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Bundestag nimmt den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes - NetzDG an

Der Bundestag hat den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes - NetzDG in der in der vom Rechtsausschuss geänderten Fassung angenommen.

BVerfG: Berliner Mietendeckel mangels Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin verfassungswidrig - Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin nichtig

BVerfG
Beschluss vom 25.03.2021
2 BvF 1/20, 2 BvL 5/20, 2 BvL 4/20


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Berliner Mietendeckel mangels Gesetzgebungskompetenz des Landes Berlin verfassungswidrig ist.

Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts:

1. Das Grundgesetz enthält – von der Ausnahme des Art. 109 Abs. 4 GG abgesehen – eine vollständige Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten entweder auf den Bund oder die Länder. Doppelzuständigkeiten sind den Kompetenznormen fremd und wären mit ihrer Abgrenzungsfunktion unvereinbar. Das Grundgesetz grenzt die Gesetzgebungskompetenzen insbesondere mit Hilfe der in den Art. 73 und Art. 74 GG enthaltenen Kataloge durchweg alternativ voneinander ab.

2. Regelungen zur Miethöhe für frei finanzierten Wohnraum, der auf dem freien Wohnungsmarkt angeboten werden kann (ungebundener Wohnraum), fallen als Teil des sozialen Mietrechts in die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für das bürgerliche Recht im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

3. Mit den §§ 556 bis 561 BGB hat der Bundesgesetzgeber von der konkurrierenden Zuständigkeit für das Mietpreisrecht als Teil des bürgerlichen Rechts abschließend Gebrauch gemacht.


Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin („Berliner Mietendeckel“) nichtig

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts das Gesetz zur Mietenbegrenzung im Wohnungswesen in Berlin (MietenWoG Bln) für mit dem Grundgesetz unvereinbar und deshalb nichtig erklärt.

Regelungen zur Miethöhe für frei finanzierten Wohnraum, der auf dem freien Wohnungsmarkt angeboten werden kann (ungebundener Wohnraum), fallen in die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit. Die Länder sind nur zur Gesetzgebung befugt, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz keinen abschließenden Gebrauch gemacht hat (Art. 70, Art. 72 Abs. 1 GG). Da der Bundesgesetzgeber das Mietpreisrecht in den §§ 556 bis 561 BGB abschließend geregelt hat, ist aufgrund der Sperrwirkung des Bundesrechts für die Gesetzgebungsbefugnis der Länder kein Raum. Da das MietenWoG Bln im Kern ebenfalls die Miethöhe für ungebundenen Wohnraum regelt, ist es insgesamt nichtig.

Sachverhalt:

Das MietenWoG Bln trat – mit Ausnahme des § 5 MietenWoG Bln – am 23. Februar 2020 in Kraft. Der „Berliner Mietendeckel“ besteht für die von seinem Anwendungsbereich erfassten Wohnungen im Wesentlichen aus drei Regelungskomplexen: einem Mietenstopp, der eine Miete verbietet, die die am 18. Juni 2019 (Stichtag) wirksam vereinbarte Miete überschreitet (vgl. §§ 1, 3 MietenWoG Bln), einer lageunabhängigen Mietobergrenze bei Wiedervermietungen (vgl. §§ 1, 4 MietenWoG Bln), wobei gebäude- und ausstattungsbezogene Zuschläge sowie bestimmte Modernisierungsumlagen erlaubt sind (vergleiche §§ 1, 4 in Verbindung mit §§ 6, 7 MietenWoG), sowie einem gesetzlichen Verbot überhöhter Mieten (vergleiche §§ 1, 5 MietenWoG Bln). Auf Neubauten, die ab dem 1. Januar 2014 erstmalig bezugsfertig wurden, finden die Vorschriften des MietenWoG Bln dagegen keine Anwendung.

Die Antragsteller im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (2 BvF 1/20) – 284 Abgeordnete des Deutschen Bundestages der Fraktionen von CDU/CSU und FDP – halten das MietenWoG Bln für unvereinbar mit der grundgesetzlichen Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen (Art. 70 ff. GG). Die beiden Richtervorlagen (2 BvL 4/20 und 2 BvL 5/20) betreffen die Vereinbarkeit von § 3 MietenWoG Bln mit dem Grundgesetz.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Das MietenWoG Bln ist mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit Art. 72 Abs. 1 GG unvereinbar und nichtig.

1. Das Grundgesetz geht von einer in aller Regel abschließenden Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern aus. Abgrenzung und Inhalt der Gesetzgebungsbefugnisse von Bund und Ländern richten sich dabei ausschließlich nach Art. 70 ff. GG. Die Gesetzgebungskompetenzen werden insbesondere mittels der Kataloge der Art. 73 und Art. 74 GG durchweg alternativ voneinander abgegrenzt. Doppelzuständigkeiten sind dem Grundgesetz in der Regel fremd. Der Bund hat demnach das Recht zur Gesetzgebung, soweit das Grundgesetz ihm dieses ausdrücklich zuweist. Der Kompetenzbereich der Länder wird daher grundsätzlich durch die Reichweite der Bundeskompetenzen bestimmt, nicht umgekehrt. Eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder kennt das Grundgesetz nicht. Öffnungsklauseln in Bundesgesetzen sind zwar zulässig, gewähren den Ländern aber keine über die Öffnung hinausgehenden Spielräume.

2. Die konkurrierende Gesetzgebung regelt das Grundgesetz im Wesentlichen in den Art. 72 und Art. 74 sowie Art. 105 GG abschließend. Macht der Bund von der konkurrierenden Gesetzgebung Gebrauch, verlieren die Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG das Recht zur Gesetzgebung in dem Zeitpunkt („solange“) und in dem Umfang („soweit“), in dem der Bund die Gesetzgebungskompetenz zulässigerweise in Anspruch nimmt (sogenannte Sperrwirkung). Soweit die Sperrwirkung reicht, entfällt die Gesetzgebungskompetenz der Länder. Sie verhindert für die Zukunft den Erlass neuer Landesgesetze und entzieht in der Vergangenheit erlassenen Landesgesetzen die Kompetenzgrundlage, sodass sie nichtig sind beziehungsweise werden. Die Sperrwirkung setzt voraus, dass bundes- und landesgesetzliche Regelung denselben Gegenstand betreffen. In sachlich-inhaltlicher Hinsicht reicht sie so weit, wie der Bundesgesetzgeber eine erschöpfende, also lückenlose und abschließende Regelung getroffen hat beziehungsweise treffen wollte.

3. Regelungen zur Miethöhe für ungebundenen Wohnraum fallen als Teil des sozialen Mietrechts in die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit für das bürgerliche Recht im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG.

Nach dem durch Staatspraxis und Regelungstradition seit nunmehr 150 Jahren geprägten Rechtsverständnis umfasst das bürgerliche Recht die Gesamtheit aller Normen, die herkömmlicherweise dem Zivilrecht zugerechnet werden. Entscheidend ist, ob durch eine Vorschrift Privatrechtsverhältnisse geregelt werden, also die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten und die sich aus ihnen ergebenden Rechte und Pflichten. Das Recht der Mietverhältnisse ist seit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1. Januar 1900 in den §§ 535 ff. BGB geregelt und – ungeachtet zahlreicher Änderungen – ein essentieller Bestandteil des bürgerlichen Rechts. Das gilt auch für die Mietverhältnisse über Wohnungen (§ 549 BGB). Der Mietvertrag ist das Ergebnis privatautonomer Entscheidungen der Vertragsparteien. Das gilt selbst dann, wenn die privatautonom begründeten Rechte und Pflichten durch den Gesetzgeber näher ausgestaltet oder begrenzt werden.

4. Mit den §§ 556 bis 561 BGB hat der Bundesgesetzgeber von der konkurrierenden Zuständigkeit für das Mietpreisrecht als Teil des bürgerlichen Rechts abschließend Gebrauch gemacht.

Schon Regelungsintensität und Regelungsdichte der bundesgesetzlichen Vorschriften legen nahe, dass es sich bei den §§ 556 ff. BGB um eine umfassende und abschließende Regelung handelt. Die §§ 556 ff. BGB enthalten zudem keine Regelungsvorbehalte, Öffnungsklauseln oder Ermächtigungsvorschriften, die den Ländern den Erlass eigener oder abweichender mietpreisrechtlicher Vorschriften ermöglichen würden. Das ausdifferenzierte Regelungssystem und der Zusammenhang mit dem Kündigungsschutzrecht machen vielmehr deutlich, dass der Bundesgesetzgeber eine abschließende Regelung treffen wollte. Das wird durch die in § 556d Abs. 2 BGB normierte Verordnungsermächtigung nicht in Frage gestellt. Die Länder führen insoweit lediglich eine Regelung aus, die der Bund ausweislich Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG nach Inhalt, Zweck und Ausmaß inhaltlich weitgehend determiniert hat; eine eigenständige Regelungsbefugnis ist damit nicht verbunden.

Seit dem Mietrechtsreformgesetz vom 9. Juni 2001 hat der Bundesgesetzgeber – vom Bundesverfassungsgericht unbeanstandet – Regelungen der Miethöhe allein auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG gestützt. Mit dem Mietrechtsnovellierungsgesetz vom 21. April 2015 wurde zudem die in den §§ 556d ff. BGB geregelte Mietpreisbremse erstmals in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen. Der Begründung des Gesetzentwurfs lässt sich eine umfassende Abwägung aller berührten Belange entnehmen, und damit das Ziel eines abschließenden Interessenausgleichs zwischen den Mietvertragsparteien, der in der Folgezeit mehrfach nachjustiert wurde: Das Mietrechtsanpassungsgesetz vom 18. Dezember 2018 sollte verhindern, dass Mieter ihre Wohnungen aufgrund von Modernisierungen verlassen müssen. Das Gesetz zur Verlängerung des Betrachtungszeitraums für die ortsübliche Vergleichsmiete vom 21. Dezember 2019 intendierte eine moderate Modifikation der „ortsüblichen Vergleichsmiete“ des § 558 Abs. 2 Satz 1 BGB, namentlich die Verlängerung des Betrachtungszeitraums von vier auf sechs Jahre. Am 19. März 2020 beschloss der Bundestag schließlich das Gesetz zur Verlängerung und Verbesserung der Regelungen über die zulässige Miethöhe bei Mietbeginn, mit dem den Ländern die Möglichkeit eingeräumt wurde, die Mietpreisbremse für einen klar umrissenen Zeitraum weiter anzuwenden.

Spätestens mit dem Mietrechtsnovellierungsgesetz hat der Bund die Bemessung der höchstens zulässigen Miete für ungebundenen Wohnraum abschließend geregelt. In den vergangenen sechs Jahren hat er mit den vier genannten, teils umfangreichen Gesetzen auf die sich verschärfende Wohnungssituation in den Ballungsgebieten reagiert und versucht, mit detaillierten Regelungen einen Ausgleich zwischen den grundrechtlich geschützten Interessen der Vermieter und der Mieter zu gewährleisten und hierdurch die Mietpreisentwicklung in angespannten Wohnungsmärkten zu dämpfen.

Da der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Kompetenz jedenfalls im Hinblick auf die Festlegung der höchstzulässigen Miete bei ungebundenem Wohnraum abschließend Gebrauch gemacht hat, sind die Länder von Regelungen der Miethöhe in diesem Bereich ausgeschlossen (Art. 72 Abs. 1 GG).

5. Der „Berliner Mietendeckel“ und die bundesgesetzliche Mietpreisbremse regeln im Wesentlichen denselben Gegenstand, nämlich den Schutz des Mieters vor überhöhten Mieten für ungebundenen Wohnraum. Das MietenWoG Bln verengt dabei allerdings die durch die bundesrechtlichen Regelungen belassenen Spielräume der Parteien des Mietvertrags und führt ein paralleles Mietpreisrecht auf Landesebene mit statischen und marktunabhängigen Festlegungen ein; es statuiert gesetzliche Verbote im Sinne von § 134 BGB, die die Privatautonomie beim Abschluss von Mietverträgen über Wohnraum über das nach den §§ 556 ff. BGB erlaubte Maß hinaus begrenzen. Das MietenWoG Bln modifiziert somit die durch das Bundesrecht angeordneten Rechtsfolgen und verschiebt die von diesem vorgenommene Austarierung der beteiligten Interessen.

So verbietet § 3 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 2 MietenWoG Bln die nach § 557 Abs. 1 BGB zulässige Mieterhöhung im laufenden Mietverhältnis beziehungsweise für Neuvermietungen. Durch § 3 Abs. 1 Satz 2 MietenWoG Bln sind die nach den §§ 557a, 557b BGB zulässigen Staffel- oder Indexmieten auf die zum Stichtag geschuldete Miete eingefroren. § 7 MietenWoG Bln reduziert die mieterhöhungsrelevanten Modernisierungsmaßnahmen auf einen Katalog, der enger ist als die Maßnahmen nach § 555b Nr. 1, Nr. 3 bis 6 BGB, und begrenzt die zulässige Mieterhöhung nach Modernisierungsmaßnahmen stärker als § 559 Abs. 1 BGB. Der Anwendungsbereich der Mietpreisregulierung wird durch das MietenWoG Bln ausgeweitet, nach Bundesrecht zulässige Mieterhöhungen werden ebenso wie danach zulässige Vereinbarungen über die Miethöhe bei Mietbeginn verboten. So wird durch die Mietobergrenzen des § 6 Abs. 1 bis Abs. 3 MietenWoG Bln die Vereinbarung einer 110 % der ortsüblichen Vergleichsmiete betragenden Miete – auch in den Fällen des § 4 MietenWoG Bln – entgegen § 556d Abs. 1 BGB ausgeschlossen.

Diese Beschränkungen des MietenWoG Bln treten neben das Regelungsregime der Mietpreisbremse gemäß §§ 556d ff. BGB. Da die §§ 556 ff. BGB die Miethöhe für ungebundenen Wohnraum jedoch abschließend regeln, fehlt dem Land Berlin insoweit die Gesetzgebungskompetenz.

Andere Kompetenztitel, namentlich Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG („Recht der Wirtschaft“) oder Art. 70 Abs. 1 GG, scheiden als Grundlage für den Erlass des MietenWoG Bln aus. Insbesondere war die Regelung der höchstzulässigen Miete für ungebundenen Wohnraum vom Kompetenztitel „Wohnungswesen“ im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG a. F. nicht (mehr) umfasst und konnte daher im Rahmen der Föderalismusreform I im Jahr 2006 nicht in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder übergehen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BVerfG: Die Regelungen zur Bestandsdatenauskunft in § 113 TKG und Parallelvorschriften sind verfassungswidrig

BVerfG
Beschluss vom 27.05.2020
1 BvR 1873/13
1 BvR 2618/13
Bestandsdatenauskunft II

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Regelungen zur Bestandsdatenauskunft in § 113 TKG und den Parallelvorschriften in anderen Gesetzen verfassungswidrig sind.

Leitsätze:

1. Der Gesetzgeber muss bei der Einrichtung eines Auskunftsverfahrens auf Grundlage jeweils eigener Kompetenzen für sich genommen verhältnismäßige Rechtsgrundlagen sowohl für die Übermittlung als auch für den Abruf der Daten schaffen.

Übermittlungs- und Abrufregelungen für Bestandsdaten von Telekommunikationsdiensteanbietern müssen die Verwendungszwecke der Daten hinreichend begrenzen, mithin die Datenverwendung an bestimmte Zwecke, tatbestandliche Eingriffsschwellen und einen hinreichend gewichtigen Rechtsgüterschutz binden.

2. Schon dem Gesetzgeber der Übermittlungsregelung obliegt die normenklare Begrenzung der Zwecke der möglichen Datenverwendung. Eine Begrenzung der Verwendungszwecke erst zusammen mit der Abrufregelung kommt nur in Betracht, wenn die Übermittlungsregelung Materien betrifft, die allein im Kompetenzbereich des Bundes liegen und die Regelungen eine in ihrem Zusammenwirken normenklare und abschließende Zweckbestimmung der Datenverwendung enthalten.

3. Die Befugnis zum Datenabruf muss nicht nur für sich genommen verhältnismäßig sein, sondern ist – auch aus Gründen der Normenklarheit – zudem an die in der Übermittlungsregelung begrenzten Verwendungszwecke gebunden. Dabei steht es dem Gesetzgeber der Abrufregelung frei, den Abruf der Daten an weitergehende Anforderungen zu binden.

4. Trotz ihres gemäßigten Eingriffsgewichts bedürfen die allgemeinen Befugnisse zur Übermittlung und zum Abruf von Bestandsdaten für die Gefahrenabwehr und die Tätigkeit der Nachrichtendienste grundsätzlich einer im Einzelfall vorliegenden konkreten Gefahr und für die Strafverfolgung eines Anfangsverdachts.

Die Zuordnung dynamischer IP-Adressen muss im Hinblick auf ihr erhöhtes Eingriffsgewicht darüber hinaus auch dem Schutz oder der Bewehrung von Rechtsgütern von hervorgehobenem Gewicht dienen. Es bedarf ferner einer nachvollziehbaren und überprüfbaren Dokumentation der Entscheidungsgrundlagen.

Als Eingriffsschwelle kann im Bereich der Gefahrenabwehr und der nachrichtendienstlichen Tätigkeit das Vorliegen einer konkretisierten Gefahr ausreichen, soweit es um den Schutz von Rechtsgütern oder die Verhütung von Straftaten von zumindest erheblichem Gewicht (allgemeine Bestandsdatenauskunft) oder besonderem Gewicht (Zuordnung dynamischer IP-Adressen) geht.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BVerfG: Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) kompetenzwidrig

BVerfG
Urteil vom 05. Mai 2020
2 BvR 859/15, 2 BvR 980/16, 2 BvR 2006/15, 2 BvR 1651/15


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) kompetenzwidrig waren.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Beschlüsse der EZB zum Staatsanleihekaufprogramm kompetenzwidrig

Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat mehreren Verfassungsbeschwerden gegen das Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) stattgegeben. Danach haben Bundesregierung und Deutscher Bundestag die Beschwerdeführer in ihrem Recht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG verletzt, indem sie es unterlassen haben, dagegen vorzugehen, dass die Europäische Zentralbank (EZB) in den für die Einführung und Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüssen weder geprüft noch dargelegt hat, dass die hierbei getroffenen Maßnahmen verhältnismäßig sind. Dem steht das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 11. Dezember 2018 nicht entgegen, da es im Hinblick auf die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit der zur Durchführung des PSPP erlassenen Beschlüsse schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und damit ebenfalls ultra vires ergangen ist. Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung konnte der Senat dagegen nicht feststellen. Aktuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen der Europäischen Union oder der EZB im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Corona-Krise sind nicht Gegenstand der Entscheidung.

Sachverhalt:

Das PSPP ist Teil des Expanded Asset Purchase Programme (EAPP), eines Rahmenprogramms des Eurosystems zum Ankauf von Vermögenswerten. Ausweislich seiner Begründung zielt das EAPP auf eine Ausweitung der Geldmenge; hierdurch sollen Konsum und Investitionen gefördert und die Inflationsrate in der Eurozone auf knapp unter 2 % erhöht werden. Das PSPP wurde durch Beschluss der EZB vom 4. März 2015 aufgelegt, der in der Folgezeit durch fünf weitere Beschlüsse geändert wurde. Mit dem PSPP werden – unter im Einzelnen in den Beschlüssen der EZB festgelegten Rahmenbedingungen – Staatsanleihen und ähnliche marktfähige Schuldtitel erworben, die von der Zentralregierung eines Euro-Mitgliedstaats, „anerkannten Organen“, internationalen Organisationen und multilateralen Entwicklungsbanken mit Sitz im Euro-Währungsgebiet begeben werden. Das PSPP macht den weitaus größten Teil des EAPP aus. Zum 8. November 2019 hatte das Eurosystem im Rahmen des EAPP Wertpapiere im Gesamtwert von 2.557.800 Millionen Euro erworben, wovon 2.088.100 Millionen Euro auf das PSPP entfielen.

Die Beschwerdeführer machen mit ihren Verfassungsbeschwerden geltend, dass das PSPP gegen das Verbot monetärer Staatsfinanzierung (Art. 123 AEUV) und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 EUV in Verbindung mit Art. 119, 127 ff. AEUV) verstoße. Mit Beschluss vom 18. Juli 2017 hat der Senat dem Gerichtshof mehrere Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt; diese betrafen insbesondere das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung, das Mandat der EZB für die Währungspolitik und einen möglichen Übergriff in die Zuständigkeit und Haushaltshoheit der Mitgliedstaaten. Mit Urteil vom 11. Dezember 2018 hat der EuGH entschieden, dass das PSPP nicht über das Mandat der EZB hinausgehe und auch nicht gegen das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung verstoße. Vor diesem Hintergrund fand am 30./31 Juli 2019 eine mündliche Verhandlung in Karlsruhe statt (vgl. PM Nr. 43/2019 vom 25. Juni 2019).

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Der Beschluss des Rates der Europäischen Zentralbank vom 4. März 2015 (EU) 2015/774 sowie die hierauf folgenden Beschlüsse (EU) 2015/2101, (EU) 2015/2464, (EU) 2016/702 und (EU) 2017/100 sind – trotz des anderslautenden Urteils des Gerichtshofs – mit Blick auf Art. 119 und Art. 127 ff. AEUV sowie Art. 17 ff. EZB-Satzung als Ultra-vires-Maßnahmen zu qualifizieren

1. Nach stetiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 126, 286 <302 ff.; 134, 366 <382 ff. Rn. 22 ff. >; 142, 123 <198 ff. Rn. 143 ff.>; BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 30. Juli 2019 - 2 BvR 1685/14, 2 BvR 2631/14 -, Rn. 140 ff.) ist seine Pflicht, substantiierten Rügen eines Ultra-vires-Handelns der europäischen Organe und Einrichtungen nachzugehen, mit der vertraglich dem Gerichtshof übertragenen Aufgabe zu koordinieren, die Verträge auszulegen und anzuwenden und dabei die Einheit und Kohärenz des Unionsrechts zu wahren (vgl. Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 2 EUV, Art. 267 AEUV). Wenn jeder Mitgliedstaat ohne weiteres für sich in Anspruch nähme, durch eigene Gerichte über die Gültigkeit von Rechtsakten der Union zu entscheiden, könnte der Anwendungsvorrang praktisch unterlaufen werden, und die einheitliche Anwendung des Unionsrechts wäre gefährdet. Würden aber andererseits die Mitgliedstaaten vollständig auf die Ultra-vires-Kontrolle verzichten, so wäre die Disposition über die vertragliche Grundlage allein auf die Unionsorgane verlagert, und zwar auch dann, wenn deren Rechtsverständnis im Ergebnis auf eine Vertragsänderung oder Kompetenzausweitung hinausliefe. Dass in den - wie nach den institutionellen und prozeduralen Vorkehrungen des Unionsrechts zu erwarten - seltenen Grenzfällen möglicher Kompetenzüberschreitung seitens der Unionsorgane die verfassungsrechtliche und die unionsrechtliche Perspektive nicht vollständig harmonieren, ist dem Umstand geschuldet, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Herren der Verträge bleiben und die Schwelle zum Bundesstaat nicht überschritten wurde (vgl. BVerfGE 123, 267 <370 f.>). Die nach dieser Konstruktion im Grundsatz unvermeidlichen Spannungslagen sind im Einklang mit der europäischen Integrationsidee kooperativ auszugleichen und durch wechselseitige Rücksichtnahme zu entschärfen. Dies kennzeichnet die Zusammenarbeit in der Europäischen Union, die ein Staaten-, Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsprechungsverbund ist (BVerfGE 140, 317 <338 Rn. 44).

Die Auslegung und Anwendung des Unionsrechts einschließlich der Bestimmung der dabei anzuwendenden Methode ist zuvörderst Aufgabe des Gerichtshofs, dem es gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV obliegt, bei der Auslegung und Anwendung der Verträge das Recht zu wahren. Die vom Gerichtshof entwickelten Methoden richterlicher Rechtskonkretisierung beruhen dabei auf den gemeinsamen (Verfassungs-)Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten (vgl. auch Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 340 Abs. 2 AEUV), wie sie sich nicht zuletzt in der Rechtsprechung ihrer Verfassungs- und Höchstgerichte sowie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte niedergeschlagen haben Die Handhabung dieser Methoden und Grundsätze kann - und muss - derjenigen durch innerstaatliche Gerichte nicht vollständig entsprechen, sie kann sich über diese aber auch nicht ohne weiteres hinwegsetzen. Die Eigentümlichkeiten des Unionsrechts bedingen allerdings nicht unbeträchtliche Abweichungen hinsichtlich der Bedeutung und Gewichtung der unterschiedlichen Interpretationsmittel. Eine offenkundige Außerachtlassung der im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden oder allgemeiner, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsätze ist vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV nicht umfasst. Es ist vor diesem Hintergrund nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, bei Auslegungsfragen im Unionsrecht, die auch bei methodengerechter Bewältigung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen (BVerfGE 126, 286 <307>). Es muss die Entscheidung des Gerichtshofs vielmehr auch dann respektieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint.

2. Die Auffassung des Gerichtshofs, der Beschluss des EZB-Rates über das PSPP und seine Änderungen seien noch kompetenzgemäß, verkennt in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite des auch bei der Kompetenzverteilung zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) und ist wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar.

Der Ansatz des Gerichtshofs, bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen außer Acht zu lassen und auf eine wertende Gesamtbetrachtung zu verzichten, verfehlt die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der EZB. Bei dieser Handhabung kann der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen, was das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV) im Grunde leerlaufen lässt.

Das völlige Ausblenden aller wirtschaftspolitischen Auswirkungen widerspricht auch der methodischen Herangehensweise des Gerichtshofs in nahezu sämtlichen sonstigen Bereichen der Unionsrechtsordnung. Das wird der Schnittstellenfunktion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und den Rückwirkungen, die dieses auf die methodische Kontrolle seiner Einhaltung haben muss, nicht gerecht.

3. Die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die darauf gestützte Bestimmung des Mandats des ESZB überschreiten deshalb das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat. Die Selbstbeschränkung seiner gerichtlichen Prüfung darauf, ob ein „offensichtlicher“ Beurteilungsfehler der EZB vorliegt, ob eine Maßnahme „offensichtlich“ über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgeht oder ob deren Nachteile „offensichtlich“ außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen, vermag die auf die Währungspolitik begrenzte Zuständigkeit der EZB nicht einzuhegen. Sie gesteht ihr vielmehr selbstbestimmte, schleichende Kompetenzerweiterungen zu oder erklärt diese jedenfalls für gerichtlich nicht oder nur sehr eingeschränkt überprüfbar. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat jedoch entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips und die rechtliche Verfasstheit der Europäischen Union.

II. Da der Senat somit nicht an die Entscheidung des Gerichtshofs gebunden ist, hat er eigenständig zu beurteilen, ob das Eurosystem mit den Beschlüssen zur Errichtung und Durchführung des PSPP noch innerhalb der ihm primärrechtlich eingeräumten Kompetenzen gehandelt hat. Das ist mangels hinreichender Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit nicht der Fall.

Ein Programm zum Ankauf von Staatsanleihen wie das PSPP, das erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hat, setzt insbesondere voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen jeweils benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziels, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % zu erreichen, unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet daher offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

Die erforderliche Abwägung des währungspolitischen Ziels mit den mit dem eingesetzten Mittel verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen ergibt sich nicht aus den verfahrensgegenständlichen Beschlüssen. Sie verstoßen deshalb gegen Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV und sind von der währungspolitischen Kompetenz der EZB nicht gedeckt.

Die Beschlüsse beschränken sich auf die Feststellung, dass das angestrebte Inflationsziel nicht erreicht sei und weniger belastende Mittel nicht zur Verfügung stünden. Sie enthalten keine Prognose zu den wirtschaftspolitischen Auswirkungen des Programms sowie dazu, ob sie in einem angemessenen Verhältnis zu den erstrebten währungspolitischen Vorteilen stehen. Es ist nicht ersichtlich, dass der EZB-Rat die im PSPP angelegten und mit ihm unmittelbar verbundenen Folgen erfasst und abgewogen hätte, die dieses aufgrund seines Volumens von über zwei Billionen Euro und einer Laufzeit von mittlerweile mehr als drei Jahren zwangsläufig verursacht. Die negativen Auswirkungen des PSPP nehmen mit wachsendem Umfang und fortschreitender Dauer zu, sodass sich mit der Dauer auch die Anforderungen an eine solche Abwägung erhöhen.

Das PSPP verbessert die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können; es wirkt sich daher erheblich auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten aus. Es kann insbesondere dieselbe Wirkung haben wie Finanzhilfen nach Art. 12 ff. des ESM-Vertrags. Umfang und Dauer des PSPP können dazu führen, dass selbst primärrechtskonforme Wirkungen unverhältnismäßig werden. Das PSPP wirkt sich auch auf den Bankensektor aus, indem es risikobehaftete Staatsanleihen in großem Umfang in die Bilanzen des Eurosystems übernimmt, dadurch die wirtschaftliche Situation der Banken verbessert und ihre Bonität erhöht. Zu den Folgen des PSPP gehören zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen sind. So ergeben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken. Wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen bleiben aufgrund des auch durch das PSPP abgesenkten allgemeinen Zinsniveaus weiterhin am Markt. Schließlich begibt sich das Eurosystem mit zunehmender Laufzeit des Programms und steigendem Gesamtvolumen in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil es das PSPP immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln kann.

Diese und andere erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hätte die EZB gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen. Eine solche Abwägung ist, soweit ersichtlich, weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Ohne die Dokumentation, dass und wie diese Abwägung stattgefunden hat, lässt sich die rechtliche Einhaltung des Mandats der EZB gerichtlich nicht effektiv kontrollieren.

III. Ob Bundesregierung und Bundestag ihre Integrationsverantwortung auch dadurch verletzt haben, dass sie nicht auf eine Beendigung des PSPP gedrungen haben, kann dagegen nicht abschließend beurteilt werden, weil sich erst nach einer nachvollziehbar dargelegten Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EZB-Rat endgültig feststellen lässt, ob das PSPP in der Sache mit Art. 127 Abs. 1 AEUV vereinbar ist.

IV. Soweit das Urteil des Gerichtshofs einen Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV verneint, begegnet die Handhabung der seinem Urteil in der Rechtssache Gauweiler entwickelten „Garantien“ für ein Ankaufsprogramm zwar erheblichen Einwänden, da der Gerichtshof darauf verzichtet, die im PSPP enthaltenen Vorkehrungen gegen Umgehungen einer näheren Prüfung zu unterziehen, und sich nicht mit gegenläufigen Indikatoren auseinandersetzt. Der Senat sieht sich insofern aber an die Auffassung des Gerichtshofs gebunden, da angesichts der realen Möglichkeit, dass jedenfalls die vom Gerichtshof anerkannten Garantien von der EZB eingehalten wurden, ein offensichtlicher Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV noch nicht festgestellt werden kann.

Zwar hat der Gerichtshof einzelnen „Garantien“ wie dem Ankündigungsverbot, der Sperrfrist, dem Verbot des grundsätzlichen Haltens der Anleihen bis zur Endfälligkeit und der Notwendigkeit eines Ausstiegsszenarios ihre Wirkung in der Praxis weitgehend genommen. Ob ein Anleiheankaufprogramm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt, entscheidet sich allerdings nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung. Im Ergebnis ist eine offensichtliche Umgehung des Verbots monetärer Haushaltsfinanzierung vor allem deshalb nicht feststellbar, weil

- das Volumen der Ankäufe im Voraus begrenzt ist,

- die vom Eurosystem getätigten Käufe nur in aggregierter Form bekannt gegeben werden,

- eine Obergrenze von 33 % je Internationaler Wertpapierkennnummer eingehalten wird,

- Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der nationalen Zentralbanken getätigt werden,

- nur Anleihen von Körperschaften erworben werden, die aufgrund eines Mindestratings Zugang zum Anleihemarkt besitzen und

- Ankäufe begrenzt oder eingestellt und erworbene Schuldtitel wieder dem Markt zugeführt werden sollen, wenn eine Fortsetzung der Intervention zur Erreichung des Inflationsziels nicht mehr erforderlich ist.

V. Eine Verletzung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes im Allgemeinen und der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages im Besonderen ist nicht ersichtlich. Zwar würde eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung zwischen der EZB und den nationalen Zentralbanken mit Blick auf den Umfang des PSPP von mehr als zwei Billionen Euro die vom Senat entwickelten Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Für die von den nationalen Zentralbanken erworbenen Staatsanleihen ihrer Mitgliedstaaten sieht das PSPP eine solche – primärrechtlich ohnehin verbotene – Risikoteilung jedoch nicht vor.

VI. Bundesregierung und Deutscher Bundestag sind aufgrund der ihnen obliegenden Integrationsverantwortung verpflichtet, der bisherigen Handhabung des PSPP entgegenzutreten.

1. Im Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sind die Verfassungsorgane verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms und die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie – solange die Maßnahmen fortwirken – geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben.

2. Konkret bedeutet dies, dass die Bundesregierung und der Bundestag aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet sind, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Entsprechendes gilt für die am 1. Januar 2019 begonnene Reinvestitionsphase des PSPP und seine Wiederaufnahme zum 1. November 2019. Insoweit dauert auch die Pflicht, die Entscheidungen des Eurosystems über Ankäufe von Staatsanleihen unter dem PSPP zu beobachten und mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln auf die Einhaltung des dem ESZB zugewiesenen Mandats hinzuwirken, fort.

3. Deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Der Bundesbank ist es daher untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluss nachvollziehbar darlegt, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung ist die Bundesbank verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.


Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts:

1. Stellt sich bei einer Ultra-vires- oder Identitätskontrolle die Frage nach der Gültigkeit oder Auslegung einer Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union, so legt das Bundesverfassungsgericht seiner Prüfung grundsätzlich den Inhalt und die Beurteilung zugrunde, die die Maßnahme durch den Gerichtshof der Europäischen Union erhalten hat.

2. Der mit der Funktionszuweisung des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV verbundene Rechtsprechungsauftrag des Gerichtshofs der Europäischen Union endet dort, wo eine Auslegung der Verträge nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich ist. Überschreitet der Gerichtshof diese Grenze, ist sein Handeln vom Mandat des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz nicht mehr gedeckt, so dass seiner Entscheidung jedenfalls für Deutschland das gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG erforderliche Mindestmaß an demokratischer Legitimation fehlt.

3. Bei der Berührung fundamentaler Belange der Mitgliedstaaten, wie dies bei der Auslegung der Verbandskompetenz der Europäischen Union und ihres demokratisch legitimierten Integrationsprogramms in der Regel der Fall ist, darf die gerichtliche Kontrolle die behaupteten Absichten der Europäischen Zentralbank nicht unbesehen übernehmen.

4. Die Kombination eines weiten Ermessens des handelnden Organs und einer Begrenzung der gerichtlichen Kontrolldichte durch den Gerichtshof der Europäischen Union trägt dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung offensichtlich nicht hinreichend Rechnung und eröffnet den Weg zu einer kontinuierlichen Erosion mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten.

5. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips. Die Finalität des Integrationsprogramms darf nicht dazu führen, dass das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als eines der Fundamentalprinzipien der Europäischen Union faktisch außer Kraft gesetzt wird.

6. a) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei der Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten und die damit verbundene wertende Gesamtbetrachtung besitzen ein für das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Volkssouveränität erhebliches Gewicht. Ihre Missachtung ist geeignet, die kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union zu verschieben und das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zu unterlaufen.
b) Die Verhältnismäßigkeit eines Programms zum Ankauf von Staatsanleihen setzt neben seiner Eignung zur Erreichung des angestrebten Ziels und seiner Erforderlichkeit voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Die unbedingte Verfolgung des währungspolitischen Ziels unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV.
c) Dass das Europäische System der Zentralbanken keine Wirtschafts- und Sozialpolitik betreiben darf, schließt es nicht aus, unter dem Gesichtspunkt des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV die Auswirkungen zu erfassen, die ein Ankaufprogramm für Staatsanleihen etwa für die Staatsverschuldung, Sparguthaben, Altersvorsorge, Immobilienpreise, das Überleben wirtschaftlich nicht überlebensfähiger Unternehmen hat, und sie – im Rahmen einer wertenden Gesamtbetrachtung – zu dem angestrebten und erreichbaren währungspolitischen Ziel in Beziehung zu setzen.

7. Ob ein Programm wie das PSPP eine offenkundige Umgehung von Art. 123 Abs. 1 AEUV darstellt, entscheidet sich jedoch nicht an der Einhaltung eines einzelnen Kriteriums, sondern nur auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung. Vor allem die Ankaufobergrenze von 33 % und die Verteilung der Ankäufe nach dem Kapitalschlüssel der Europäischen Zentralbank verhindern, dass unter dem PSPP selektive Maßnahmen zugunsten einzelner Mitgliedstaaten getroffen werden und dass das Eurosystem zum Mehrheitsgläubiger eines Mitgliedstaats wird.

8. Eine (nachträgliche) Änderung der Risikoverteilung für die unter dem PSPP erworbenen Staatsanleihen würde die Grenzen der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages berühren und wäre mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar. Sie stellte in der Sache eine vom Grundgesetz verbotene Haftungsübernahme für Willensentscheidungen Dritter mit schwer kalkulierbaren Folgen dar. (227)
9. Bundesregierung und Bundestag sind aufgrund ihrer Integrationsverantwortung verpflichtet, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Europäische Zentralbank hinzuwirken. Sie müssen ihre Rechtsauffassung gegenüber der Europäischen Zentralbank deutlich machen oder auf sonstige Weise für die Wiederherstellung vertragskonformer Zustände sorgen. (232)
10. Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte dürfen weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Das gilt grundsätzlich auch für die Bundesbank. (234)

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Bundesregierung hat Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der Fassung vom 27.04.2020 vorgelegt

Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) in der Fassung vom 27.04.2020 vorgelegt.

OLG Frankfurt: Erstattungsfähigkeit der Patentanwaltskosten ohne Erforderlichkeit nach § 140 Abs. 4 MarkenG bedenklich aber verfassungsgemäß

OLG Frankfurt
Beschluss vom 22.01.2020
6 W 2/20


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass die Erstattungsfähigkeit der Patentanwaltskosten ohne Erforderlichkeit nach § 140 Abs. 4 MarkenG (früher § 140 Abs. 3 MarkenG - daher ist in der Entscheidung von § 140 III MarkenG die Rede ) bedenklich aber verfassungsgemäß ist. Das OLG Frankfurt hat die Rechtsbeschwerde zum BGH zugelassen.

Aus den Entscheidungsgründen:

1.) Gemäß § 140 III MarkenG sind von den Kosten, die durch die Mitwirkung eines Patentanwalts in einer Kennzeichenstreitsache entstehen, die Gebühren nach § 13 RVG und außerdem die notwendigen Auslagen des Patentanwalts zu erstatten.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Kosten für die Mitwirkung eines Patentanwalts in einer Kennzeichenstreitsache nach § 140 III MarkenG ohne Prüfung der Erforderlichkeit stets zu erstatten. Es ist nicht zu prüfen, ob die Mitwirkung des Patentanwalts zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung im Sinne des § 91 I 1 ZPO notwendig war. Es kommt auch nicht darauf an, ob der Patentanwalt gegenüber dem Rechtsanwalt eine „Mehrleistung“ erbracht hat (vgl. BGH GRUR 2003, 639, 64; BGH, GRUR 2011, 754 Tz. 17, BGH GRUR 2012, 756 Tz. 20, GRUR 2012, 759 Tz. 11 - Kosten des Patentanwalts I bis IV; GRUR 2016, 526 Tz. 46 - Irreführende Lieferantenangabe). Soweit für den Senat ersichtlich wurde diese Beurteilung bisher auch in der Instanzrechtsprechung durchgehend und in der Kommentarliteratur weitgehend vertreten; in letzter Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, die Regelung für rechtspolitisch verfehlt oder sogar verfassungs- oder europarechtswidrig halten (Gruber in BeckOK Markenrecht, 19. Edition, § 140, Rnr. 33 ff; Gruber ZRP 2017, 53; Barnitzke, GRUR 2016, 908; vgl. auch BPatG GRUR 2000, 331, 333).

2.) Dass Patentanwalt A an dem Rechtsstreit mitgewirkt hat, wird von der sofortigen Beschwerde nicht explizit in Abrede gestellt. Jedenfalls aber reicht es für die Mitwirkung des Patentanwalts und die Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten regelmäßig aus, wenn die Mitwirkung eines Patentanwalts anwaltlich versichert wird, § 140 Abs. 2 ZPO (OLG Saarbrücken GRUR-RR 2009, 326 (327)). Den beteiligten Anwälten kann weder die wahrheitswidrige Behauptung einer Mitwirkung noch die Erstellung von Scheinrechnungen unterstellt werden (OLG Düsseldorf GRUR-RR 2012, 308 (309) - Fahrbare Betonpumpen; OLG Saarbrücken GRUR-RR 2009, 326 (327)). Ausreichend ist sogar schon, wenn die Mitwirkung zu Beginn des Verfahrens angezeigt und später eine auf das Verfahren bezogene Rechnung vorgelegt wird (Senat, GRUR-RR 2012, 307), wie es hier geschehen ist.

3.) Soweit der Beklagte die Erforderlichkeit der Mitwirkung des Patentanwalts in Abrede stellt, ist diese gemäß § 140 III MarkenG nicht Voraussetzung für die Erstattungsfähigkeit. Gegen diese eindeutige gesetzliche Regelung mögen zwar erhebliche rechtspolitische Bedenken bestehen. Der Senat hat jedoch keine durchgreifenden Bedenken, dass die Regelung mit Verfassungsrecht und Europarecht vereinbar ist, so dass weder eine Richtervorlage nach Art. 100 GG noch eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV in Betracht kommt.

a) Nach Art. 3 I 2 der Richtlinie 2004/48/EG dürfen die zur Durchsetzung der Rechte des Geistigen Eigentums im Sinne des Satzes 1 vorgesehenen Maßnahmen, Verfahren und Rechtsbehelfe nicht unnötig kostspielig sein. Nach Art. 14 haben die Mitgliedsstaaten sicher zu stellen, dass die Prozesskosten und sonstigen Kosten der obsiegenden Partei, in der Regel, soweit sie zumutbar und angemessen sind, von der unterlegenen Partei getragen werden, sofern Billigkeitsgründe dem nicht entgegenstehen.

Dass die in § 140 III MarkenG vom Gesetzgeber vorgesehene Erstattungsfähigkeit der Kosten eines mitwirkenden Patentanwalts geeignet sein könnte, den Kläger aufgrund des bestehenden Kostenrisikos von der Durchsetzung seiner Markenrechte abzuhalten (vgl. Gruber, ZRP 2017, 53, 55), ist durch keine empirischen Daten belegt und entspricht auch nicht den Erfahrungen des Senats. Auch die Problematik, wonach die Begrenzung der Erstattung auf die Gebühren gemäß dem RVG ggf. dazu führen kann, dass die obsiegende Partei nur einen Teil der Kosten des mitwirkenden Patentanwalts erstattet erhält (Gruber aaO unter Bezugnahme auf Albrecht/Hofmann, Die Vergütung des Patentanwalts, 3. Aufl., Rn. 23), bedarf vorliegend keiner Erörterung. Allein maßgeblich ist die Frage, ob § 140 III MarkenG deshalb mit Art. 3 III 2, Art. 14 der Durchsetzungsrichtlinie nicht zu vereinbaren ist, weil kennzeichenrechtliche Streitigkeiten in der Regel ohne die Mitwirkung eines Patentanwalts allein von dem Rechtsanwalt bearbeitet werden können (so Gruber aaO S. 55; Barnitzke, GRUR 2016, 908, 909 f.; vgl. auch Tyra, WRP 2007, 1059, 1063 ff. und Günther/Pfaff, WRP 2010, 708, 710 f.) und folglich die von dem mitwirkenden Patentanwalt als nicht erforderliche Dienstleistungen angesehen werden können. Dass die „unwiderlegliche gesetzliche Vermutung“ (BGH aaO Tz. 46 -Irreführende Lieferantenangabe) mit den Vorgaben der Richtlinie 2004/48/EG (Durchsetzungsrichtlinie) nicht zu vereinbaren ist und deshalb entgegen der ständigen Rechtsprechung des BGH eine richtlinienkonforme Auslegung (vgl. hierzu BGH GRUR 2018, 1044 Tz. 48 mwN - Dead Island) dahingehend zu erfolgen hätte, dass im Einzelfall jeweils zu prüfen wäre, ob die Mitwirkung eines Patentantwalts erforderlich war, erachtet der Senat daher als fernliegend.

b) Es besteht auch keine Veranlassung, das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 I 1 GG zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 140 III MarkenG einzuholen.

Zulässig ist ein Antrag auf konkrete Normenkontrolle gem. Art. 100 I 1 GG nur, falls das vorgelegte Gesetz entscheidungserheblich und das vorlegende Gericht selbst von dessen Verfassungswidrigkeit überzeugt ist. Während die Entscheidungserheblichkeit hier zu bejahen ist, da die Erforderlichkeit der Hinzuziehung im vorliegenden Verletzungsprozess, bei dem eine besondere patentanwaltliche Expertise nicht notwendig war, nicht zu erkennen ist, ist der Senat von der Verfassungswidrigkeit der Regelung im Hinblick auf Art. 3 I GG nicht überzeugt. In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte (Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, MDR 1998, 1311; OLG München, GRUR-RR 2004, 224; KG, Beschluss vom 30.07.2018, 19 W 149/17, BeckRS 2018, 29685; siehe auch Ströbele/Hacker/Thiering, Markengesetz, 3. Aufl., 2018, § 140 RdNr. 67) verfängt die verfassungsrechtliche Kritik nicht. Nach der vertretbaren Entscheidung des Gesetzgebers bringt der Patentanwalt in Kennzeichenstreitsachen eine Sachkunde ein, die über die der beauftragten Rechtsanwälte hinausgeht; § 140 III MarkenG knüpft dabei zulässigerweise an die Gebühren des in der jeweiligen Instanz typischerweise vertretenden Rechtsanwalts an (OLG München, a.a.O.). Vergleichbare Regelungen enthalten §§ 143 III PatG, 27 III GebrMG, 52 IV DesignG, § 38 III SortschG. Hintergrund der Regelungen ist die Überlegung, dass es in den vorgenannten Streitsachen regelmäßig um komplexe Fragestellungen mit technischem Einschlag geht, deren Beherrschung von Rechtsanwälten nicht verlangt werden kann. Da eine Überprüfung der Notwendigkeit der Einschaltung eines Patentanwalts im Einzelfall nicht ohne weiteres vorgenommen werden kann, wird nach diesen Vorschriften unwiderlegbar vermutet, dass die Hinzuziehung notwendig und zweckentsprechend war. Ähnliche Erwägungen haben den Gesetzgeber offenbar bei der Schaffung des § 140 III MarkenG geleitet, da Markenstreitfälle häufig umfangreiche Registerrecherchen erfordern, die zum typischen Arbeitsgebiet eines Patentanwalts gehören. Vor diesem Hintergrund unterliegt diese Regelung nach Ansicht des Senats keinen durchgreifenden Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit insbesondere mit Art. 3 I GG. Soweit darauf hingewiesen wird, dass das Fehlen der erforderlichen Fachkunde, das den historischen Gesetzgeber zu einer derartigen Regelung auch im Markenrecht veranlasst hatte nach Einführung der Fachanwaltschaft für gewerblichen Rechtsschutz nicht mehr vermutet werden könne und somit die Tätigkeit von Rechtsanwalt und Patentanwalt in nicht-technischen Streitsachen vergleichbar sei, sieht auch der Senat, dass diese Entwicklung Fragen aufwirft. Indes ist dem Gesetzgeber bei der Bewertung von tatsächlichen Verhältnissen oder der Prognose der tatsächlichen Entwicklung ein erheblicher Beurteilungsspielraum zuzubilligen. Die Einschätzung, dass die Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht dazu nötigt, Art. 140 III MarkenG abzuändern, erscheint dem Senat jedenfalls noch vertretbar, so dass der Senat sich keine hinreichende Überzeugung davon verschaffen kann, dass die Norm im Sinne von Art. 100 I GG verfassungswidrig ist.

4.) Die Rechtsbeschwerde war zuzulassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 574 II Nr. 2 ZPO). Die Verfassungsmäßigkeit und die Europarechtskonformität von § 140 III Marken ist in der Literatur teilweise angezweifelt worden (vgl. oben). Auch hat der Bundesgerichtshof in der letzten Entscheidung zu dieser Frage ausdrücklich offengelassen, ob an der bisherigen Auslegung von § 140 III MarkenG festzuhalten ist (BGH GRUR 2019, 983, Rnr. 10 - Kosten des Patentanwaltes V). Damit besteht die Möglichkeit, dass im Wege der verfassungskonformen Auslegung § 140 III MarkenG ggf. einschränkend auszulegen ist. Dies rechtfertigt die Zulassung der Rechtsbeschwerde.


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Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) verabschiedet

Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) verabschiedet. Auch nach den erneuten Änderungen ist der Ansatz verfehlt und die Umsetzung missglückt.

Die Pressemitteilung des BMJV:

NetzDG- Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes

Die Bundesregierung hat am 01.04.2020 den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) beschlossen.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht erklärt hierzu:
„Mit der Reform stärken wir die Rechte der Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke. Wir stellen klar: Meldewege müssen für jeden mühelos auffindbar und leicht zu bedienen sein. Wer im Netz bedroht und beleidigt wird, muss die Möglichkeit haben, dies dem sozialen Netzwerk einfach und unkompliziert anzuzeigen. Darüber hinaus vereinfachen wir die Durchsetzung von Auskunftsansprüchen: Wer sich vor Gericht gegen Bedrohungen oder Beleidigungen zur Wehr setzen will, soll die hierfür erforderlichen Daten deutlich leichter herausverlangen können als bisher. Außerdem verbessern wir den Schutz vor unberechtigten Löschungen: Betroffene können künftig verlangen, dass die Entscheidung über die Löschung ihres Beitrags überprüft und begründet wird. Dies erhöht die Transparenz und schützt vor unberechtigten Löschungen.“

Wesentliche Inhalte des Gesetzentwurfs:
Nutzerrechte stärken:
Wird ein eigener Post gelöscht oder ein als rechtswidrig gemeldeter beibehalten, können Nutzerinnen und Nutzer künftig vom sozialen Netzwerk die Überprüfung dieser Entscheidung verlangen. Das Ergebnis dieser Überprüfung muss das soziale Netzwerk gegenüber dem Nutzer bzw. der Nutzerin individuell begründen. Zu diesem Zweck müssen die sozialen Netzwerke ein sogenanntes Gegenvorstellungsverfahren einführen. Zudem wird gesetzlich klargestellt, dass an den Zustellungsbevollmächtigten auch Schriftstücke bei Wiederherstellungsklagen, mit denen eine Nutzerin oder ein Nutzer die Aufhebung einer Löschung (sogenanntes „Put-back“) verlangt, zugestellt werden können. Dadurch wird der Schutz der Nutzerinnen und Nutzer gegen unberechtigte Löschungen und Account-Sperrungen verbessert.

Meldewege nutzerfreundlicher gestalten:
Die Vorgaben für die Verfahren zur Übermittlung von Beschwerden der Nutzerinnen und Nutzer über rechtswidrige Inhalte werden zur Klarstellung um weitere nutzerfreundliche Aspekte ergänzt wie etwa leichte Bedienbarkeit oder Erkennbarkeit des Meldewegs vom Inhalt aus.

Durchsetzung von Auskunftsansprüchen vereinfachen:
§ 14 Telemediengesetz (TMG) wird dahingehend ergänzt, dass zukünftig das mit der Zulässigkeit zur Datenherausgabe befasste Gericht zugleich auch die Verpflichtung des sozialen Netzwerks zur Datenherausgabe anordnen kann. Dadurch wird das Verfahren vereinfacht, das Betroffene anstrengen müssen, um von Anbietern sozialer Netzwerke Auskünfte beispielsweise über die Identität eines Beleidigers zu erhalten.

Aussagekraft der Transparenzberichte erhöhen:

Die Informationspflichten für die halbjährlichen Transparenzberichte werden um verschiedene Aspekte ergänzt. Künftig müssen Veränderungen im Vergleich zu vorherigen Berichten erläutert werden. Zudem müssen die sozialen Netzwerke insbesondere Angaben zur Anwendung und zu Ergebnissen von Gegenvorstellungsverfahren machen und über automatisierte Verfahren zum Auffinden und Löschen von rechtswidrigen Inhalten berichten.
Darüber hinaus muss künftig in den Berichten aufgeführt werden, ob und inwiefern die sozialen Netzwerke unabhängigen Forschungseinrichtungen Zugang zu anonymisierten Daten für wissenschaftliche Zwecke gewähren. Über den Zugang zu anonymisierten Daten der Netzwerke könnten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wichtige Erkenntnisse gewinnen, welche Personengruppen systematisch - und in Bezug auf welche Eigenschaften - das Ziel rechtswidriger Inhalte im Netz sind und inwiefern abgestimmte und koordinierte Verhaltensweisen von Verfasserinnen und Verfassern rechtswidriger Inhalte vorliegen.

Anlass des Gesetzentwurfs ist die Umsetzung der geänderten Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL), die bis zum 19. September 2020 in nationales Recht umzusetzen ist. Die geänderte AVMD-RL sieht Compliance-Pflichten zum Schutz vor strafbaren Inhalten auf Videosharingplattform-Diensten vor, auch für kleinere sowie themenspezifische Anbieter, beispielsweise Plattformen zum Verbreiten von Games-Videos. Entsprechend weitet der Gesetzentwurf den Anwendungsbereich auf solche Anbieter von Videosharingplattform-Diensten aus.

Neben diesen europäischen Vorgaben wird der Anlass genutzt, um auf Basis der bisherigen Erkenntnisse aus der Anwendung des NetzDG Verbesserungen für Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke zu schaffen. Der Gesetzentwurf ergänzt die Änderungen im NetzDG, die mit dem Gesetzentwurf zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität vom 19. Februar 2020 vorgeschlagen wurden.


BMJV: Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG)

Das BMJV hat erneut einen missglückten Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) vorgelegt.

Die Pressemitteilung des BMJV:

Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes

Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat heute einen Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) veröffentlicht.

Bundesjustizministerin Christine Lambrecht erklärt hierzu:
„Ziel des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes ist es, Hass und Hetze im Netz effektiv und konsequent einzudämmen.
Mit der Weiterentwicklung dieses Gesetzes stellen wir klar: Wer im Netz bedroht und beleidigt wird, muss das dem Netzwerk einfach und unaufwendig melden können – und zwar direkt vom Posting aus. Zudem stärken wir die Nutzerrechte: Nutzerinnen und Nutzer bekommen künftig geeignete Mittel an die Hand, um die Entscheidung von Netzwerken, ein Posting zu löschen oder beizubehalten, überprüfen zu lassen.“

Wesentliche Inhalte des Gesetzentwurfs:

Stärkung der Nutzerrechte: Wenn ein eigenes Posting gelöscht oder ein als rechtswidrig gemeldetes, beibehalten wird, können Nutzerinnen und Nutzer künftig vom sozialen Netzwerk die Überprüfung dieser Entscheidung verlangen. Dafür müssen die Plattformen ein sog. Gegenvorstellungsverfahren einführen. Zudem wird gesetzlich klargestellt, dass an den Zustellungsbevollmächtigten auch Schriftstücke bei Wiederherstellungsklagen zugestellt werden können. Dadurch wird der Schutz gegen unberechtigte Löschungen und Account-Sperrungen verbessert.

Verbesserung der Nutzerfreundlichkeit der Meldewege: Die Vorgaben für die Verfahren zur Übermittlung von Beschwerden über rechtswidrige Inhalte werden klarstellend um weitere Aspekte der Nutzerfreundlichkeit ergänzt (leichte Bedienbarkeit, Erkennbarkeit des Meldewegs vom Inhalt aus).

Vereinfachung der Durchsetzung von Auskunftsansprüchen: § 14 Telemediengesetz (TMG) wird dahingehend ergänzt, dass zukünftig das mit der Zulässigkeit zur Datenherausgabe befasste Gericht zugleich auch die Verpflichtung des sozialen Netzwerks zur Datenherausgabe anordnen kann. Dadurch wird das Verfahren vereinfacht, das Betroffene anstrengen müssen, um von Online-Anbietern Auskünfte beispielsweise über die Identität des Beleidigers zu erhalten.

Erhöhung der Aussagekraft der Transparenzberichte: Die Informationspflichten für die halbjährlichen Transparenzberichte werden um verschiedene Aspekte ergänzt. Künftig müssen insbesondere Angaben zu Personengruppen, die besonders häufig von Hassrede betroffen sind, zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz beim Auffinden und Löschen von Inhalten sowie zur Anwendung und zu Ergebnissen von Gegenvorstellungsverfahren gemacht werden.

Anlass des Gesetzentwurfs ist die geänderte Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste (AVMD-RL), die bis zum 19. September 2020 in nationales Recht umzusetzende Compliance-Vorgaben zu Videosharingplattform-Diensten enthält. Aufgrund der Überschneidungen zum NetzDG, wird die AVMD-RL teilweise dort umgesetzt. Gleichzeitig wird dieser Anlass genutzt, um auf Basis der bisherigen Erkenntnisse aus der Anwendung des NetzDG, Verbesserungen für Nutzerinnen und Nutzer sozialer Netzwerke zu schaffen.

BVerfG: Zahlreiche Änderungen von Steuergesetzen wegen Mängeln im Gesetzgebungsverfahren verfassungswidrig

BVerfG
Beschluss vom 11.12.2018
Beschluss vom 15.01.2019
2 BvL 4/11, 2 BvL 4/13, 2 BvL 5/11, 2 BvL 1/09


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass zahlreiche Änderungen von Steuergesetzen wegen Mängeln im Gesetzgebungsverfahren verfassungswidrig sind.

Die Entscheidungen sind symptomatisch für die seit Jahrzehnten schlechte Qualität gesetzlicher Änderungen und Neuregelungen in vielen Rechtsgebieten.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Änderungen von Steuergesetzen wegen Mängeln im Gesetzgebungsverfahren verfassungswidrig

Im Jahre 2004 vorgenommene Änderungen des Biersteuergesetzes und des Einkommensteuergesetzes sowie 1999 vorgenommene Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes sind verfassungswidrig. Grund sind in beiden Fällen den Vermittlungsausschuss betreffende Mängel im Gesetzgebungsverfahren. Dies hat der Zweite Senat mit heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden. Zur Begründung hat er angeführt, dass der Vermittlungsausschuss, auf dessen Vorschlag die betreffenden Änderungen vorgenommen wurden, seine ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen überschritten hat. Der Vermittlungsausschuss darf eine Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen, wenn und soweit dieser Einigungsvorschlag im Rahmen des ihnen zugrundeliegenden Gesetzgebungsverfahrens verbleibt. Wird der Anrufungsauftrag auf einzelne Vorschriften begrenzt, muss der Vermittlungsausschuss zudem die übrigen Regelungen des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes als endgültig hinnehmen. In dem die Vorlagen 2 BvL 4/11, 2 BvL 5/11 und 2 BvL 4/13 betreffenden Gesetzgebungsverfahren konnte das sogenannte Koch/Steinbrück-Papier aufgrund der Art seiner Einführung und seiner Behandlung im parlamentarischen Verfahrensgang keine Grundlage für die vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Änderungen des Biersteuergesetzes und des Einkommensteuergesetzes sein. Bei der Änderung des Körperschaftsteuergesetzes betreffend umwandlungssteuerrechtliche Übernahmegewinne (2 BvL 1/09) überschritt der Vermittlungsvorschlag sowohl den Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens als auch die Grenzen des Anrufungsbegehrens, das nur die Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen betraf.

Sachverhalt:

I. Das Haushaltsbegleitgesetz 2004 beruht auf einem Gesetzentwurf der Bundesregierung, der vor allem wesentliche Elemente des Haushaltsstabilisierungskonzeptes 2003 der Bundesregierung, unter anderem den Abbau von Subventionen, umsetzen sollte. Der Entwurf wurde im ersten Durchgang vom Bundesrat abgelehnt. Zeitgleich erarbeitete eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Ministerpräsidenten der Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen, Roland Koch und Peer Steinbrück, das sogenannte Koch/Steinbrück-Papier, das einen umfassenden Subventionsabbau vorsah und am 30. September 2003 veröffentlicht wurde. Das 61 Seiten sowie einen Anhang von weiteren 52 Seiten umfassende Papier enthielt im Wesentlichen Listen von – im Einzelnen nach den gesetzlichen Vorschriften benannten – Steuervergünstigungen und von Finanzhilfen, die grundsätzlich pauschal um jeweils 12 % gekürzt werden sollten. Zu den Vorschlägen zählte die Erhöhung der ermäßigten Biersteuersätze für kleinere Brauereien in § 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG sowie die (weitere) Begrenzung des Betriebskostenabzugs von Bewirtungsaufwendungen durch Herabsenkung der in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG geregelten Quote von 80 % der angemessenen und nachgewiesenen Aufwendungen auf 70 %. In der ersten Beratung des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 im Deutschen Bundestag am 9. September 2003 wurden die Vorschläge des Koch/Steinbrück-Papiers in abstrakter Form angesprochen, ohne dass das Biersteuergesetz oder Änderungen des Einkommensteuergesetzes betreffend die Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen erwähnt wurden. Die Gesetzesvorlage wurde federführend dem Haushaltsausschuss und mitberatend dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zugewiesen. In den Sitzungen sowohl des Haushaltsausschusses als auch des Finanzausschusses am 15. Oktober 2003 stellten Minister der Länder Nordrhein-Westfalen und Hessen die Vorschläge der Arbeitsgruppe Koch/Steinbrück teilweise vor; sie baten darum, diese in die Beratungen des Gesetzentwurfs miteinzubeziehen. Beide Ausschüsse sprachen sich dafür aus, den Gesetzentwurf in zum Teil geänderter Fassung, jedoch ohne Berücksichtigung des Koch/Steinbrück-Papiers anzunehmen. In der zweiten und dritten Beratung des Deutschen Bundestages zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 am 17. Oktober 2003 wurden die Vorschläge zum Subventionsabbau der Ministerpräsidenten von Hessen und Nordrhein-Westfalen zwar erwähnt, einzelne Punkte des Papiers aber nicht erörtert. Der Gesetzentwurf wurde in zweiter Beratung sowie in der Schlussabstimmung in der Ausschussfassung angenommen. Der Bundesrat verlangte im zweiten Durchgang die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten und die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück in den Gesetzentwurf einzubeziehen. Der Vermittlungsausschuss einigte sich am 16. Dezember 2003 unter anderem auf einen dem Koch/Steinbrück-Papier entsprechenden Vorschlag zu Änderungen der Biersteuer-sätze sowie der Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen; die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses wurde in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 19. Dezember 2003 angenommen. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 29. Dezember 2003 zu. Das Gesetz wurde am 31. Dezember 2003 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat am 1. Januar 2004 in Kraft.

II. Das Steuerbereinigungsgesetz 1999 (StBereinG 1999) geht auf inhaltsgleiche Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zurück, die in insgesamt 25 Artikeln Änderungen diverser steuerlicher Vorschriften enthielten. Der federführende Finanzausschuss des Bundestages empfahl, die Regelung des § 23 Abs. 2 Satz 5 Körperschaftsteuergesetz (KStG) 1999 einzufügen. Dadurch sollte verhindert werden, dass über die Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft, an der Kapitalgesellschaften als Gesellschafter beteiligt sind, eine nicht gewollte Steuerentlastung dadurch eintritt, dass die Muttergesellschaft die mit dem Steuersatz von 45 % bereits von der Tochtergesellschaft entrichtete Körperschaftsteuer anrechnen kann, obwohl sie den mit dem Formwechsel erzielten Gewinn nur mit dem niedrigeren Steuersatz von 40 % versteuern muss (sogenanntes „Herabschleusen“ der Körperschaftsteuerbelastung). Eine besondere Regelung zum zeitlichen Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Ergänzung empfahl der Finanzausschuss nicht. Nach dem Gesetzentwurf sollte die Neufassung des Körperschaftsteuergesetzes erstmals für den Veranlagungszeitraum 2000 gelten. Damit verblieb eine zeitliche Lücke, da der Körperschaftsteuersatz bereits zum 1. Januar 1999 von 45 % auf 40 % gesenkt worden war und damit die Möglichkeit des Herabschleusens der Körperschaftsteuerbelastung ab diesem Zeitpunkt bestanden hätte, der von dem Finanzausschuss vorgeschlagene § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 aber erst ein Jahr später gelten sollte. Der Bundestag verabschiedete das Steuerbereinigungsgesetz 1999 in der vom Finanzausschuss empfohlenen Fassung, ohne dass die Ergänzung von § 23 Abs. 2 KStG 1999 um einen neuen Satz 5 in den umfangreichen parlamentarischen Debatten ausdrücklich angesprochen wurde. Der Bundesrat behandelte das Steuerbereinigungsgesetz 1999 im zweiten Durchgang ebenfalls ohne nähere Auseinandersetzung mit den vorgesehenen Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes. Er verlangte die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel, in Art. 1 StBereinG 1999 die Nr. 6, 10, 15a und 30 Buchstabe f – hierbei handelte es sich um Änderungen des Einkommensteuergesetzes betreffend die Besteuerung der Erträge von Kapitallebensversicherungen – zu streichen.

Die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses sah zum einen die Streichung der Vorschriften zur Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen vor, wegen derer der Vermittlungsausschuss einberufen worden war. Zum anderen fanden sich darin zahlreiche weitere Änderungen und Ergänzungen des Steuerbereinigungsgesetzes 1999, die unterschiedliche Regelungsbereiche betrafen und keinen sachlichen Bezug zur Besteuerung von Kapitallebensversicherungen aufwiesen. In den Erörterungen des Vermittlungsausschusses waren sie als „technische Änderungen“ bezeichnet worden, auf die man sich in nicht protokollierten Gesprächen geeinigt habe. Hierzu zählte die Einfügung der Vorschrift des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999, nach dessen Regelung § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 bereits für den Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden war. Der Bundestag nahm die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses am 16. Dezember 1999 an. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz in der geänderten Fassung zu. Das Gesetz wurde am 29. Dezember 1999 im Bundesgesetzblatt verkündet.

III. Den Verfahren liegen Klagen von Steuerpflichtigen zugrunde, die durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 beziehungsweise das Haushaltsbegleitgesetz 2004 belastetet wurden. Eine Vorlage des Bundesfinanzhofs (2 BvL 1/09) betrifft die Frage, ob die Vorschrift des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des StBereinG 1999 in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen ist. Zwei weitere Vorlagen des Bundesfinanzhofs (2 BvL 4/11 und 2 BvL 5/11) haben die Erhöhung der ermäßigten Biersteuersätze für kleinere Brauereien zum Gegenstand. Die Vorlage des Finanzgerichts Baden-Württemberg (2 BvL 4/13) betrifft die formelle Verfassungsmäßigkeit von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 2004, durch den der Betriebskostenabzug von Bewirtungsaufwendungen weiter begrenzt wurde.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Die Kompetenzen des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG) und ihre Grenzen sind in der Verfassung nicht ausdrücklich geregelt. Sie ergeben sich aber aus seiner Funktion und Stellung in dem gemäß dem Grundgedanken des Art. 20 Abs. 2 GG durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 77 ff. GG ausgestalteten Gesetzgebungsverfahren und sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.

1. Der Vermittlungsausschuss hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht, sondern vermittelt zwischen den zuvor parlamentarisch beratenen Regelungsalternativen. Seine Einrichtung zielt auf die Aushandlung von Kompromissen zwischen den gesetzgebenden Körperschaften, indem die für ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben maßgeblichen politischen Meinungen zum Ausgleich gebracht werden. Er ist darauf beschränkt, auf der Grundlage des Gesetzesbeschlusses und des vorherigen Gesetzgebungsverfahrens Änderungsvorschläge zu erarbeiten, die sich im Rahmen der parlamentarischen Zielsetzung des Gesetzgebungsvorhabens und zugleich innerhalb der durch das Anrufungsbegehren gesteckten Grenzen bewegen und die jedenfalls im Ansatz sichtbar gewordenen politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat ausgleichen. Es geht dagegen nicht um eine nochmalige freie Beratung des Gesetzgebungsvorschlages, zu dem diese unterschiedliche Positionen eingenommen haben.

2. Die Kompetenzverteilung im Verhältnis zwischen den Gesetzgebungsorganen weist dem Deutschen Bundestag die entscheidende Funktion im Gesetzgebungsverfahren zu: Die Bundesgesetze werden nach Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat ist demgegenüber auf die Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes beschränkt (Art. 50 GG); er kann durch einen Einspruch oder die Verweigerung einer erforderlichen Zustimmung Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Der Vermittlungsvorschlag ist deshalb inhaltlich und formal an den durch den Deutschen Bundestag vorgegebenen Rahmen gebunden. Der Vorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten Debatte zurechenbar sein; dieser muss den Vorschlag auf der Grundlage seiner Debatte über ihm vorliegende Anträge und Stellungnahmen als ein ihm zuzurechnendes und von ihm zu verantwortendes Ergebnis seines parlamentarischen Verfahrens erkennen und anerkennen können. Es sind nur diejenigen Umstände zu berücksichtigen, die im maßgeblichen Gesetzgebungsverfahren selbst liegen. Die Reichweite eines Vermittlungsvorschlags ist deshalb durch diejenigen Regelungsgegenstände begrenzt, die bis zur letzten Lesung im Bundestag in das jeweilige Gesetzgebungsverfahren eingeführt waren. Auch wenn diese Einführung in das Verfahren nicht in Form eines ausformulierten Gesetzentwurfs erfolgt sein muss, so muss der Regelungsgegenstand, der zur Grundlage eines Vorschlags im Vermittlungsausschuss werden kann, doch in so bestimmter Form vorgelegen haben, dass seine sachliche Tragweite dem Grunde nach erkennbar war.

3. Die verfassungsrechtlichen Rechte der Abgeordneten, die aus ihrem in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Status folgen, umfassen nicht nur das Recht, im Deutschen Bundestag abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten. Grundlage einer sinnvollen Beratung muss dabei eine hinreichende Information des Abgeordneten über den Beratungsgegenstand sein. Voraussetzung für das Aufgreifen eines Regelungsgegenstandes durch den Vermittlungsausschuss ist daher, dass die betreffenden Anträge und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss bekannt gegeben worden sind und grundsätzlich alle Abgeordneten die Möglichkeit hatten, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür eine Mehrheit im Parlament zu suchen. Diese Möglichkeit wird verschlossen, wenn Regelungsgegenstände erst nach der letzten Lesung des Bundestages in das Gesetzgebungsverfahren eingeführt werden.

4. Der Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus. Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus. Das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffnet Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen und schafft die Voraussetzungen der Kontrolle durch die Bürger. Entscheidungen von erheblicher Tragweite muss deshalb grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen in öffentlicher Debatte zu klären. Könnte sich der Vermittlungsausschuss von der Grundlage des Gesetzesbeschlusses und des vorherigen Gesetzgebungsverfahrens lösen, so würde der von Verfassungs wegen gebotene Zusammenhang zwischen der öffentlichen Debatte im Parlament und der späteren Schlichtung zwischen den an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorganen zulasten der öffentlichen Beobachtung des Gesetzgebungsverfahrens aufgelöst. Denn der Vermittlungsausschuss tagt im Interesse der Effizienz seiner Arbeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit und muss seine Empfehlungen nicht unmittelbar vor der Öffentlichkeit verantworten.

5. Durch das Anrufungsbegehren kann der Vermittlungsauftrag innerhalb des Rahmens des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens weiter eingeschränkt werden. Das Grundgesetz verhält sich nicht zum zulässigen Inhalt eines Anrufungsbegehrens; es lässt auch weite Anrufungsbegehren zu, die ein heterogenes Artikelgesetz insgesamt in Bezug nehmen. Wird der Anrufungsauftrag indes präzise gefasst und auf einzelne Vorschriften begrenzt, muss der Vermittlungsausschuss die übrigen Regelungen des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes als endgültig hinnehmen. Dem Vermittlungsausschuss ist der eigenständige Zugriff auf Gesetzesteile, auf die sich das Anrufungsbegehren nicht erstreckt, verwehrt. Er wird nicht kraft einer autonomen Stellung im Gesetzgebungsverfahren tätig, sondern empfängt seinen Auftrag im Rahmen des Legitimationsgrundes und der Grenzen des Anrufungsbegehrens.

6. Die aufgezeigten Schranken schließen die Korrektur von im Gesetzesbeschluss enthaltenen offensichtlichen Unrichtigkeiten jenseits der dem Vermittlungsausschuss dadurch gesteckten Grenzen nicht aus. Allerdings ist eine solche Korrektur wegen des den gesetzgebenden Körperschaften zukommenden Anspruchs auf Achtung und Wahrung der allein ihnen zustehenden Kompetenz, den Inhalt von Gesetzen zu bestimmen, nur in sehr engen Grenzen zulässig. Sie beschränkt sich auf offensichtliche Unrichtigkeiten. Dabei kann sich eine offensichtliche Unrichtigkeit nicht allein aus dem Normtext, sondern insbesondere auch unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und der Materialien des Gesetzes ergeben. Maßgebend ist, dass mit der Berichtigung nicht der rechtlich erhebliche Gehalt der Norm und mit ihm seine Identität angetastet wird.

II. Nach diesen Maßstäben sind die durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 vorgenommenen Änderungen von § 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG sowie § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG nicht in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen.

1. Die Art und Weise der Einbringung des Koch/Steinbrück-Papiers in das parlamentarische Verfahren des Deutschen Bundestages und seine Behandlung in dessen Ausschüssen sowie im Plenum eröffneten dem Vermittlungsausschuss nicht die Kompetenz, die in Rede stehenden Änderungen in den Vermittlungsvorschlag aufzunehmen. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses, die Ermäßigung der Biersteuer für kleinere Brauereien zu kürzen (§ 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG 1993) und die Quote der steuerlichen Abziehbarkeit von Bewirtungsaufwendungen zu reduzieren (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG), kann dem Bundestag nicht aufgrund einer dort geführten Debatte zugerechnet werden. Die Änderung der Biersteuersätze und die Absenkung der Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen sind im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss des Bundestages nicht in einer Weise bekannt gegeben worden, die den Abgeordneten in Wahrnehmung ihrer ihnen aufgrund ihres freien Mandats obliegenden Verantwortung die Möglichkeit gegeben hätte, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür in dem öffentlichen parlamentarischen Verfahren eine Mehrheit zu suchen. Das Koch/Steinbrück-Papier war – nicht nur in Bezug auf die vorgeschlagene Kürzung von Finanzhilfen (vergleiche dazu
BVerfGE 125, 104 <124>), sondern auch in Bezug auf die hier zu beurteilenden Vorschläge zum Abbau von Steuervergünstigungen – nach der Art seiner Einbringung und Behandlung im Bundestag nicht auf parlamentarische Beratung angelegt, sondern hatte das Ziel, ohne die Öffentlichkeit einer parlamentarischen Debatte und eine hinreichende Information der Mitglieder des Deutschen Bundestages den als notwendig erkannten politischen Kompromiss erst im Vermittlungsausschuss herbeizuführen. Ein für die einzelnen Abgeordneten und für die Öffentlichkeit erkennbarer, hinreichend konkreter Hinweis darauf, dass unmittelbar durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 der vorgeschlagene Abbau von Steuervergünstigungen vorgenommen, also auch die Ermäßigung der Biersteuer für kleinere Brauereien gekürzt und die Quote der steuerlichen Absetzbarkeit von Bewirtungsaufwendungen reduziert werden sollte, ergab sich weder aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch aus der Behandlung des Koch/Steinbrück-Papiers in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestages. Die gleichzeitige Presseberichterstattung über das Koch/Steinbrück-Papier sowie dessen Verfügbarkeit im Internet sind dafür ohne Belang.

2. Das Koch/Steinbrück-Papier wurde auch nicht förmlich als Bundesratsinitiative (Art. 76 Abs. 1 GG) in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht.

3. Die Einbeziehung des Inhalts des Koch/Steinbrück-Papiers in den Beschlussvorschlag des Vermittlungsausschusses lässt sich nicht allein damit rechtfertigen, dass der Bundesrat in seinem Anrufungsbegehren verlangte, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten und die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück zum Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen einzubeziehen. Hielte man den Vermittlungsausschuss allein aufgrund des weit gefassten Anrufungsbegehrens für berechtigt, die im Koch/Steinbrück-Papier vorgeschlagenen Kürzungen von Steuervergünstigungen in seinen Beschlussvorschlag einzubeziehen, so würde das vom Grundgesetz vorgegebene Rollenverhältnis des Bundestages und des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren in sein Gegenteil verkehrt: Die Anrufung käme dann einer Gesetzesinitiative des Bundesrates gleich, die nur auf dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Weg zulässig ist. Dem Bundestag würde auf diese Weise eine Veto-Position zugeordnet, die gerade ein kennzeichnendes Merkmal der Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren ist.

4. Der Mangel im Gesetzgebungsverfahren berührt die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Normen. Dabei kann die Frage, ob und in welchen Fällen die Evidenz eines Fehlers Voraussetzung seiner Rechtsfolgenerheblichkeit ist, auf sich beruhen. Daran, dass die Art und Weise der Einbringung des Koch/Steinbrück-Papiers in das parlamentarische Verfahren des Deutschen Bundestages und seine Behandlung in dessen Ausschüssen sowie im Plenum dem Vermittlungsausschuss nicht die Kompetenz eröffneten, die in Rede stehenden Änderungen in den Vermittlungsvorschlag aufzunehmen, konnte kein vernünftiger Zweifel bestehen. Für die an der Gesetzgebung beteiligten Organe war im Jahr 2003 bei verständiger Würdigung erkennbar, dass das Gesetzgebungsverfahren nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entsprach. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe waren durch das Senatsurteil vom 7. Dezember 1999 (BVerfGE 101, 297) geklärt.

5. Materiell sind die zur Prüfung vorgelegten Vorschriften allerdings mit der Verfassung vereinbar.

6. Unter dem Gesichtspunkt der Verlässlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung für weitgehend schon abgeschlossene Zeiträume hat der Senat lediglich die Unvereinbarkeit der angegriffenen Normen mit dem Grundgesetz festgestellt. Sie bleiben für den Zeitraum bis zu ihrer – bereits erfolgten – Bestätigung beziehungsweise Neuregelung anwendbar.

III. Nach den oben dargelegten Maßstäben ist auch § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 nicht in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen.

1. Der Vermittlungsausschuss hat eine Bestimmung in seinen Einigungsvorschlag aufgenommen, die den Rahmen des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens überschreitet. Die zeitliche Anwendungsregel des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 war bis zu dem Gesetzesbeschluss des Bundestags nicht Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens. Ihr Normgehalt ist dem Bundestag nicht aufgrund der dort geführten Debatte zurechenbar. Der Gesetzentwurf wurde zwar im Bundestag auf Vorschlag des Finanzausschusses um die Regelung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 ergänzt, durch den bestimmte Übernahmegewinne einem Steuersatz von 45 % unterworfen werden sollten. Damit sollte eine Herabschleusung der Steuerbelastung innerhalb eines Konzerns auf den allgemeinen Steuersatz von 40 % für Gewinne einer Körperschaft nicht nur - wie bereits seit dem 1. Januar 1999 - durch Gewinnausschüttung, sondern auch durch Umwandlung verhindert werden. Der Gesetzgeber wollte auf diese Weise eine Lücke schließen, die durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 entstanden war. Jedoch sah der Vorschlag des Finanzausschusses eine Lückenschließung erst ab dem Veranlagungsjahr 2000 vor, weil die Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes nach der in dem Gesetzentwurf des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 vorgesehenen Fassung von § 54 Abs. 1 KStG 1999 erstmals für den Veranlagungszeitraum 2000 gelten sollten. Das Vorziehen der Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 auf den 1. Januar 1999 ist erst vom Vermittlungsausschuss empfohlen worden. Die erstmalige Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 bereits ab dem Veranlagungszeitraum 1999 war dem Vorschlag des Finanzausschusses auch nicht inhärent. Die gesetzgeberischen Erwägungen dazu, dass überhaupt eine Lückenschließung erfolgen soll, tragen nicht ohne weiteres auch eine rückwirkende Schließung.

2. Unabhängig davon ist die zur Prüfung vorgelegte Vorschrift auch deshalb nicht in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen, weil der Vermittlungsausschuss den ihm durch das Anrufungsbegehren eingeräumten Spielraum überschritten hat. Der Bundesrat hat den Vermittlungsausschuss lediglich zu Art. 1 Nr. 6, 10, 15a und 30 Buchstabe f StBereinG 1999 angerufen. Diese Bestimmungen regeln verschiedene Änderungen des Einkommensteuergesetzes, die sich ausnahmslos zur Besteuerung der Erträge aus Kapitallebensversicherungen verhalten. Auch aus der Begründung des Anrufungsbegehrens ergibt sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat nur im Hinblick auf die Frage, ob die Erträge von Kapitallebensversicherungen besteuert werden sollen. Durch das auf einzelne Bestimmungen beschränkte und auf eine konkrete Fragestellung gerichtete Anrufungsbegehren war der Vermittlungsausschuss beauftragt, in der Frage der Einführung einer Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat zu vermitteln. Für die Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Besteuerung bestimmter Übernahmegewinne im Körperschaftsteuergesetz fehlte ihm dagegen die Kompetenz. Diese lag außerhalb der bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat, zu deren Ausgleich der Vermittlungsausschuss berufen ist.

3. Mit dem Vorschlag, in § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 die rückwirkende Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 ab dem Veranlagungsjahr 1999 vorzusehen, hat der Vermittlungsausschuss nicht lediglich eine offensichtliche Unrichtigkeit korrigiert. Auch unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und der Materialien des Gesetzes ist nicht eindeutig erkennbar, dass der Bundestag eine rückwirkende Lückenschließung beabsichtigte. Mit der Bestimmung der rückwirkenden Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 wird der rechtlich erhebliche Gehalt der Norm verändert. Deshalb handelt es sich nicht um eine Unrichtigkeit, die der Vermittlungsausschuss hätte korrigieren dürfen. Dies gilt selbst dann, wenn der Bundestag die Regelungsbedürftigkeit des rückwirkenden Inkrafttretens zur vollständigen Lückenschließung übersehen haben sollte.

4. Der Mangel im Gesetzgebungsverfahren berührt die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Norm. Dabei kann die Frage, ob und in welchen Fällen die Evidenz eines Fehlers Voraussetzung seiner Rechtsfolgenerheblichkeit ist, auch in diesem Fall auf sich beruhen. Für die an der Gesetzgebung beteiligten Organe war bei verständiger Würdigung erkennbar, dass das Verfahren der Einfügung des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entsprach. Im Hinblick auf die Bedeutung der Reichweite des Anrufungsbegehrens war die Verfassungsrechtslage bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 1999 (BVerfGE 101, 297) geklärt. Im Übrigen hätte der Vermittlungsausschuss ebenso wie Bundestag und Bundesrat auch die Maßgaben dieses Urteils bei ihren erst nach der Verkündung des Urteils gefassten Beschlüssen berücksichtigen können und müssen.

5. Der Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 76 Abs. 1 GG führt zur Nichtigkeit von § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999. Es bestehen keine zwingenden oder auch nur überwiegenden Gründe dafür, vom gesetzlichen Regelfall des § 78 Satz 1 BVerfGG abzuweichen und von einer Nichtigerklärung abzusehen. Dass im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung oder eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend abgeschlossenen Veranlagung von einer Nichtigerklärung abgesehen werden müsste, ist angesichts des kurzen Zeitraums, für den sich die Nichtigerklärung auswirkt, nicht ersichtlich.





BVerwG: Zusätzlicher Rundfunkbeitrag für Hotel- und Gästezimmer sowie Ferienwohnungen nur bei bereitgestellter Empfangsmöglichkeit verfassungsgemäß

BVerwG
Urteil vom 27.09.2017
6 C 32.16


Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass ein zusätzlicher Rundfunkbeitrag für Hotel- und Gästezimmer sowie Ferienwohnungen nur bei bereitgestellter Empfangsmöglichkeit verfassungsgemäß ist. Dabei geht es in der Entscheidung allein um den Beherbergungsbeitrag.

Der Rundfunkbeitrag im allgemeinen insbesondere in Privathaushalten wird vom BVerwG nicht in Abrede gestellt bzw. es wird insofern vom BVerwG nicht auf die Empfangsmöglichkeit abgestellt.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Rundfunkbeitragspflicht für Hotel- und Gästezimmer sowie Ferienwohnungen nur bei bereitgestellter Empfangsmöglichkeit verfassungsgemäß

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dass die Erhebung des zusätzlichen Rundfunkbeitrags für Hotel- und Gästezimmer sowie Ferienwohnungen (Beherbergungsbeitrag) nur in denjenigen Fällen mit dem Grundgesetz vereinbar ist, in denen der Betriebsstätteninhaber durch die Bereitstellung von Empfangsgeräten oder eines Internetzugangs die Möglichkeit eröffnet, das öffentlich-rechtliche Rundfunkangebot in den genannten Räumlichkeiten zu nutzen.

Nach dem seit dem 1. Januar 2013 geltenden Rundfunkbeitragsstaatsvertrag der Länder sind Inhaber von Betriebsstätten für die darin vorhandenen Hotel- und Gästezimmer sowie Ferienwohnungen zur Zahlung eines zusätzlichen Rundfunkbeitrags verpflichtet, der neben ihre allgemeine Beitragspflicht für die Betriebsstätte tritt. Für jedes Zimmer bzw. jede Ferienwohnung muss der Inhaber ein Drittel des Rundfunkbeitrags entrichten, wobei die erste Raumeinheit beitragsfrei ist.

Die Klägerin ist Inhaberin eines Hostels in Neu-Ulm. Sie zahlt den allgemeinen Betriebsstättenbeitrag, wendet sich aber gegen die Heranziehung zu dem zusätzlichen Rundfunkbeitrag für ihre Gästezimmer. Die Klage ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben.

Das Bundesverwaltungsgericht hat das berufungsgerichtliche Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Auch bei dem zusätzlich vom Betriebsstätteninhaber für Hotelzimmer etc. zu zahlenden Beherbergungsbeitrag handelt es sich um eine rundfunkspezifische nichtsteuerliche Abgabe, für die die Länder die Regelungsbefugnis besitzen und deren Erhebung verfassungsrechtlich einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Diese ist grundsätzlich gegeben, weil der Beherbergungsbeitrag einen besonderen Vorteil der Rundfunkempfangsmöglichkeit abgilt, der nicht bereits vom Betriebsstättenbeitrag erfasst wird. Die Möglichkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunkempfangs in den Hotel- und Gästezimmern sowie Ferienwohnungen ist ein preisbildender Umstand und stellt daher für den Betriebsstätteninhaber einen besonderen zusätzlichen Vorteil dar. Dieser zusätzliche Vorteil ist ihm zuzurechnen und von ihm abzugelten, wenn er seinen Gästen in den Zimmern und Ferienwohnungen die Rundfunkempfangsmöglichkeit bereitstellt. Das ist der Fall, wenn er die Räumlichkeiten mit Empfangsgeräten oder einem Internetzugang ausstattet, der seinen Gästen einen Rundfunkempfang ermöglicht.

Die Anknüpfung der Beitragspflicht an das Innehaben von Raumeinheiten führt grundsätzlich dazu, dass auch diejenigen Inhaber, die auf jegliche Empfangsmöglichkeit verzichten, der Beitragspflicht unterfallen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Bereich des Wohnungs- und des Betriebsstättenbeitrags (s. Urteile vom 18. März 2016 - BVerwG 6 C 6.15 - BVerwGE 154, 275 und vom 7. Dezember 2016 - BVerwG 6 C 49.15 -) als gerechtfertigt erachtet. Diese Raumeinheiten sind nahezu lückenlos mit Empfangsgeräten oder einem Internetzugang ausgestattet und in diesen Bereichen war eine „Flucht aus der Rundfunkgebühr“ festzustellen, weshalb Zweifel an der Belastungsgleichheit der Erhebung der Rundfunkgebühr bestanden. Darüber hinaus war der Nachweis der Verbreitung insbesondere von multifunktionalen Empfangsgeräten und die Zuordnung zum Rundfunkteilnehmer nicht mehr mit der gebotenen Sicherheit festzustellen. Aus den vorgenannten Gründen und zur Gewährleistung einer möglichst gleichmäßigen Erhebung war der Gesetzgeber nicht gehalten, im Bereich des Wohnungs- und Betriebsstättenbeitrags eine Befreiungsmöglichkeit bei Verzicht auf den Rundfunkempfang vorzusehen.

Bei der zusätzlichen Beitragspflicht des Betriebsstätteninhabers für seine Hotelzimmer etc. liegen diese Voraussetzungen für eine Inanspruchnahme von Inhabern, die ihren Gästen keine Rundfunkempfangsmöglichkeit in diesen Räumen eröffnen, jedoch nicht vor. Das Bundesverwaltungsgericht kann nicht aufgrund statistischer Daten verlässlich feststellen, dass Hotelzimmer etc. nahezu lückenlos mit Empfangsgeräten oder einem geeigneten Internetzugang ausgestattet sind. Darüber hinaus bereitet es keine unüberwindbaren Schwierigkeiten, das Vorhandensein eines Empfangsgerätes oder eines Internetzugangs festzustellen. Die Ausstattung der Zimmer mit Empfangsgeräten oder Internetzugang gehört zu denjenigen Merkmalen, die das Geschäftsmodell des Inhabers prägen und daher z.B. Gegenstand von Internetauftritten, Werbeprospekten und Bewertungen von Gästen im Internet sind. Aus diesen Gründen ist die Erhebung des zusätzlichen Beitrags vom Betriebsstätteninhaber verfassungsrechtlich nur gerechtfertigt, soweit dieser seinen Gästen eine Möglichkeit der Nutzung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in den Hotelzimmern etc. zur Verfügung stellt. Für die anderen erweist sich die Beitragsregelung als verfassungswidrig, weil der Gesetzgeber ihnen nicht den Nachweis ermöglicht hat, dass ihre Zimmer nicht mit Empfangsgeräten oder einem geeigneten Internetzugang ausgestattet sind. Die Verfassungswidrigkeit der Regelung des Beherbergungsbeitrags beschränkt sich hierauf. Sie erfasst nicht die Beitragspflicht derjenigen Betriebsstätteninhaber, die ihren Gästen eine Empfangsmöglichkeit in den Zimmern eröffnen.

Das Berufungsgericht hat nicht festgestellt, ob in den Zimmern der Klägerin eine von ihr eröffnete Rundfunkempfangsmöglichkeit besteht. Erst nach Aufklärung dieser Tatsache kann beurteilt werden, ob die Klägerin zur Zahlung des Beitrags verpflichtet ist oder aber die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Beherbergungsbeitrags dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen ist.

BVerwG 6 C 32.16 - Urteil vom 27. September 2017

Vorinstanzen:
VGH München 7 BV 15.1188 - Urteil vom 14. April 2016
VG Augsburg Au 7 K 14.792 - Urteil vom 20. April 2015



01.10.2017 - Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG - Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken in Kraft getreten

Das verfassungsrechtlich problematische Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) ist am 01.10.2017 in Kraft getreten.

Siehe auch zum Thema

Mehr als nur bedenklich - Regierungsentwurf: Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG)



Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG im Bundesgesetzblatt verkündet - Inkrafttreten 01.10.2017

Das zu Recht kritisierte Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG) wurde heute im Bundesgesetzblatt verkündet und tritt am 01.10.2017 in Kraft.

Siehe auch zum Thema

Mehr als nur bedenklich - Regierungsentwurf: Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG)



PDF-Datei - Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zum Netzwwerkdurchsetzungsgesetz - NetzDG

Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages zur (Un-)Vereinbarkeit des Netzwwerkdurchsetzungsgesetzes - NetzDG mit der Meinungsfreiheit steht als PDF-Datei zur Verfügung:

Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Deutsche Bundestages zum NetzDG

Siehe auch zum Thema: Mehr als nur bedenklich - Regierungsentwurf: Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG)


BVerfG lehnt weitere Eilanträge gegen Vorratsdatenspeicherung ab - Verfassungsrechtliche Bewertung nicht für Eilverfahren geeignet

BVerfG
Beschlüsse vom 26.03.2017
1 BvR 3156/15 und 1 BvR 141/16


Das Bundesverfassungsgericht hat erneut Eilanträge gegen die Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung abgelehnt und auf die Hauptsacheverfahren verwiesen.

Die Pressemitteilung des BVerfG:

Weitere Eilanträge in Sachen „Vorratsdatenspeicherung“ erfolglos

Die Antragsteller haben sich mit ihren Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erneut gegen das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten vom 10. Dezember 2015 gewandt. Sie wollten insbesondere mit Blick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 21. Dezember 2016 (Rs. C-203/15 und C-698/15) erreichen, dass die durch dieses Gesetz eingeführte Vorratsspeicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten zu Zwecken der öffentlichen Sicherheit außer Kraft gesetzt wird. Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Auch nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union stellen sich hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bewertung der angegriffenen Regelungen Fragen, die nicht zur Klärung im Eilrechtschutzverfahren geeignet sind.


Die Volltexte der Entscheidungen finden Sie hier:

1 BVR 3156/15

1 BvR 141/16

Mehr als nur bedenklich - Regierungsentwurf: Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG

Die Bundesregierung hat nun den Regierungsentwurf des bereits mehrfach veränderten Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken (Netzwerkdurchsetzungsgesetz – NetzDG) beschlossen. Ziel ist es Hasspostings und Fake-News in sozialen Netzwerken zu bekämpfen.

Der Gesetzentwurf wird völlig zu Recht von vielen Seiten kritisiert und ist ein völlig unbrauchbarer Schnellschuss, der in der Praxis zu ganz erheblichen Schwierigkeiten führen wird. Auch handwerklich ist der Entwurf - wie so oft - missglückt.

Insbesondere ist verfassungsrechtlich bedenklich, dass Betreibern sozialer Netzwerke letztlich staatliche Aufgaben auferlegt werden. Die Unterscheidung zulässiger Meinungsäußerung und rechtswidriger Inhalte ist im Grenzbereich immer schwierig und oft eine Frage einer Abwägung im Einzelfall. Im Zweifel werden die Betreiber sozialer Netzwerke Inhalte immer löschen, um Bußgelder zu vermeiden.

Es bleibt zu hoffen, dass spätestens das Bundesverfassungsgericht diesem gesetzgeberischen Unsinn einen Riegel vorschiebt.