Das OLG Hamburg hat im Rahmen eines Hinweisbeschlusses ausgeführt, dass die Erteilung von Rezepten für verschreibungspflichtige Arzneimittel über das Internet ohne vorherigen persönlichen Kontakt von Arzt und Patient unzulässig ist.

Aus dem Hinweisbeschluss:
Im Streitfall besteht - wie vom Landgericht zu Recht angenommen - der antragsgegenständliche Unterlassungsanspruch aus §§ 8, 3a UWG i.V.m. § 7 Abs. 3 der Berufsordnung für Ärzte in Hamburg.

aa. Die antragsgegenständliche Erteilung von Rezepten für verschreibungspflichtige Arzneimittel durch Ärzte, die den Patienten zuvor nicht behandelt haben, verstößt - wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat - gegen ärztliche Berufspflichten, wie sie in § 7 Abs. 3 der Berufsordnung der Ärzte in Hamburg niedergelegt sind. Nach § 7 Abs. 3 der Berufsordnung der Ärzte in Hamburg beraten und behandeln Ärztinnen und Ärzte Patientinnen und Patienten im persönlichen Kontakt. Sie können dabei Kommunikationsmedien unterstützend einsetzen. Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird und die Patientin oder der Patient auch über die Besonderheiten der ausschließlichen Beratung und Behandlung über Kommunikationsmedien aufgeklärt wird. Danach verstößt die hier gegenständliche Erteilung eines „Folgerezeptes“ für das verschreibungspflichtige Medikament „C.“ gegen die ärztliche Sorgfalt, weil nicht sichergestellt ist, dass der Zweck der Verschreibungspflicht gewahrt wird. Insoweit kann bei einem Folgerezept zwar auch eine telefonische Rezeptanforderung ausreichen. Jedoch ist es hierbei notwendig, dass der das Rezept ausstellende Arzt den Patienten bereits zuvor behandelt hat und daher über seinen Gesundheitszustand und die Notwendigkeit der Verordnung dieses Arzneimittels orientiert ist. Der Arzt muss auch bei Folgeverordnungen in gewissen Abständen bestimmte Untersuchungen des Patienten veranlassen, wie etwa beim antragsgegenständlichen Medikament „C.“ Blutdruckmessungen. Gegen diese zutreffenden landgerichtlichen Wertungen bringt die Berufung der Beklagten spezifiziert nichts vor.

bb. Es liegt eine Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG vor, da sich in der vorgenannten Konstellation der Arzt nicht allein von medizinischen Erwägungen mit Blick auf das Patientenwohl, sondern von sachfremden wirtschaftlichen Eigeninteressen leiten lässt. Regelungen, die dieser Gefahr vorbeugen, sind Marktverhaltensregelungen im Interesse der Verbraucher (Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 3a Rn. 1.132 m.w.N.)

cc. Soweit die Beklagte mit ihrer Berufung geltend macht, sie könne nicht gegen ärztliche Berufspflichten verstoßen, weil sie den Arztberuf nicht ausübe und lediglich eine Softwareplattform betreibe, so steht dies ihrer Passivlegitimation nicht entgegen. Das Landgericht hat zu Recht angenommen, dass die Beklagte im Hinblick auf den wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsanspruch unmittelbar verantwortlich ist, indem sie in Kenntnis des Sachverhalts das antragsgegenständliche Geschäftsmodell über ihre Internetpräsenz angeboten und verbreitet hat. Auch wer selbst nicht Normadressat ist, aber gesetzesunterworfene Dritte dazu anstiftet oder sie dabei unterstützt, gegen Marktverhaltensregelungen i.S.v. § 3a UWG zu verstoßen, um damit den Absatz seines eigenen Unternehmens zu fördern (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 UWG), handelt unlauter i.S.v. § 3a UWG (Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 3a Rn. 1.50 m.w.N.). Insoweit ist Vorsatz erforderlich (Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 3a Rn. 1.50 m.w.N.). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Beklagten ist zumindest bedingter Vorsatz anzulasten.

d. Entgegen dem Einwand der Berufung liegt in der antragsgegenständlichen Konstellation auch ein Verstoß gegen das Werbeverbot für Fernbehandlungen nach § 9 HWG vor und es besteht ein Unterlassungsanspruch gem. §§ 8, 3a UWG, 9 HWG.

aa. Die Regelung des § 9 HWG ist dazu bestimmt, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln i.S.v. § 3a UWG (Senat GRUR-RS 2020, 37127 Rn. 34 - Online-Erkältungsdiagnose; BGH GRUR 2022, 399 Rn. 20 – Werbung für Fernbehandlung).

bb. Nach § 9 Satz 1 HWG ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden unzulässig, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung). Gem. § 9 Satz 2 HWG ist Satz 1 nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.

Dass die Ausstellung des Folgerezepts in der antragsgegenständlichen Konstellation eine Fernbehandlung i.S.v. § 9 Satz 1 HWG darstellt, nimmt auch die Beklagte nicht in Abrede. Eine persönliche Wahrnehmung des Patienten durch den behandelnden Arzt erfolgt nicht, weil eine solche nur dann vorliegt, wenn die bei gleichzeitiger physischer Präsenz von Arzt und Patient in einem Raum möglichen ärztlichen Untersuchungsmethoden angewandt werden können (vgl. BGH GRUR 2022, 399 Rn. 29 – Werbung für Fernbehandlung). Dies ist unstreitig vorliegend nicht der Fall.

cc. Entgegen der Ansicht der Beklagten greift im Streitfall der Ausnahmetatbestand von § 9 Satz 2 HWG nicht ein.

Dass in der antragsgegenständlichen Konstellation die Ausstellung eines Folgerezepts für „C.“ dem allgemeinen fachlichen Standard i.S.v. § 630a BGB entspricht, hat die insoweit darlegungs- und beweisbelastete Beklagte auch im Berufungsverfahren schon nicht dargetan (vgl. zur Beweislast: BGH GRUR 2022, 399 Rn. 65 - Werbung für Fernbehandlung; OLG Köln GRUR 2022, 1353 Rn. 41ff.).

Soweit die Beklagte geltend macht, sie habe das Mittel „C.“ aus dem Programm genommen, so führt diese Änderung der tatsächlichen Verhältnisse entgegen der Ansicht der Beklagten nicht zu einem Wegfall der Wiederholungsgefahr. Zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr genügen weder der bloße Wegfall der Störung noch die Zusage des Verletzers, von Wiederholungen künftig Abstand zu nehmen (Bornkamm in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 8 Rn. 1.49). Die Wiederholungsgefahr wird auch nicht dadurch beseitigt, dass der Gläubiger - wie hier - bereits eine gleichlautende einstweilige Verfügung erwirkt hat, solange der Schuldner nicht eine durch Vertragsstrafe gesicherte Unterlassungserklärung oder eine Abschlusserklärung abgegeben hat (Bornkamm in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 8 Rn. 1.49). Generell gilt, dass eine nur tatsächliche Veränderung der Verhältnisse die Wiederholungsgefahr nicht berührt, solange nicht auch jede Wahrscheinlichkeit für eine Aufnahme des unzulässigen Verhaltens durch den Verletzer beseitigt ist (Bornkamm in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 8 Rn. 1.51). Demgemäß ist der Umstand, dass die Beklagte - wie sie unwidersprochen behauptet - inzwischen „C.“ aus dem Programm genommen habe, nicht relevant, da die Beklagte einen entsprechenden Rezept-Service - wie das Landgericht zu Recht angenommen hat - jederzeit wieder anbieten könnte. Antragsgegenständlich ist das verschreibungspflichtige Medikament „C.“, so dass die Beklagte insoweit ein Handeln nach „allgemein anerkannten fachlichen Standards“ darlegen und beweisen muss, woran es fehlt. Die Ausführungen der Berufung zu „Alltagskrankheiten“ sind für den vorliegenden Rechtsstreit ohne Relevanz.

e. Offenbleiben kann, ob nach dem Vorgenannten auch ein Verstoß gegen die unternehmerische Sorgfalt i.S.v. § 3 Abs. 2 UWG vorliegt und sich auch aus diesem Gesichtspunkt ein klägerischer Unterlassungsanspruch ergibt.

Nach § 3 Abs. 2 UWG sind geschäftliche Handlungen, die sich an Verbraucher richten oder diese erreichen, unlauter, wenn sie nicht der unternehmerischen Sorgfalt entsprechen und dazu geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten des Verbrauchers wesentlich zu beeinflussen. Im Hinblick auf den vorliegenden Streitgegenstand liegt - wie ausgeführt - sowohl ein Verstoß gegen ärztliche Berufspflichten als auch gegen § 9 HWG vor. Von der Beklagten als Unternehmerin wird i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 9 UWG erwartet, dass sie einen bestimmten „Standard an Fachkenntnissen und Sorgfalt“ in ihrem „Tätigkeitsbereich gegenüber Verbrauchern“ einhält (vgl. Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 3 Rn. 3.21). Bezogen auf den hiesigen Streitgegenstand hat die Beklagte der ihr obliegenden unternehmerischen Sorgfalt nicht genügt.

f. Soweit die Beklagte einwendet, sie treffe keine Verantwortung (mehr), weil sie die streitgegenständlichen Internetseiten bereits im Dezember 2021 auf eine pakistanische Firma übertragen habe, so bleibt auch dieser Einwand ohne Erfolg. Es handelt sich um eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse, die nicht zu einem Wegfall der durch den Verstoß im November 2021 gegenüber der Beklagten begründeten Wiederholungsgefahr führt. Denn es ist nicht auch jede Wahrscheinlichkeit für eine (Wieder-)Aufnahme des unzulässigen Verhaltens durch die Beklagte beseitigt worden. Entgegen der Ansicht der Beklagten kommt es nicht darauf an, ob Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Beklagte den gegenständlichen Rezept-Service in Zukunft wiederaufnehmen wird. Vielmehr muss jede Wahrscheinlichkeit für eine Aufnahme des unzulässigen Verhaltens durch den Verletzer beseitigt worden sein (Bornkamm in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 8 Rn. 1.51). Dies lässt sich vorliegend - ohne Abgabe einer hinreichend strafbewehrten Unterlassungsverpflichtungserklärung bzw. ohne Abgabe einer Abschlusserklärung - nicht feststellen. Demnach fehlt es auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis des Klägers.

g. Der Abmahnkostenerstattungsanspruch ergibt sich - wie das Landgericht zu Recht angenommen hat - aus § 13 Abs. 3 UWG und der darauf bezogene Zinsanspruch aus §§ 286, 288, 291 BGB. Hiergegen bringt die Berufung der Beklagten auch spezifiziert nichts vor.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

Volltext BGH: Wettbewerbswidriger Verstoß gegen § 9 HWG durch Werbung für digitalen Arztbesuch per App wenn nach fachlichen Standards persönlicher Kontakt erforderlich

BGH
Urteil vom 09.12.2021
I ZR 146/20
Werbung für Fernbehandlung
UWG §§ 3a, 8 Abs. 1 Satz 1; HWG § 9; BGB § 630a Abs. 2; MBO-Ä § 7 Abs. 4


Wir hatten bereits in dem Beitrag BGH: Wettbewerbswidriger Verstoß gegen § 9 HWG durch Werbung für digitalen Arztbesuch per App bei Schweizer Ärzten wenn persönlicher Kontakt nach fachlichen Standards erforderlich ist über die Entscheidung berichtet.

Leitsätze des BGH:

a) Der für die Zulässigkeit der Werbung für eine ärztliche Fernbehandlung maßgebliche Begriff der "allgemein anerkannten fachlichen Standards" im Sinne von § 9 Satz 2 HWG ist unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff in § 630a Abs. 2 BGB
und die dazu mit Blick auf die vom Arzt zu erfüllenden Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag entwickelten Grundsätze auszulegen.

b) Die für einen geltend gemachten Verletzungsunterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr erstreckt sich im Ausgangspunkt auf mit der konkreten Verletzungshandlung identische Verletzungshandlungen. Im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes besteht eine Wiederholungsgefahr darüber hinausgehend für alle im Kern gleichartigen Verletzungshandlungen, in denen das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt. In dem Umfang, in dem der geltend gemachte Unterlassungsanspruch über eine zulässige Verallgemeinerung hinausgeht, fehlt es an der erforderlichen Wiederholungsgefahr. Der Unterlassungsanspruch ist in diesem Umfang unbegründet und der Klageantrag insoweit abzuweisen, sofern auch greifbare Anhaltspunkte für eine Erstbegehungsgefahr fehlen.

BGH, Urteil vom 9. Dezember 2021 - I ZR 146/20 - OLG München - LG München I

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BGH: Wettbewerbswidriger Verstoß gegen § 9 HWG durch Werbung für digitalen Arztbesuch per App bei Schweizer Ärzten wenn persönlicher Kontakt nach fachlichen Standards erforderlich ist

BGH
Urteil vom 09.12.2021
I ZR 146/20
Werbung für Fernbehandlung


Der BGH hat entschieden, dass ein wettbewerbswidriger Verstoß gegen die Marktverhaltensregel § 9 HWG durch Werbung für digitale Arztbesuche per App bei Schweizer Ärzten vorliegt, wenn ein persönlicher Kontakt nach fachlichen Standards erforderlich ist.

Die Pressemitteilung des BGH:
Bundesgerichtshof zur Werbung für ärztliche Fernbehandlungen

Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, unter welchen Voraussetzungen für ärztliche Fernbehandlungen geworben werden darf.

Sachverhalt:

Die Klägerin ist die Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs. Die Beklagte warb auf ihrer Internetseite mit der Aussage "Erhalte erstmals in Deutschland Diagnosen, Therapieempfehlung und Krankschreibung per App." für die von einer privaten Krankenversicherung angebotene Leistung eines "digitalen Arztbesuchs" mittels einer App bei in der Schweiz ansässigen Ärzten. Die Klägerin sieht in dieser Werbung einen Verstoß gegen das Verbot der Werbung für Fernbehandlungen nach § 9 HWG. Sie nimmt die Beklagte auf Unterlassung in Anspruch.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte Berufung eingelegt. Im Laufe des Berufungsverfahrens ist § 9 HWG mit Wirkung zum 19. Dezember 2019 durch einen Satz 2 ergänzt worden. Danach gilt das nun in Satz 1 geregelte Werbeverbot für Fernbehandlungen nicht, wenn für die Behandlung nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer Revision hat die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiterverfolgt.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die beanstandete Werbung gegen § 9 HWG in seiner alten und in seiner neuen Fassung verstößt. Da es sich bei dieser Vorschrift um eine - dem Gesundheitsschutz dienende - Marktverhaltensregelung im Sinne von § 3a UWG handelt, ist die Beklagte nach § 8 Abs. 1 Satz 1 UWG zur Unterlassung der Werbung verpflichtet.

Die Beklagte hat unter Verstoß gegen § 9 HWG in seiner alten Fassung für die Erkennung und Behandlung von Krankheiten geworben, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen beruht. Eine eigene Wahrnehmung im Sinne dieser Vorschrift setzt voraus, dass der Arzt den Patienten nicht nur sehen und hören, sondern auch - etwa durch Abtasten, Abklopfen oder Abhören oder mit medizinisch-technischen Hilfsmitteln wie beispielsweise Ultraschall - untersuchen kann. Das erfordert die gleichzeitige physische Präsenz von Arzt und Patient und ist im Rahmen einer Videosprechstunde nicht möglich.

Nach § 9 Satz 2 HWG in seiner neuen Fassung ist das in Satz 1 geregelte Verbot zwar nicht auf die Werbung für Fernbehandlungen anzuwenden, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen. Zu diesen Kommunikationsmedien gehören auch Apps. Das gilt aber nur, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Mit den allgemein anerkannten fachlichen Standards sind - entgegen der Ansicht der Beklagten - nicht die Regelungen des für den behandelnden Arzt geltenden Berufsrechts gemeint. Es kommt daher nicht darauf an, ob die beworbene Fernbehandlung den Ärzten in der Schweiz schon seit Jahren erlaubt ist. Der Begriff der allgemein anerkannten fachlichen Standards ist vielmehr unter Rückgriff auf den entsprechenden Begriff in § 630a Abs. 2 BGB, der die Pflichten aus einem medizinischen Behandlungsvertrag regelt, und die dazu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auszulegen. Danach können sich solche Standards auch erst im Laufe der Zeit entwickeln und etwa aus den Leitlinien medizinischer Fachgesellschaften oder den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses gemäß §§ 92, 136 SGB V ergeben. Die Beklagte hat für eine umfassende, nicht auf bestimmte Krankheiten oder Beschwerden beschränkte ärztliche Primärversorgung (Diagnose, Therapieempfehlung, Krankschreibung) im Wege der Fernbehandlung geworben. Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, dass eine solche umfassende Fernbehandlung den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemeinen fachlichen Standards entspricht. Da die Beklagte dies auch nicht behauptet hatte und insoweit kein weiterer Sachvortrag zu erwarten war, konnte der Bundesgerichtshof abschließend entscheiden, dass die beanstandete Werbung unzulässig ist.

Vorinstanzen:

LG München I - Urteil vom 16. Juli 2019 - 33 O 4026/18

OLG München - Urteil vom 9. Juli 2020 - 6 U 5180/19

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 3 Abs. 1 UWG

Unlautere geschäftliche Handlungen sind unzulässig.

§ 3a UWG

Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.

§ 8 Abs. 1 Satz 1 UWG

Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden.

§ 9 HWG in der bis zum 18. Dezember 2019 geltenden Fassung

Unzulässig ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung).

§ 9 HWG seit dem 19. Dezember 2019 geltenden Fassung

Unzulässig ist eine Werbung für die Erkennung oder Behandlung von Krankheiten, Leiden, Körperschäden oder krankhaften Beschwerden, die nicht auf eigener Wahrnehmung an dem zu behandelnden Menschen oder Tier beruht (Fernbehandlung). Satz 1 ist nicht anzuwenden auf die Werbung für Fernbehandlungen, die unter Verwendung von Kommunikationsmedien erfolgen, wenn nach allgemein anerkannten fachlichen Standards ein persönlicher ärztlicher Kontakt mit dem zu behandelnden Menschen nicht erforderlich ist.

§ 630a BGB

(1) Durch den Behandlungsvertrag wird derjenige, welcher die medizinische Behandlung eines Patienten zusagt (Behandelnder), zur Leistung der versprochenen Behandlung, der andere Teil (Patient) zur Gewährung der vereinbarten Vergütung verpflichtet, soweit nicht ein Dritter zur Zahlung verpflichtet ist.

(2) Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen, soweit nicht etwas anderes vereinbart ist.