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BVerfG: Verfassungsbeschwerde gegen Auswertung und Verwertung von EncroChat-Daten im Strafverfahren unzulässig - keine Entscheidung über verfassungsrechtliche Fragen

BVerfG
Beschluss vom 09.08.2023
2 BvR 558/22


Das BVerfG hat im vorliegenden Fall entschieden, dass die Verfassungsbeschwerde gegen die Auswertung und Verwertung von EncroChat-Daten im Strafverfahren unzulässig ist und sich nicht näher mit den verfassungsrechtlichen Fragen im Zusammenhang mit Verwertung von EncroChat-Daten befasst.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgericht:
Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung nach Auswertung übermittelter

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde gegen eine strafrechtliche Verurteilung nicht zur Entscheidung angenommen, bei der sich das Landgericht maßgeblich auf die im Wege internationaler Rechtshilfe an deutsche Ermittlungsbehörden übermittelten Daten von Mobiltelefonen des Anbieters EncroChat stützte. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer den Subsidiaritätsgrundsatz nicht gewahrt und eine Grundrechtsverletzung nicht substantiiert dargetan hat.

Mit sieben weiteren, nicht veröffentlichten Beschlüssen vom 9. August 2023 hat die 3. Kammer des Zweiten Senats ähnlich gelagerte Fälle nicht zur Entscheidung angenommen (Az. 2 BvR 2005/22, 2 BvR 2022/22, 2 BvR 2024/22, 2 BvR 2025/22, 2 BvR 2048/22, 2 BvR 594/23 und 2 BvR 867/23).

Über die mit der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen ist damit in der Sache nicht entschieden. Beim Bundesverfassungsgericht sind derzeit fünf weitere Verfassungsbeschwerden zur Verwertbarkeit von EncroChat-Daten anhängig (Az. 2 BvR 684/22, 2 BvR 1832/22, 2 BvR 2143/22, 2 BvR 64/23 und 2 BvR 1008/23).

Sachverhalt:

Das Unternehmen EncroChat bot seinen Nutzern Krypto-Mobiltelefone mit einer besonderen Softwareausstattung an. Nach bisherigen Erkenntnissen der Strafverfolgungsbehörden wurden die Mobiltelefone in großem Maße und vorwiegend europaweit zur Begehung schwerer Straftaten genutzt. Von April bis Juni 2020 erfassten französische Ermittlungsbehörden die über den in Roubaix befindlichen Server des Unternehmens laufenden Daten. Die zu Mobiltelefonen auf deutschem Staatsgebiet anfallenden Daten übermittelten die französischen Behörden im Wege internationaler Rechtshilfe den deutschen Ermittlungsbehörden zur Verwendung in Strafverfahren.

Am 23. Juli 2021 verurteilte das Landgericht Rostock den Beschwerdeführer wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in fünf Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren. Seine Überzeugung von der Täterschaft stützte das Landgericht auf aus seiner Sicht dem Beschwerdeführer zuzuordnende Chat-Verläufe, die über den Anbieter EncroChat geführt wurden. Die dagegen gerichtete Revision verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 8. Februar 2022.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Entscheidungen des Landgerichts Rostock und des Bundesgerichtshofs. Er macht die Verletzung seines Grundrechts auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) sowie der europäischen Grundrechte aus Art. 7 und Art. 8 der Charta der Europäischen Union (GRCh) geltend. Die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter begründet er damit, dass der Bundesgerichtshof zahlreiche Fragen zur Zulässigkeit und Verwertbarkeit der EncroChat-Daten dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht vorgelegt habe. Die Art. 7 und Art. 8 GRCh seien verletzt, weil die französischen Behörden in großem Umfang EncroChat-Daten ausgespäht, gesammelt und hiernach an die deutschen Behörden weitergegeben hätten.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig.

1. Hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRCh hat der Beschwerdeführer den Subsidiaritätsgrundsatz nicht gewahrt.

Danach soll der gerügte Grundrechtsverstoß nach Möglichkeit schon im fachgerichtlichen Verfahren beseitigt werden. Im Strafverfahren verlangt der Grundsatz der Subsidiarität von einem Beschwerdeführer, der seine Grundrechte durch Verstöße des Tatgerichts verletzt sieht, diese im Revisionsverfahren so zu rügen, dass das Revisionsgericht in eine sachliche Prüfung der Rüge eintritt.

Vorliegend hat der Beschwerdeführer eine Verletzung von Art. 7 und Art. 8 GRCh nicht in zulässiger Weise mit der Revision gerügt. Er hat im Revisionsverfahren zu den Verfahrenstatsachen nicht ausreichend vorgetragen, um dem Revisionsgericht den Eintritt in die sachliche Prüfung der Beweisverwertung zu ermöglichen. Seinem Revisionsvortrag fehlt es insoweit an der Vorlage der vom Beschwerdeführer in Bezug genommenen Aktenteile.

2. In Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG hat der Beschwerdeführer eine Grundrechtsverletzung nicht substantiiert dargetan.

Ein Rechtsuchender kann seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden, dass ein Gericht die Verpflichtung zur Vorlage an ein anderes Gericht außer Acht lässt. Die Nichteinleitung eines Vorlageverfahrens nach Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) kann eine der einheitlichen Auslegung bedürftige Frage des Unionsrechts der Entscheidung des gesetzlichen Richters – des Gerichtshofs der Europäischen Union – vorenthalten und damit das Ergebnis der Entscheidung beeinflussen. Für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV prüft das Bundesverfassungsgericht nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist.

Eine solche Konstellation vermag der Beschwerdeführer nicht aufzuzeigen. Es ist anhand des Beschwerdevortrags nicht erkennbar, dass der Bundesgerichtshof in unvertretbarer Weise von einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat. Die Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union war offensichtlich nicht entscheidungserheblich. Die Beantwortung von europarechtlichen Fragen zur Rechtmäßigkeit der Erhebung, Übermittlung und Verwertung von EncroChat-Daten konnte keinen Einfluss auf die Revisionsentscheidung nehmen, weil der Bundesgerichtshof über die Rechtmäßigkeit der Beweisverwertung vorliegend nicht zu entscheiden hatte. Denn der Beschwerdeführer hat die Beweisverwertung durch das Landgericht mit der Revision nicht in zulässiger Weise gerügt.

3. Über die mit der Verwertbarkeit der EncroChat-Daten verbundenen verfassungsrechtlichen Fragen ist damit in der Sache nicht entschieden.



BGH: Gegen unterlassene Zulassung der Rechtsbeschwerde in Markenlöschungsverfahren kann nur Verfassungsbeschwerde eingelegt werden

BGH
Beschluss vom 01.06.2023
I ZB 65/22
Silver Horse / Power Horse
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; MarkenG § 83 Abs. 3 Nr. 6


Der BGH hat entschieden, dass gegen die unterlassene Zulassung der Rechtsbeschwerde in Markenlöschungsverfahren nur Verfassungsbeschwerde eingelegt werden kann.

Leitsätze des BGH:
a) Die Unterlassung einer an sich gebotenen Zulassung der Rechtsbeschwerde stellt keinen Begründungsmangel dar und kann deshalb nicht mit Erfolg gemäß § 83 Abs. 3 Nr. 6 MarkenG mit der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde angegriffen werden. Gegen eine nicht gerechtfertigte Unterlassung der Zulassung der Rechtsbeschwerde ist allein die Verfassungsbeschwerde mit der Begründung der Verletzung des Grundrechts auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes eröffnet.

b) Für das Bestreiten der Benutzung einer Widerspruchsmarke gemäß § 43 Abs. 1 MarkenG ist eine eindeutige Erklärung erforderlich. Allgemeine Ausführungen zur Benutzungslage in anderem Zusammenhang, wie zum Beispiel bei der Erörterung der Ähnlichkeit sich gegenüberstehender Waren oder Dienstleistungen, der Kennzeichnungskraft oder anderer Aspekte der Verwechslungsgefahr können grundsätzlich nicht als Nichtbenutzungseinwand ausgelegt werden.

BGH, Beschluss vom 1. Juni 2023 - I ZB 65/22 - Bundespatentgericht

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BVerfG: Ansprüche auf Geldentschädigung wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts sind nicht vererblich - Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle

BVerfG
Beschlüsse vom 24.10.2022
1 BvR 19/22 und 1 BvR 110/22

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Ansprüche auf Geldentschädigung wegen der Verletzung des Persönlichkeitsrechts nicht vererblich sind. Es ging um Ansprüche der Kohl-Witwe im Zusammenhang mit der Publikation "Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle".

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Verfassungsbeschwerden betreffend das postmortale Persönlichkeitsrecht des verstorbenen vormaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl erfolglos

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichten Beschlüssen zwei Verfassungsbeschwerden der Witwe und Alleinerbin des verstorbenen vormaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl (fortan: „Erblasser“) nicht zur Entscheidung angenommen. Die Verfassungsbeschwerden richteten sich gegen zivilgerichtliche Entscheidungen, die auf das postmortale Persönlichkeitsrecht gestützte Klagen auf Unterlassung sowie auf Zahlung einer Geldentschädigung betrafen.

Sachverhalt:

Gegenstand der einen Verfassungsbeschwerde sind gerichtliche Entscheidungen in einem zunächst vom Erblasser und nach dessen Tod von der Beschwerdeführerin gegen die Beklagten geführten Verfahren gerichtet auf Unterlassung der Veröffentlichung und Verbreitung von 116 Passagen des Buches „Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle“. Die angegriffenen Urteile des Oberlandesgerichts und des Bundesgerichtshofs sahen die Unterlassungsklage nur teilweise als begründet an.

Die andere Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen gerichtliche Urteile, die das Fortbestehen des Geldentschädigungsanspruchs wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Erblassers über dessen Tod hinaus betrafen. Der Erblasser hatte die Beklagten im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Buches „Vermächtnis – Die Kohl-Protokolle“ auf Geldentschädigung in Höhe von 5 Millionen Euro in Anspruch genommen. Nach dem Versterben des Erblassers während des Berufungsverfahrens wies das Oberlandesgericht die von der Beschwerdeführerin als Alleinerbin fortgeführte Klage insgesamt ab. Die hiergegen gerichtete Revision blieb ohne Erfolg.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerden sind nicht zur Entscheidung anzunehmen.

I. Die Verfassungsbeschwerde betreffend die Unterlassungsklage hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Beschwerdeführerin ist als Alleinerbin des Erblassers zwar befugt, dessen postmortales Persönlichkeitsrecht im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machen. Sie hat ihre Verfassungsbeschwerde jedoch nicht hinlänglich substantiiert begründet.

1. Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sind nur lebende Personen. Das Fortwirken des Persönlichkeitsrechts nach dem Tode ist zu verneinen. Über den Tod des Menschen hinaus bleibt jedoch der Schutzauftrag des Art. 1 Abs. 1 GG bestehen. Es würde mit dem verfassungsverbürgten Gebot der Unverletzlichkeit der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt, unvereinbar sein, wenn der Mensch, dem Würde kraft seines Personseins zukommt, in diesem allgemeinen Achtungsanspruch nach seinem Tode herabgewürdigt oder erniedrigt werden dürfte.

a) Die Schutzwirkungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sind mit dem aus Art. 1 Abs. 1 GG resultierenden Schutz nicht identisch. Das Bundesverfassungsgericht betont vielmehr in ständiger Rechtsprechung die Differenz zwischen Menschenwürde und allgemeinem Persönlichkeitsrecht, wie sich etwa daraus ergibt, dass die Menschenwürde im Konflikt mit der Meinungsfreiheit nicht abwägungsfähig ist, während es bei einem Konflikt der Meinungsfreiheit mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht regelmäßig zu einer Abwägung kommt. Unabhängig von der Frage, wie weit der Achtungsanspruch Verstorbener im Einzelfall geht, reicht er jedenfalls nicht weiter als der Ehrschutz lebender Personen.

b) Zwar kann das Unterschieben nicht getätigter Äußerungen wie auch die unrichtige, verfälschte und entstellte Wiedergabe einer Äußerung, insbesondere in Zitatform, das allgemeine Persönlichkeitsrecht in besonderem Maße berühren. Um von einer die Menschenwürde in ihrem unantastbaren Kern treffenden Verletzung auszugehen, muss jedoch eine grobe Herabwürdigung und Erniedrigung des allgemeinen Achtungsanspruchs, der dem Menschen kraft seines Personseins zusteht, oder des sittlichen, personalen und sozialen Geltungswerts, den die Person durch ihre eigene Lebensleistung erworben hat, dargelegt werden.

2. Die Beschwerdeführerin hat nicht darlegen können, dass durch die angegriffenen Passagen der aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende allgemeine Achtungsanspruch des Erblassers grob herabgewürdigt oder erniedrigt wurde. Der vom Erblasser durch seine Lebensleistung erworbene sittliche, personale und soziale Geltungswert ist jedenfalls nicht in einer den Kern der Menschenwürde erfassenden Weise verletzt worden. Durch die freiwillige Preisgabe von Erinnerungen aus der Zeit seiner politischen Verantwortungsübernahme gegenüber einem vertraglich zur Anfertigung von Entwürfen seiner Memoiren verpflichteten Journalisten ist nicht der innerste Kern der Persönlichkeit des Erblassers betroffen. Unter Beachtung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs sind die angegriffenen Urteile nicht zu beanstanden. Der Bundesgerichtshof hat – wie schon das Oberlandesgericht – seinem Urteil die zutreffenden verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zur Reichweite des postmortalen Persönlichkeitsrechts aus Art. 1 Abs. 1 GG zugrundegelegt. Er ist zutreffend davon ausgegangen, dass die für die Annahme eines Verstoßes notwendige, die unantastbare Menschenwürde treffende Verletzung vorliegend nicht gegeben ist. Eine Infragestellung des durch die Lebensstellung erworbenen Geltungsanspruchs genügt nicht. Hiergegen ist aus verfassungsgerichtlicher Sicht nichts zu erinnern.

II. Die Verfassungsbeschwerde betreffend das Fortbestehen des Geldentschädigungsanspruchs wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts des Erblassers über dessen Tod hinaus ist unbegründet.

1. Ebenso wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines lebenden Menschen begründet der postmortale Schutz der Menschenwürde nicht selbst bestimmte materiellrechtliche Ansprüche gegenüber Verletzungen durch Private. Die Aufstellung und normative Umsetzung eines angemessenen Schutzkonzepts ist Sache des Gesetzgebers, dem grundsätzlich auch dann ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zukommt, wenn er verpflichtet ist, Maßnahmen zum Schutz eines Rechtsguts zu ergreifen. Gleiches gilt, wenn die Zivilgerichte mangels einer Entscheidung des Gesetzgebers die Schutzpflicht wahrnehmen.

2. Nach diesem Maßstab haben die erkennenden Gerichte die aus Art. 1 Abs. 1 GG folgende Schutzpflicht nicht dadurch verletzt, dass sie der Beschwerdeführerin als Alleinerbin des Erblassers einen Entschädigungsanspruch wegen einer zu Lebzeiten des Erblassers entstandenen Persönlichkeitsrechtsverletzung verweigert haben.

a) Der aus der Garantie der Menschenwürde folgende Schutzauftrag gebietet nicht die Bereitstellung einer bestimmten Sanktion für Würdeverletzungen. Insbesondere gibt es keinen verfassungsrechtlichen Grundsatz des Inhalts, dass eine Verletzung der Menschenwürde stets einen Entschädigungsanspruch nach sich ziehen muss.

b) Der Bundesgerichtshof hat – entsprechend dem angegriffenen Urteil des Oberlandesgerichts – in dem angegriffenen Urteil ausgeführt, der Anspruch auf Geldentschädigung wegen Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts sei im Grundsatz nicht vererblich. Dies gelte auch dann, wenn der Anspruch im Zeitpunkt des Todes des Verletzten und ursprünglichen Anspruchsinhabers bereits bei Gericht anhängig oder gar rechtshängig sei. Die grundsätzliche Unvererblichkeit ergebe sich entscheidend aus der Funktion des Geldentschädigungsanspruchs. Insoweit stehe der Genugtuungsgedanke im Vordergrund. Einem Verstorbenen könne aber Genugtuung nicht mehr verschafft werden. Dass der Geldentschädigungsanspruch auch der Prävention diene, gebiete das (Fort-)Bestehen eines solchen Anspruchs nach dem Tode auch nicht unter dem Aspekt der Menschenwürde.

c) Diese Ausführungen begegnen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Aus der Garantie der Menschenwürde folgt keine Pflicht der Zivilgerichte, die zivilrechtlichen Anspruchsgrundlagen des persönlichkeitsrechtlichen Sanktionensystems auszuweiten. Verfassungsrechtlich geboten ist dies jedenfalls dann nicht, wenn die Rechtsordnung andere Möglichkeiten zum Schutz der postmortalen Menschenwürde bereithält. Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, dass die postmortale Menschenwürde des Erblassers gegen Übergriffe durch die Beklagten schutzlos gestellt war. Dem Erblasser standen zu Lebzeiten, der Beschwerdeführerin stehen nach seinem Versterben Unterlassungsansprüche gegen die Beklagten zu.


Die Volltexte der Entscheidungen finden Sie hier:
BVerfG, Beschluss vom 24.10.2022 - 1 BvR 19/22

BVerfG, Beschluss vom 24.10.2022 - 1 BvR 110,22

LG Frankfurt: Twitter muss wie Facebook bei ehrverletzenden Inhalten auch kerngleiche Tweets und Memes ohne erneute Inkenntnissetzung automatisch löschen

LG Frankfurt
Urteil vom 14.12.2022
2-03 O 325/22

Das LG Frankfurt hat wie erwartet entschieden, dass Twitter wie Facebook bei ehrverletzenden Inhalten auch kerngleiche Tweets und Memes ohne erneute Inkenntnissetzung automatisch löschen muss.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Persönlichkeitsrecht - Ehrverletzung durch herabwürdigenden Tweet

Twitter muss bei einem konkreten Hinweis auf eine Persönlichkeitsrechtsverletzung auch kerngleiche Äußerungen entfernen.

Das Landgericht Frankfurt am Main hat heute entschieden: Betroffene können von Twitter verlangen, dass falsche oder ehrverletzende Tweets über sie gelöscht werden. Auch sinngemäße Kommentare mit identischem Äußerungskern muss Twitter entfernen, sobald es von der konkreten Persönlichkeitsrechtsverletzung Kenntnis erlangt.

Im September 2022 erschienen auf Twitter diverse Kommentare, in denen wahrheitswidrig behauptet wurde, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg habe „eine Nähe zur Pädophilie“ und er habe „einen Seitensprung gemacht“. Außerdem wurde über ihn verbreitet, er sei in „antisemitische Skandale“ verstrickt und er sei „Teil eines antisemitischen Packs“.

Die zuständige Pressekammer des Landgerichts Frankfurt am Main stellte in einem Eilverfahren fest, dass diese ehrenrührigen Behauptungen unwahr sind. Die Bezeichnung als Antisemit sei zwar zunächst eine Meinungsäußerung. Sie sei aber jedenfalls in dem gewählten Kontext rechtswidrig, denn sie trage nicht zur öffentlichen Meinungsbildung bei und ziele erkennbar darauf ab, in emotionalisierender Form Stimmung gegen den Antisemitismusbeauftragten zu machen.

Nachdem der Antisemitismusbeauftragte die Entfernung dieser Kommentare verlangt hat, hätte Twitter ihre Verbreitung unverzüglich unterlassen und einstellen müssen. Darüber hinaus entschied die Kammer: „Das Unterlassungsgebot greift nicht nur dann, wenn eine Äußerung wortgleich wiederholt wird, sondern auch, wenn die darin enthaltenen Mitteilungen sinngemäß erneut veröffentlicht werden.“ Unter weiter: „Die Äußerungen werden nicht in jeglichem Kontext untersagt. Betroffen sind nur solche Kommentare, die als gleichwertig anzusehen sind und die trotz gewisser Abweichungen einen identischen Äußerungskern aufweisen.“

Twitter werde damit auch keine allgemeine Monitoring-Pflicht im Hinblick auf seine rund 237 Mio. Nutzer auferlegt. Eine Prüfpflicht bestehe nämlich nur hinsichtlich der konkret beanstandeten Persönlichkeitsrechtsverletzung. „Das deutsche Recht mutet jedem Verpflichteten eines Unterlassungsgebots zu, selbst festzustellen, ob in einer Abwandlung das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt und damit kerngleich ist. Twitter befindet sich damit in keiner anderen Situation, als wenn eine bestimmte Rechtsverletzung gemeldet wird. Auch in diesem Fall muss Twitter prüfen, ob diese Rechtsverletzung eine Löschung bedingt oder nicht“, so die Vorsitzende in der Urteilsbegründung.

Als zulässig erachtete die Kammer indes die Äußerung eines Nutzers, wonach der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg in die jährlich vom Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles veröffentlichte Liste der größten Antisemiten weltweit aufgenommen worden ist. Unabhängig davon, ob die Aufnahme in diese Liste gerechtfertigt sei, dürfe darüber informiert werden. Dagegen müsse sich der Antisemitismusbeauftragte im öffentlichen Meinungskampf zur Wehr setzen.

Das Urteil (Az. 2-03 O 325/22) ist nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung zum Oberlandesgericht Frankfurt am Main angefochten werden. Die Entscheidung wird in Kürze unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de abrufbar sein.

Ergänzender Hinweis:
Dieselbe Pressekammer des Landgerichts Frankfurt am Main hatte mit Urteil vom 8.4.2022 (Az.: 2-03 O 188/21) entschieden, dass in einer Wort-Bild-Kombination (sog. „Meme“) unterge-schobene Falschzitate auf Facebook auch ohne erneuten Hinweis gelöscht werden müssen, wenn sie einen kerngleichen Inhalt aufweisen. Geklagt hatte dort MdB Renate Künast.



BVerfG: Beschaffung von Daten von Informanten durch Journalisten regelmäßig von Pressefreiheit gedeckt und nicht als Datenhehlerei nach § 202d StGB strafbar

BVerfG
Beschluss vom 30.03.2022
1 BvR 2821/16


Das Bundesverfassungsgericht hat ausgeführt, dass die Beschaffung von Daten von Informanten durch Journalisten regelmäßig von der Pressefreiheit gedeckt und nicht als Datenhehlerei nach § 202d StGB strafbar ist. Da die Verfassungsbeschwerde aber nicht hinreichend substantiiert war, hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde als unzulässig verworfen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung von Grundrechten durch die angegriffenen Regelungen nicht hinreichend substantiiert dargelegt haben.

1. Die Beschwerdeführer können grundsätzlich Träger von Grundrechten und damit beschwerdefähig sein. Das gilt auch für die Beschwerdeführer zu 2) und zu 9), die als eingetragene Vereine (vgl. BVerfGE 3, 383 <390>; 10, 221 <225>; 24, 278 <282>; 97, 228 <253>; 105, 279 <292 f.>) und damit als inländische juristische Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG grundrechtsberechtigt sind. Juristische Personen können sich grundsätzlich auf die von den Beschwerdeführern geltend gemachten Grundrechte der Presse- und Rundfunkfreiheit berufen (vgl. BVerfGE 95, 28 <34 f.>).

2. Die Beschwerdeführer haben jedoch nicht den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG entsprechend dargelegt, beschwerdebefugt zu sein.

a) Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1, § 92 BVerfGG ist zur Begründung der Verfassungsbeschwerde das angeblich verletzte Recht zu bezeichnen und der seine Verletzung enthaltende Vorgang substantiiert darzulegen (vgl. BVerfGE 9, 109 <114 f.>; 81, 208 <214>; 99, 84 <87>). Die Verfassungsbeschwerde muss sich mit dem zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des vorgetragenen Sachverhalts auseinandersetzen (vgl. BVerfGE 89, 155 <171>; 101, 331 <345 f.>). Die Beschwerdeführenden müssen darlegen, mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidiert; sie müssen das Grundrecht in Bezug zu dem Lebenssachverhalt setzen und die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung verdeutlichen (vgl. BVerfGE 79, 203 <209>; 108, 370 <386 f.>; 120, 274 <298>; BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 88). Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe aufgezeigt werden, inwieweit Grundrechte durch die angegriffene Maßnahme verletzt sein sollen (vgl. BVerfGE 99, 84 <87>; 101, 331 <346>; 115, 166 <179 f.>; 130, 1 <21>). Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen eine gesetzliche Vorschrift, so muss der Beschwerdeführer ausreichend substantiiert geltend machen, durch die angegriffene Norm selbst, gegenwärtig und unmittelbar verletzt zu sein (vgl. BVerfGE 40, 141 <156>; 60, 360 <370>; 72, 39 <43>; 79, 1 <13>; stRspr). Zu den Begründungsanforderungen an eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde gehört auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der einfachrechtlichen Rechtslage (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 27. Juli 2015 - 1 BvR 1560/15 -, Rn. 5; vom 20. Mai 2021 - 1 BvR 928/21 -, Rn. 12).

b) Diesen Maßstäben genügt die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis nicht. Zwar ist der Schutzbereich der Presse- und Rundfunkfreiheit eröffnet, und die Beschwerdeführer haben dargelegt, dass die Tätigkeiten, die sie durch die angegriffenen Normen für beeinträchtigt halten, dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG unterfallen. Der Vortrag der Beschwerdeführer genügt hinsichtlich des geltend gemachten Eingriffs und ihrer Beschwer jedoch nicht den Anforderungen.

aa) Das Grundrecht der Presse- und Rundfunkfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG schützt den gesamten Prozess der Herstellung und Verbreitung von digitalen oder analogen Presseerzeugnissen und Rundfunksendungen von der Informationsgewinnung bis zur Veröffentlichung und zum Vertrieb der hergestellten Inhalte (vgl. BVerfGE 10, 118 <121>; 66, 116 <133>; 77, 65 <74 ff.>; 117, 244 <258 f.>; stRspr). Dabei schützt das Grundrecht die an diesem Prozess berufsmäßig beteiligten Personen nicht nur vor gezielter staatlicher Einflussnahme auf die inhaltliche und formelle Gestaltung der Presse- und Rundfunkerzeugnisse. Als Grundentscheidung für ein freies Presse- und Rundfunkwesen gewährleistet Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG vielmehr auch die institutionellen Rahmen- und Funktionsbedingungen der journalistischen Tätigkeit (vgl. BVerfGE 20, 162 <174 ff.>; 66, 116 <133 f.>). Zu diesen unentbehrlichen Funktionsbedingungen freier Presse- und Rundfunktätigkeit gehören insbesondere auch die grundsätzliche Zugänglichkeit der für diese Tätigkeit benötigten Informationen. Erst der prinzipiell ungehinderte Zugang zur Information versetzt die Medien in den Stand, die ihnen in der freiheitlichen Demokratie zukommende Funktion wahrzunehmen (BVerfGE 91, 125 <134>; 103, 44 <59>). Dies bedingt auch die Notwendigkeit eines besonderen Schutzes der für die Informationsgewinnung benötigten Quellen, des in diesem Rahmen vorausgesetzten Vertrauensverhältnisses und der Vertraulichkeit der Redaktionsarbeit (vgl. BVerfGE 20, 162 <176>; 66, 116 <134>; 100, 313 <365>; 117, 244 <259>). Zudem betrifft der Schutz vor inhaltsbezogenen Einwirkungen nicht allein Eingriffe im traditionellen Sinne (zum herkömmlichen Eingriffsbegriff siehe BVerfGE 105, 279 <300>), sondern kann auch bei mittelbaren Einwirkungen auf die Presse (vgl. BVerfGE 52, 283 <296>) ausgelöst werden, wenn sie in der Zielsetzung und ihren Wirkungen Eingriffen gleichkommen (vgl. BVerfGE 105, 252 <273>). Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt den Trägern der Pressefreiheit daher ein subjektives Abwehrrecht auch gegen Beeinträchtigungen, die mittelbar über eine Einflussnahme des Staates auf Dritte eintreten, etwa dadurch, dass das Verhalten dieser Dritten die publizistischen Wirkungsmöglichkeiten oder die finanziellen Erträge des Presseorgans in einer Weise nachteilig beeinflusst, die einem Eingriff gleichkommt. Dass über faktische Nachteile des Informationshandelns hinaus rechtliche Auswirkungen an die staatliche Maßnahme geknüpft sein müssen, ist nicht Voraussetzung dafür, dass die Kommunikationsfreiheit beeinträchtigt sein kann (vgl. BVerfGE 113, 63 <76 f.>).

bb) Es bleibt in jedem Fall Sache der Beschwerdeführer, die Einzelheiten der von ihnen erstrebten Handlungen, deren Verbot sie bekämpfen möchten, hinreichend substantiiert darzulegen, so dass das Bundesverfassungsgericht in die Lage versetzt wird, die Frage der unmittelbaren Betroffenheit zu beurteilen (§ 23 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 92 BVerfGG; vgl. BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u.a. -, Rn. 88).

Die Beschwerdeführer tragen nicht hinreichend substantiiert vor, dass ein grundrechtlich geschütztes Verhalten von der angegriffenen Norm nach Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Systematik betroffen und eine Auslegung im Einklang mit Art. 5 Abs. 2 GG nicht möglich ist. Insbesondere sind die von den Beschwerdeführern vorgetragenen Beispielsfälle vom Tatbestand der Datenhehlerei eindeutig nicht umfasst. Mangels ersichtlicher Strafbarkeit besteht hier kein Risiko von Journalisten betreffenden strafrechtlichen Ermittlungsmaßnahmen nach § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO (n.F.). Das Vorbringen der Beschwerdeführer lässt auch nicht erkennen, dass die angegriffenen Vorschriften für sie oder Dritte eine einem Eingriff gleichkommende abschreckende Wirkung entfalten könnten.

(1) Regelmäßig dürfte es bereits an der rechtswidrigen Tat eines anderen im Sinne des § 202d Abs. 1 StGB fehlen, durch die die Daten erlangt wurden. Handelt es sich bei dem Informanten um einen an sich berechtigten Mitarbeiter des Betroffenen, der auf die übermittelten Daten zugreifen kann, kann sich der Mitarbeiter und Informant durch die Weitergabe der Daten strafbar gemacht haben. Er hätte die Daten aber nicht durch eine rechtswidrige Tat erlangt, da er schon zuvor auf sie zugreifen konnte.

(2) Selbst bei unterstellter Verwirklichung des objektiven Tatbestandes bestehen unter Zugrundelegung des Vortrags der Beschwerdeführer erhebliche Zweifel daran, dass der subjektive Tatbestand der Datenhehlerei erfüllt sein könnte. Zunächst ist fraglich, ob sich aus den Ausführungen der Beschwerdeführer zu den von ihnen gebildeten Beispielsfällen überhaupt ein bedingter Vorsatz des Handelnden im Hinblick auf die rechtswidrige Vortat ergibt. Der Gesetzesbegründung nach reicht das Bewusstsein, dass die Daten aus irgendeiner rechtswidrigen Tat stammen, nicht aus (BTDrucks 18/5088, S. 47). Dass ein Journalist eine rechtwidrige Beschaffung der Daten aufgrund ihrer Sensibilität nicht ausschließen kann, genügt gerade nicht.

Weiter fehlt es an hinreichendem Vortrag, der eine Bereicherungs- oder Schädigungsabsicht des Journalisten erkennen ließe. Die (Dritt-)Bereicherung und die Schädigung setzen gemäß der Gesetzesbegründung ausdrücklich Absicht voraus (BTDrucks 18/5088, S. 47). Die Schädigung beziehungsweise der Vorteil müssen vom Täter als Erfolg gewollt werden, es muss ihm gerade darauf ankommen. Steht die Aufklärung von Missständen im Vordergrund, richtet sich die Absicht des Täters hierauf, nicht aber auf die Schädigung.

(3) Letztlich fehlt es an hinreichendem Vortrag der Beschwerdeführer dazu, warum der Tatbestandsausschluss für sie keine Anwendung finden sollte. In Anbetracht der weiteren Gesetzesbegründung drängt sich entgegen der Annahme der Beschwerdeführer auf, dass ein umfassender Ausschluss journalistischer Tätigkeiten bezweckt wird ("Zum anderen wird klargestellt, dass [...] insbesondere journalistische Tätigkeiten unter den Tatbestandsausschluss fallen."; BTDrucks 18/5088, S. 48). Der Tatbestandsausschluss zielt darauf ab, dass eine journalistische Tätigkeit auch dann nicht unter Strafe gestellt wird, wenn Recherchen gegebenenfalls unergiebig sind und es im Ergebnis nicht zu einer Veröffentlichung kommt. Entscheidend ist die Vorstellung des jeweiligen Journalisten, dass seine Handlungen in eine konkrete Veröffentlichung münden kann.

Soweit die Beschwerdeführer vortragen, das Ausschließlichkeitskriterium des § 202d Abs. 3 Satz 1 StGB werde der journalistischen Praxis nicht gerecht, weil regelmäßig ein Bündel von Motiven vorliege, überzeugt dies bereits im Ansatz nicht. Die Lesart der Beschwerdeführer verengt in nicht nachvollziehbarer Weise den Anwendungsbereich des zugunsten der Journalisten eingefügten Tatbestandsausschlusses und steht in direktem Widerspruch zu der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck kommenden Zielsetzung, journalistische Tätigkeiten umfassend zu schützen. Aus dem Wortlaut und der Systematik der Norm ergibt sich, dass die Verwendung einen objektiv funktionalen Zusammenhang zur Aufgabenerfüllung aufweisen muss. Der konkrete Zusammenhang mit der - hier journalistischen - Aufgabenerfüllung ist der Grund, der die Tatbestandslosigkeit des Umgangs mit ansonsten bemakelten Daten begründet.

(4) Die von den Beschwerdeführern monierte abschreckende und eingriffsäquivalente Wirkung der angegriffenen Normen, die eine "Aura des vielleicht Strafbaren" umgebe, lässt sich nach dem Obenstehenden nicht nachvollziehen. Ein hinreichendes Risiko, dass sich Journalisten nach § 202d StGB strafbar machen, besteht nicht. Dementsprechend ist ebensowenig mit vorgelagerten Ermittlungsmaßnahmen zu rechnen. Dies deckt sich mit der vom Bundesministerium der Justiz im Rahmen der Beantwortung des Fragenkatalogs (§ 27a BVerfGG, § 22 Abs. 5 GOBVerfG) durchgeführten Abfrage in den Landesjustizverwaltungen, wonach seit 2018 keine Verfahren nach § 202d StGB Journalisten betreffend bekannt sind.

Gleichfalls ist nicht nachzuvollziehen und von den Beschwerdeführern nicht dargelegt, dass von den angegriffenen Normen eine Einschüchterungswirkung bei den Quellen der Journalisten ausgehen sollte, da sie sich als Vortäter nicht nach § 202d StGB strafbar machen. Auch eine von den angegriffenen Normen ausgehende Abschreckungswirkung auf sonstige Mittelspersonen haben die Beschwerdeführer weder dargelegt, noch würde sie aus den eingegangenen Antworten auf den Fragenkatalog der Kammer sonstwie ersichtlich. Eine Tatbestandsverwirklichung durch Hilfspersonen der Journalisten liegt ebenfalls fern und ist nicht hinreichend ausgeführt; erhalten etwa IT-Spezialisten von Journalisten Daten zur Bearbeitung, so fehlt es aufgrund des Tatbestandsausschlusses zugunsten der Journalisten bereits an einer tauglichen, rechtswidrigen Vortat im Sinne des § 202d StGB mit Blick auf die Hilfspersonen.


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LG Frankfurt: Facebook muss bei ehrverletzenden Inhalten auch kerngleiche Inhalte und Memes ohne erneute Inkenntnissetzung automatisch löschen

LG Frankfurt
Urteil vom 08.04.2022
2-03 O 188/21

Das LG Frankfurt hat entschieden, dass der Betreiber eines sozialen Netzwerks (hier: Facebook / Meta) bei ehrverletzenden Inhalten auch kerngleiche Inhalte und Memes ohne erneute Inkenntnissetzung automatisch löschen muss.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Ehrverletzung durch Falschzitat in sozialem Netzwerk

Diensteanbieter muss Varianten mit kerngleichem Inhalt ohne erneuten Hinweis sperren.
Die Bundestagsabgeordnete Renate Künast kann verlangen, dass eine bestimmte Wort-Bild-Kombination (sog. „Meme“) mit einem ihr untergeschobenen Falschzitat auf Facebook gesperrt wird. Auch Varianten dieses Memes mit kerngleichem Inhalt muss das soziale Netzwerk ohne erneuten Hinweis auf die jeweilige URL löschen. Renate Künast steht wegen der Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts außerdem ein Schmerzensgeldanspruch gegen die Betreiberin von Facebook zu.

Auf Facebook erschien ein Bild von Renate Künast, dem folgendes Zitat beigefügt war: „Integration fängt damit an, dass Sie als Deutscher mal türkisch lernen!“ Dieses Zitat ist falsch. Renate Künast hat die Äußerung nicht getätigt. Sie verlangte von Meta als Betreiberin von Facebook die Löschung des Eintrages. Der Post wurde außerdem in verschiedenen Varianten veröffentlicht, etwa mit verändertem Layout oder durch Erweiterung oder Weglassen von Textinhalten, durch Tippfehler oder durch Veränderung für das Auge nicht wahrnehmbarer Pixel. Diese Varianten haben eine andere URL als das ursprüngliche, von Renate Künast zunächst beanstandete Meme.

Vor dem Landgericht Frankfurt am Main hat Renate Künast darauf geklagt, dass Meta es unterlässt, Memes mit kerngleichem Inhalt auf Facebook öffentlich zugänglich machen zu lassen. Mit Urteil vom heutigen Tage hat eine Pressekammer des Landgerichts Frankfurt am Main ihrer Klage stattgegeben.

Durch das Falschzitat werde Renate Künast in ihren Persönlichkeitsrechten verletzt. Ein Diensteanbieter müsse zwar nicht ohne einen Hinweis alle ins Netz gestellten Beiträge auf eine eventuelle Rechtsverletzung prüfen. „Nachdem Renate Künast aber konkret darauf hingewiesen hatte, dass die ihr zugeschriebene Äußerung ein falsches Zitat ist, muss sie diesen Hinweis nicht für jeden weiteren Rechtsverstoß unter Angabe der URL wiederholen,“ erklärte die Vorsitzende der Kammer in der Urteilsbegründung. „Denn für die Beklagte ist unschwer erkennbar, dass es sich bei Varianten mit kerngleichem Inhalt um Falschzitate handelt.“ Und weiter: „Das deutsche Recht mutet jedem Verpflichteten eines Unterlassungsgebots zu, selbst festzustellen, ob in einer Abwandlung das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt und damit kerngleich ist. Das gilt auch in diesem Fall.“

Die Kammer stellte weiter fest: „Die Beklagte hat nicht dargetan, dass es ihr technisch und wirtschaftlich nicht zumutbar ist, ohne konkrete Bezeichnung der URL identische und ähnliche Memes zu erkennen und zwar auch, wenn für die Beurteilung eines abgewandelten Textes in einem Eintrag eine menschliche Moderationsentscheidung notwendig wird“.

In seinem Urteil billigte die Pressekammer Renate Künast außerdem eine Geldentschädigung in Höhe von 10.000 Euro zu. Meta treffe aufgrund der Veröffentlichung der persönlichkeitsrechts-verletzenden Posts eine Mitverantwortung. Denn Meta sei ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen, ihre Plattform von weiteren Falschzitaten zu befreien. Die Schwere der Rechtsverletzungen rechtfertige das Schmerzensgeld. Renate Künast sei aufgrund der Falschzitate Anfeindungen ausgesetzt gewesen.

Die Kammer erklärte: „Die Glaubwürdigkeit ist das Kapital eines jeden Menschen, besonders einer Politikerin. Diese Glaubwürdigkeit wird durch das Zuschreiben von Falschzitaten beschädigt. Dies ist ehrenrührig und beeinträchtigt das Persönlichkeitsrecht der Falschzitierten. Falschzitate verzerren auch den Meinungskampf und sie schaden der Allgemeinheit.“

Das heutige Urteil (Aktenzeichen 2-03 O 188/21) ist nicht rechtskräftig.


BVerfG: Schmähgedicht von Jan Böhmermann - Verfassungsbeschwerde gegen Untersagung von Teilen des Schmähgedichts mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen

BVerfG
Beschluss vom 26.01.2022
1 BVR 2026/19

Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde gegen die Untersagung von Teilen des Schmähgedichts von Jan Böhmermann mangels Erfolgsaussicht nicht zur Entscheidung angenommen.

Von einer näheren Begründungen hat das Bundesverfassungsgericht abgesehen. Dies ist mehr als bedauerlich, als die Fallkonstellation interessante Rückschlüsse auf die derzeitigen Ansichten des Bundesverfassungsgerichts bezüglich des Spannungsverhältnisses von der Kunstfreiheit / Meinungsfreiheit und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zugelassen hätte.

BVerfG: Facebook muss Renate Künast Auskunft über Bestandsdaten von weiteren Nutzern die Hasspostings gepostet haben erteilen

BVerfG
Beschluss vom 19.12.2021
1 BvR 1073/20


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Facebook Renate Künast Auskunft über Bestandsdaten von weiteren Nutzern, die Hasspostings gepostet haben, erteilen muss.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen fachgerichtliche Versagung der Auskunft über Bestandsdaten gegenüber einer Social Media Plattform

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts Entscheidungen von Fachgerichten aufgehoben, mit denen der Beschwerdeführerin die notwendige gerichtliche Anordnung zur Auskunft über Bestandsdaten gegenüber einer Social Media Plattform versagt wurden.

Die Beschwerdeführerin möchte vor den Fachgerichten erreichen, dass eine Social Media Plattform die bei ihr vorhandenen personenbezogenen Daten über mehrere Nutzer herausgibt, die auf der Plattform Kommentare über die Beschwerdeführerin getätigt haben. Die Fachgerichte stuften im Ergebnis lediglich 12 der 22 im Ausgangsverfahren gegenständlichen Kommentare als strafbare Beleidigungen ein und gestatteten die Beauskunftung über die bei der Social Media Plattform vorhandenen Bestandsdaten. Im Übrigen wurde eine Beauskunftung abgelehnt. Die Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, soweit sie die Anordnung hinsichtlich der zehn verbliebenen Kommentare versagt haben. Die Fachgerichte haben unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts die verfassungsrechtlich erforderliche Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Persönlichkeitsrecht unterlassen.

Sachverhalt:

Nach § 14 Abs. 3 Telemediengesetz a. F. (nunmehr § 21 Abs. 2 und 3 des Telekommunikation-Telemedien-Datenschutz-Gesetzes) durfte ein Diensteanbieter im Einzelfall Auskunft über die bei ihm vorhandenen Bestandsdaten erteilen, soweit dies zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche wegen der Verletzung absolut geschützter Rechte aufgrund rechtswidriger Inhalte erforderlich ist. Für diese Auskunftserteilung war eine vorherige gerichtliche Anordnung erforderlich. Rechtswidrige Inhalte in diesem Sinne waren unter anderem Inhalte, die den Tatbestand nach §§ 185 bis 187 des Strafgesetzbuchs erfüllten und nicht gerechtfertigt waren.

Auf einem Internetblog stellte dessen Inhaber Ende Oktober 2016 unter dem Titel „[Name der Beschwerdeführerin] findet Kinderficken ok, solange keine Gewalt im Spiel ist“ das Bild der Beschwerdeführerin ein mit folgendem, scheinbar ein Zitat der Beschwerdeführerin darstellenden Text:

„Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist, ist der Sex mit Kindern doch ganz ok. Ist mal gut jetzt.“

Hintergrund war die im Jahr 2015 noch einmal aufgekommene Debatte betreffend die Haltung der Partei DIE GRÜNEN zur Pädophilie in den 1980er Jahren. So wurde im Mai 2015 unter anderem über einen Zwischenruf der Beschwerdeführerin im Berliner Abgeordnetenhaus im Mai 1986 berichtet. Während eine Abgeordnete der Grünen über häusliche Gewalt sprach, stellte ein Abgeordneter der Regierungskoalition die Zwischenfrage, wie die Rednerin denn zu einem Beschluss der Grünen in Nordrhein-Westfalen stehe, wonach die Strafandrohung wegen sexueller Handlungen an Kindern aufgehoben werden solle. Anstelle der Rednerin rief laut Protokoll des Abgeordnetenhauses die Beschwerdeführerin: „Komma, wenn keine Gewalt im Spiel ist!“

Die Beschwerdeführerin nahm den Bloginhaber wegen seines ursprünglichen Eintrags auf Unterlassung in Anspruch und verlangte ein Schmerzensgeld. Daraufhin veröffentlichte der Bloginhaber Anfang 2019 auf seiner Seite auf der Social Media Plattform einen weiteren Text. Es folgt das Bild der Beschwerdeführerin mit dem aus dem ursprünglichen Blogbeitrag bekannten Text, der kein zutreffendes Zitat einer Äußerung der Beschwerdeführerin ist. Im April und Mai 2019 reagierten zahlreiche Nutzer der Social Media Plattform auf diese Veröffentlichung und kommentierten sie ihrerseits - soweit verfahrensgegenständlich - unter anderem wie folgt:

„Pädophilen-Trulla“; „Die alte hat doch einen Dachschaden, die ist hol wie Schnittlauch man kann da nur noch“; „Mensch… was bist Du Krank im Kopf!!!“; Die ist Geisteskrank“; „Ich könnte bei solchen Aussagen diese Personen die Fresse polieren“; „Sperrt diese kranke Frau weck sie weiß nicht mehr was sie redet“; „Die sind alle so krank im Kopf“; Gehirn Amputiert“; „Kranke Frau“ und „Sie wollte auch mal die hellste Kerze sein, Pädodreck.“.

In der Folge begehrte die Beschwerdeführerin die Gestattung der Auskunftserteilung über die Bestandsdaten dieser Nutzer der Social Media Plattform. Das Landgericht gestattete im Ergebnis die Beauskunftung von sechs Kommentaren. Das Kammergericht gestattete zusätzlich die Beauskunftung weiterer sechs Kommentare. Im Übrigen führte es aus, dass die Schwelle zum Straftatbestand des § 185 StGB nicht überschritten sei. Denn es liege kein Fall der abwägungsfreien Diffamierung vor und die Verletzung des Persönlichkeitsrechts erreiche kein solches Gewicht, dass die Äußerungen unter Einbeziehung des Kontexts lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung der Beschwerdeführerin erschienen.

Die Beschwerdeführerin rügt unter anderem die Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Die Verfassungsbeschwerde hat Erfolg.

I. Die Auslegung und Anwendung des Fachrechts ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte. Bei ihrer Entscheidung haben sie jedoch dem Einfluss der Grundrechte auf die einfachgesetzlichen Vorschriften Rechnung zu tragen. Die Zivilgerichte verstehen das allgemeine Persönlichkeitsrecht in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise als einen offenen Tatbestand, bei dem die Feststellung einer rechtswidrigen Verletzung eine ordnungsgemäße Abwägung voraussetzt.

1. Weichenstellend für die Prüfung einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts ist die Erfassung des Inhalts der verfahrensgegenständlichen Äußerungen. Auf der zutreffenden Sinnermittlung einer Äußerung aufbauend erfordert die Annahme einer Beleidigung nach § 185 StGB grundsätzlich eine abwägende Gewichtung der Beeinträchtigungen, die den betroffenen Rechtsgütern und Interessen, hier also der Meinungsfreiheit und der persönlichen Ehre, drohen. Eine Abwägung ist nur ausnahmsweise entbehrlich, wenn die streitgegenständliche Äußerung sich als Schmähung oder Schmähkritik, als Formalbeleidigung oder als Angriff auf die Menschenwürde darstellt.

2. Liegt keine dieser eng umgrenzten Ausnahmekonstellationen vor, begründet dies bei Äußerungen, mit denen bestimmte Personen in ihrer Ehre herabgesetzt werden, kein Indiz für einen Vorrang der Meinungsfreiheit.Voraussetzung einer strafrechtlichen Sanktion ist dann allerdings eine grundrechtlich angeleitete Abwägung. Hierfür bedarf es einer umfassenden Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte.

Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht. Bei der Gewichtung der durch eine Äußerung berührten grundrechtlichen Interessen ist zudem davon auszugehen, dass der Schutz der Meinungsfreiheit gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.In die Abwägung ist daher einzustellen, ob die Privatsphäre der Betroffenen oder ihr öffentliches Wirken mit seinen - unter Umständen weitreichenden - gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität der Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können. Allerdings bleiben die Gesichtspunkte der Machtkritik und der Veranlassung durch vorherige eigene Wortmeldungen im Rahmen der öffentlichen Debatte in eine Abwägung eingebunden und erlauben nicht jede auch ins Persönliche gehende Beschimpfung von Amtsträgerinnen und Amtsträgern oder Politikerinnen und Politikern. Gegenüber einer auf die Person abzielenden, insbesondere öffentlichen Verächtlichmachung oder Hetze setzt die Verfassung allen Personen gegenüber äußerungsrechtliche Grenzen und nimmt hiervon Personen des öffentlichen Lebens und Amtsträgerinnen und Amtsträger nicht aus. Dabei liegt insbesondere unter den Bedingungen der Verbreitung von Informationen durch „soziale Netzwerke“ im Internet ein wirksamer Schutz der Persönlichkeitsrechte von Amtsträgerinnen und Amtsträgern sowie Politikerinnen und Politikern über die Bedeutung für die jeweils Betroffenen hinaus im öffentlichen Interesse, was das Gewicht dieser Rechte in der Abwägung verstärken kann. Denn eine Bereitschaft zur Mitwirkung in Staat und Gesellschaft kann nur erwartet werden, wenn für diejenigen, die sich engagieren und öffentlich einbringen, ein hinreichender Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte gewährleistet ist.

II. Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen Anforderungen nicht.

1. Im Ausgangspunkt zutreffend erkennt das Kammergericht, dass es sich bei den noch verfahrensgegenständlichen Bezeichnungen der Beschwerdeführerin um erheblich ehrenrührige Herabsetzungen handelt. Das Kammergericht geht indes unter Verkennung von Bedeutung und Tragweite des Persönlichkeitsrechts davon aus, dass eine Beleidigung im Sinne des § 185 StGB aus verfassungsrechtlichen Gründen nur dann vorliege, wenn die streitgegenständliche Äußerung „lediglich als persönliche Herabsetzung und Schmähung“ zu verstehen sei. Dieses Fehlverständnis setzt sich bei den weiteren Ausführungen des Fachgerichts fort. Zwar deutet das Kammergericht die Notwendigkeit einer Abwägung an. Verfassungsrechtlich fehlerhaft knüpft es die Voraussetzungen der Beleidigung sodann jedoch an die Sonderform der Schmähkritik an.Die angekündigte Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der Beschwerdeführerin nimmt das Kammergericht in der Folge aber nicht vor. Es legt wiederholt einen fehlerhaften, mit dem Persönlichkeitsrecht der von ehrenrührigen Äußerungen Betroffenen unvereinbaren Maßstab an, wenn es annimmt, eine strafrechtliche Relevanz erreiche eine Äußerung erst dann, wenn ihr diffamierender Gehalt so erheblich sei, dass sie in jedem denkbaren Sachzusammenhang als bloße Herabsetzung des Betroffenen erscheine. Vorliegend hat sich das Fachgericht aufgrund einer fehlerhaften Maßstabsbildung, die eine Beleidigung letztlich mit der Schmähkritik gleichsetzt, mit der Abwägung der Gesichtspunkte des Einzelfalls nicht auseinandergesetzt. Hierin liegt eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts der Beschwerdeführerin.

2. Infolge fehlerhafter Maßstabsbildung mangelt es für alle verfahrensgegenständlichen Äußerungen an der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung der betroffenen Rechtspositionen im Rahmen der rechtlichen Würdigung. Die vom Fachgericht zum Teil begründungslos verwendete Behauptung, die Beschwerdeführerin müsse den Angriff als Politikerin im öffentlichen Meinungskampf hinnehmen, ersetzt die erforderliche Abwägung nicht.


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LG Saarbrücken legt EuGH Fragen zum Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Entscheidung vor

LG Saarbrücken
Beschluss vom 22.11.2021
5 O 151/19

Das LG Saarbrücken hat dem EuGH Fragen zum Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Entscheidung vorgelegt.

Die Vorlagefragen:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Kapitel VIII, insbesondere von Art. 82 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz- Grundverordnung, DSGVO) vorgelegt:

1. Ist der Begriff des immateriellen Schadens in Art. 82 Abs. 1 DSGVO im Hinblick auf den Erwägungsgrund 85 und den Erwägungsgrund 146 S. 3 EUV 2016/679 in dem Sinne zu verstehen, dass er jede Beeinträchtigung der geschützten Rechtsposition erfasst, unabhängig von deren sonstigen Auswirkungen und deren Erheblichkeit ?

2. Wird die Haftung auf Schadenersatz gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO dadurch ausgeschlossen, dass der Rechtsverstoß auf menschliches Versagen im Einzelfall einer im Sinne von Art. 29 DSGVO unterstellten Person zurückgeführt wird ?

3. Ist bei der Bemessung des immateriellen Schadenersatzes eine Orientierung an den in Art. 83 DSGVO, insbesondere Art. 83 Abs. 2 und Abs. 5 DSGVO genannten Zumessungskriterien erlaubt bzw. geboten ?

4. Ist der Schadenersatz für jeden einzelnen Verstoß zu bestimmen oder werden mehrere - zumindest mehrere gleichgelagerte - Verstöße mit einer Gesamtentschädigung sanktioniert, die nicht durch eine Addition von Einzelbeträgen ermittelt wird, sondern auf einer wertenden Gesamtbetrachtung beruht ?

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BVerfG: Einheitliches Patentgericht kann kommen - Eilanträge gegen den zweiten Anlauf des Abkommens über ein Einheitliches Patentgerichts abgelehnt

BVerfG
Beschluss vom 23. Juni 2021 - 2 BvR 2216/20
Beschluss vom 23. Juni 2021 - 2 BvR 2217/20


Das Bundesverfassungsgericht hat die Eilanträge gegen den zweiten Anlauf des Abkommens über ein Einheitliches Patentgerichts abgelehnt. Das Einheitliche Patentgericht kann kommen.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Erfolglose Eilanträge gegen das Abkommen über ein Einheitliches Patentgericht

Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts zwei Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, die sich gegen das am 18. Dezember 2020 zustande gekommene Gesetz zu dem Übereinkommen vom 19. Februar 2013 über ein Einheitliches Patentgericht (EPGÜ-ZustG II) richteten. Zur Begründung führt der Senat aus, dass die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache unzulässig sind, weil die Beschwerdeführer die Möglichkeit einer Verletzung ihrer Grundrechte nicht hinreichend substantiiert dargelegt haben.

Sachverhalt:

Das Übereinkommen über ein Einheitliches Patentgericht (im Folgenden: Übereinkommen – EPGÜ) ist Teil eines umfassenderen europäischen Regelungspakets zum Patentrecht, dessen Kern die Einführung eines europäischen Patents mit einheitlicher Wirkung als neues Schutzrecht auf der Ebene der Europäischen Union ist. Das Übereinkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Es sieht die Errichtung eines Einheitlichen Patentgerichts als gemeinsames Gericht der Vertragsmitgliedstaaten für Streitigkeiten über europäische Patente und europäische Patente mit einheitlicher Wirkung vor. Dem Einheitlichen Patentgericht soll in Bezug auf die Patente die ausschließliche Zuständigkeit für einen umfangreichen Katalog von Streitigkeiten übertragen werden. Dieser umfasst insbesondere Klagen wegen Patentverletzungen, Streitigkeiten über den Bestand von Patenten und Klagen gegen Entscheidungen des Europäischen Patentamts in Ausübung der ihm übertragenen Aufgaben. Das angefochtene EPGÜ-ZustG II ersetzt das vom Deutschen Bundestag am 10. März 2017 beschlossene EPGÜ-ZustG I, das der Senat mit Beschluss vom 13. Februar 2020 für nichtig erklärt hat.

Die Beschwerdeführer rügen im Wesentlichen eine Verletzung ihres Anspruchs auf demokratische Selbstbestimmung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 79 Abs. 3 GG. Sie machen eine Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, Verstöße gegen das Unionsrecht als auch eine unzulässige Berührung der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Verfassungsidentität durch den in Art. 20 EPGÜ geregelten Vorrang des Unionsrechts geltend.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung sind zurückzuweisen, weil die Verfassungsbeschwerden in der Hauptsache unzulässig sind.

I. Die Beschwerdeführer haben die Möglichkeit einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips, des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz oder Verstöße gegen das Unionsrecht nicht hinreichend substantiiert dargelegt.

1. Sie haben insbesondere nicht näher dargelegt, inwieweit das Übereinkommen wegen der organisatorischen Ausgestaltung des Einheitlichen Patentgerichts und der Rechtsstellung seiner Richter das in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip verletzt und damit das über Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG allein subjektivierte und in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG niedergelegte Demokratieprinzip berührt wird.

Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG darf eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union oder in einem Ergänzungs- oder besonderen Näheverhältnis zu ihr stehende Einrichtungen nicht dazu führen, dass der integrationsfeste Kern des Grundgesetzes im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG – seine Identität – berührt wird. Eine Identitätsrüge ist allerdings an strenge Voraussetzungen gebunden und das sich aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ergebende Recht der Bürgerinnen und Bürger auf demokratische Selbstbestimmung strikt auf den in der Würde des Menschen wurzelnden Kern des Demokratieprinzips begrenzt. Es gewährt dagegen keinen Anspruch auf eine über dessen Sicherung hinausgehende Rechtmäßigkeitskontrolle demokratischer Mehrheitsentscheidungen.

Eine Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts des Demokratieprinzips setzt daher die Darlegung voraus, dass durch das angegriffene Übereinkommen Hoheitsrechte auf die Europäische Union oder in einem Ergänzungs- oder besonderen Näheverhältnis zu ihr stehende Einrichtungen diesen eine sogenannte Kompetenz-Kompetenz zuerkannt wird, Blankettermächtigungen zur Ausübung öffentlicher Gewalt ohne entsprechende Sicherungen erteilt werden oder Rechte des Bundestages wesentlich geschmälert, etwa sein Budgetrecht und seine haushaltspolitische Gesamtverantwortung beeinträchtigt werden.

2. Der Vortrag der Beschwerdeführer beschränkt sich indes auf die Darstellung, dass Art. 6 ff. EPGÜ wegen der Ernennung der Richter des Einheitlichen Patentgerichts auf sechs Jahre, einer möglichen Wiederbestellung und der nicht ausreichenden Anfechtbarkeit einer Amtsenthebung gegen Art. 97 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 EMRK und gegen das Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG verstießen. Inwieweit hierdurch das Demokratieprinzip berührt ist, tragen sie nicht vor.

II. Nicht hinreichend substantiiert ist die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers zu I. 1. auch, soweit sie sich gegen die Regelung des Vorrangs des Unionsrechts in Art. 20 EPGÜ richtet.

1. Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG enthält ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das Unionsrecht, zu dem auch gehört, dem Unionsrecht im Zustimmungsgesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG einen Anwendungsvorrang vor nationalem Recht einzuräumen. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht und führt bei einer Kollision in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit.

Dieser Anwendungsvorrang reicht indes nur so weit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen. Das Bundesverfassungsgericht gewährleistet diese Grenzen insbesondere im Rahmen der Identitäts- und der Ultra-vires-Kontrolle. Einen uneingeschränkten Anwendungsvorrang des Unionsrechts lässt das Grundgesetz nicht zu. Diese Anforderungen binden alle Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland und dürfen weder relativiert noch unterlaufen werden.

2. Vor diesem Hintergrund enthalten der Vertrag über die Europäische Union und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union auch keine ausdrückliche Festlegung zum Vorrang des Unionsrechts. Art. 20 EPGÜ kann daher nur so verstanden werden, dass mit ihm Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit des Übereinkommens mit dem Unionsrecht ausgeräumt werden sollen, er hingegen keine über den Status quo hinausgehende Regelung des Verhältnisses von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht enthält. Dies entspricht auch dem im Gesetzgebungsverfahren geäußerten Verständnis der Bundesregierung sowie der im Bundesrat abgegebenen Protokollerklärung mehrerer Länder. Den anderen Vertragsmitgliedstaaten ist dieses Verständnis allerdings nicht mitgeteilt worden.

3. Mit alldem setzt sich der Beschwerdeführer zu I. 1 nicht weiter auseinander, sondern beschränkt sich unter Bezugnahme auf die Entscheidung des Senats vom 13. Februar 2020 auf die Feststellung, dass ihm durch Art. 20 EPGÜ die Identitätskontrolle abgeschnitten werde, was mit Art. 79 Abs. 3 GG nicht vereinbar sei. Das genügt den Substantiierungsanforderungen nicht.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BVerfG: Streitrelevante Fragen zur Auslegung des Geldentschädigungsanspruchs aus Art. 82 DSGVO müssen EuGH zur Entscheidung vorgelegt werden

BVerfG
Beschluss vom 14.01.2021
1 BvR 2853/19

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass streitrelevante Fragen zur Auslegung des Geldentschädigungsanspruchs aus Art. 82 DSGVO dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt werden müssen, da insofern noch keine erschöpfende Klärung durch den EuGH erfolgt ist und viele offene Rechtsfragen bestehen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101. Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Diese Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

1. Das Amtsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es aufgrund der teilweisen Klageabweisung, der dadurch für den Beschwerdeführer nicht erreichten Berufungsbeschwer (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und der nicht zugelassenen Berufung letztinstanzlich tätig geworden ist und entgegen Art 267 Abs. 3 AEUV von einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat

a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73,339 <366>; 82, 159 <192>; 126, 286 <315>; 128, 157 <186 f.>; 129,78 <105>; 135, 155 <230 f. Rn. 177>). Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128, 157 <187>; 129,78 <105». Es kann einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.>; 82, 159 <192 ff.>; 135, 155 <230 f. Rn.177>; st Rspr).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15. September 2005, C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005, C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; st Rspr) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, Wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. auch BVerfGE 82, 159 <193>; 128, 157 <187>; 129,78 <105 f.>; 140,317 <376 Rn. 125>; 147,364 <378 f. Rn. 37>). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).

Diese Grundsatze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 126, 286 <315>; 147, 364 <380 Rn. 40>). Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126, 286 <315 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>). Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen' bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>). Ein "oberstes Vorlagenkontrollgericht" ist es nicht (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>; 135, 155 <231 f. :Rn. 180>; 147, 364 <379 f. Rn. 39>; BVerfGE 13, 506 <512>; 14, 230 <233>; 16, 328 <336>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW 1988, S. 1456 [1457]).

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126,286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129,78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 181>; 147,364 <380 Rn. 41>).

Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht .und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 75, 223 <245>; 82,159 <195>; 126,286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 .<232 Rn. 182>; 147, 364 <381 Rn. 42>).

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; BVerfGK 10,19 <29>). Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines "acte clair" oder eines "acte éclairé" durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten (vgl. BVerfGE 135, 155 <232 f. Rn. 183>; 147; 364 <381 Rn. 43>).

In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 <234>; 128, 157 <188>; 129, 78 <107>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt ("acte eclaine"; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>). Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfGE 147,364 <380 f. Rn. 41>; BVerfGE 8, 401 <405>; 10, 19 <30 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 - 1 BvR 2722/06 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, Rn. 19).

Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen-Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts - hier der DSGVO - an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 157 <188>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230109 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 - 1 BvR 1631/08, Rn. 48).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Amtsgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, indem es von einem Vorabentscheidungsersuchen wegen der zu klärenden Frage, ob im vom Beschwerdeführer vorgetragenen Fall der datenschutzwidrigen Verwendung einer Email-Adresse und der Übersendung einer ungewollten Email an das geschäftliche Email-Konto des Beschwerdeführers nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO ein Schmerzensgeldanspruch des Beschwerdeführers in Betracht kommt.

aa) Das Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass sich kein Anspruch des Beschwerdeführers aus der ohne seine, ausdrückliche Einwilligung erfolgten Übersendung der Email aus Art. 82 DSGVO ergebe, weil ein Schaden nicht eingetreten sei.

Der im Ausgangsverfahren zu beurteilende Sachverhalt warf die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewährt und welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 Satz 3 zu geben ist; der eine weite Auslegung des Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verlangt, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen, also diejenige natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO).

Dieser Geldentschädigungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union weder erschöpfend geklärt noch kann er in seinen einzelnen, für die Beurteilung des im Ausgangsverfahrens vorgetragenen Sachverhalts notwendigen Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Auch in der bislang vorliegenden Literatur, die sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes ausspricht, sind die Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch unklar (vgl. Gola/Piltz, in: Gola, DSGVO, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 12 f.; Quaas, in: BeckOK Datenschutzrecht, 34. Ed., 11/2020, Art. 82 Rn. 23 f.; Bergt, in: Kühling/Buchner, DSGVO BDSG, 3. Aufl., 2020, Art. 82, Rn. 17 f.; Boehm, in: Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht, 1. Aufl., 2019, Art. 82 Rn. 11 f.; Frenzel, In: Paal/Pauly, DSGVO BDSG, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 10). Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte clair), konnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gilt umso mehr, als Art. 82 DSGVO ausdrücklich immaterielle Schäden einbezieht.

bb) Die angegriffene Entscheidung zeigt, dass das Amtsgericht die Problematik der Auslegung des Art. 82 Abs. 1 DSGVO durchaus gesehen hat. Es hat sodann aber verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft eine eigene Auslegung des Unionsrechts vorgenommen, indem es sich für die Ablehnung des Anspruchs auf ein Merkmal fehlender Erheblichkeit gestützt hat, das so weder unmittelbar in der DSGVO angelegt ist, noch von der Literatur befürwortet oder vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendet wird.

Gleiches gilt für den vom Beschwerdeführer mit angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts, mit dem es die erhobene Gehörsrüge des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat. Auch hier rekurriert das Amtsgericht auf das Bestehen eines bislang ungeklärten Merkmals eines Bagatellverstoßes im Rahmen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

cc) Die Antwort auf die Rechtsfrage, wie Art. 82 Abs. 1 DSGVO vor dem Hintergrund von Erwägungsgrund 146 in Fällen der Übersendung einer Email ohne Zustimmung auszulegen ist, war für die Entscheidung über den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zahlungsanspruch entscheidungserheblich.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerfG: Verfassungsbeschwerde gegen Vorschriften zur elektronischen Patientenakte und der Werbung für Versorgungsinnovationen abgewiesen -

BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvR 619/20
BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvQ 108/20


Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Erfolglose Verfassungsbeschwerde im Zusammenhang mit Vorschriften zur elektronischen Patientenakte und der Werbung für Versorgungsinnovationen

Mit heute veröffentlichten Beschlüssen hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen Vorschriften des Sozialgesetzbuchs Fünftes Buch (SGB V) richtete. Gegenstand waren Regelungen im Zusammenhang mit der elektronischen Patientenakte, die den gesetzlichen Krankenkassen gegenüber ihren Versicherten gezielte Informationen über und Angebote zu Versorgungsinnovationen ermöglichen (§ 68b Abs. 2 und Abs. 3 SGB V) und die es unter bestimmten Voraussetzungen erlauben, ohne Pseudonymisierung Datenverarbeitungen zur Qualitätssicherung durchzuführen (§ 299 Abs. 1 Satz 5 Nr. 2 SGB V). Gleichzeitig hat die Kammer in einem weiteren Verfahren einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, mit dem das Inkrafttreten von § 68b Abs. 3, § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 19 SGB V verhindert werden sollte.

Die Verfassungsbeschwerde ist bereits unzulässig, weil die Nutzung der elektronischen Patientenakte freiwillig ist und der Beschwerdeführer nicht unmittelbar und gegenwärtig in seinen eigenen Rechten betroffen ist. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung blieb schon deshalb ohne Erfolg, weil der Rechtsweg vor den Fachgerichten nicht erschöpft wurde.

Sachverhalt:

§ 68b Abs. 1 Satz 4 SGB V erlaubt den gesetzlichen Krankenversicherungen, die von ihnen rechtmäßig erhobenen und gespeicherten versichertenbezogenen Sozialdaten für die Vorbereitung von – gesetzlich nicht näher bestimmten – Versorgungsinnovationen und für die Gewinnung Versicherter für diese Versorgungsinnovationen im erforderlichen Umfang auszuwerten. Die Auswertung erfolgt pseudonymisiert und, soweit möglich, auch anonymisiert. Die Krankenkassen können ihre Versicherten über individuell geeignete Versorgungsinnovationen und andere Versorgungsleistungen informieren und ihnen entsprechende individuelle Angebote machen. Nach der bisherigen Rechtslage bestand sowohl für die Datenauswertung als auch für die Information und das Unterbreiten von Angeboten ein Einwilligungserfordernis der Versicherten. Durch § 68b Abs. 3 SGB V ist dieses Einwilligungserfordernis hinsichtlich der Datenauswertung nach § 68 Abs. 1 Satz 4 SGB V gänzlich entfallen. Hinsichtlich der gezielten Information und der Unterbreitung individueller Angebote nach § 68b Abs. 2 SGB V wurde das vorher bestehende Einwilligungserfordernis durch eine Widerspruchsmöglichkeit ersetzt. Die Datenerhebungs- und
-speicherungsbefugnis der gesetzlichen Krankenversicherungen wird nach § 284 Abs. 1 Satz 1 Nr. 19 SGB V auf solche Sozialdaten erweitert, die zur Vorbereitung von Versorgungsinnovationen, zur Information der Versicherten und zur Unterbreitung von Angeboten dienen.

Gerügt wird jeweils eine Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Verfassungsbeschwerde im Verfahren 1 BvR 619/20 ist unzulässig.

Im Hinblick auf die Vorschriften, mit denen die Einführung der elektronischen Patientenakte geregelt wird, ist der Beschwerdeführer nicht unmittelbar und gegenwärtig in eigenen Rechten betroffen. Denn die Nutzung der elektronischen Patientenakte ist gemäß § 341 Abs. 1 Satz 2 SGB V freiwillig. Damit hat der Beschwerdeführer es selbst in der Hand, die geltend gemachte Verletzung in seinem Recht auf informationelle Selbstbestimmung abzuwenden, indem er seine Einwilligung zur Nutzung der elektronischen Patientenakte nicht erteilt.

2. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Verfahren 1 BvQ 108/20 hat keinen Erfolg, weil eine noch zu erhebende Verfassungsbeschwerde aus Gründen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) unzulässig wäre.

Der Antragsteller war verpflichtet, zunächst bei den Sozialgerichten um Rechtsschutz im Wege einer Feststellungs- oder Unterlassungsklage nachzusuchen. Die in den angegriffenen Vorschriften verankerten Datenverarbeitungsbefugnisse enthalten unbestimmte Rechtsbegriffe, von deren Auslegung entscheidend abhängt, inwiefern der Antragsteller rechtlich und tatsächlich beschwert ist. Damit sind gerade nicht nur spezifisch verfassungsrechtliche Fragen aufgeworfen, sondern diesen vorgelagert zunächst Fragen der Auslegung des Fachrechts zu klären. Erst danach besteht eine gesicherte Tatsachen- und Rechtsgrundlage, auf der über die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen entschieden werden kann.

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BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvR 619/20
BVerfG - Beschluss vom 4.01.2021 - 1 BvQ 108/20


BVerfG: Diverse Verfassungsbeschwerden gegen Dieselfahrverbote werden nicht zur Entscheidung angenommen

BVerfG
Beschlüsse vom 01.10.2019
1 BvR 1798/19, 1 BvR 1799/19, 1 BvR 1800/19, 1 BvR 1801/19, 1 BvR 1802/19, 1 BvR 1803/19, 1 BvR 1804/19, 1 BvR 1805/19, 1 BvR 1898/19


Das Bundesverfassungsgericht hat diverse Verfassungsbeschwerden gegen Dieselfahrverbote ohne Begründung nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Anträge gegen Dieselfahrverbot nicht zur Entscheidung angenommen

Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit Beschlüssen vom 1. Oktober 2019 insgesamt neun Verfassungsbeschwerden gegen Beschlüsse des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg und des Verwaltungsgerichts Stuttgart nicht zur Entscheidung angenommen. Die Anträge betrafen das Verkehrsverbot für Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Abgasnorm Euro 5/V in der Umweltzone Stuttgart und hierzu im Wege des Eilrechtsschutzes ergangene verwaltungsgerichtliche Entscheidungen. Die Nichtannahmen erfolgten gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG ohne Begründung.



BGH: Nichtzulassungsbeschwerde im Rechtsstreit Erdogan gegen Böhmermann gegen Urteil des OLG Hamburg zurückgewiesen - Schmähgedicht

BGH
Beschluss vom 30. Juli 2019
VI ZR 231/18


Der BGH hat die Nichtzulassungsbeschwerde im Rechtsstreit Erdogan gegen Böhmermann gegen das Urteil des OLG Hamburg (siehe dazu: Volltext des Urteils des OLG Hamburg im Rechtsstreit Erdogan gegen Böhmermann wegen des Schmähgedichts liegt vor ) zurückgewiesen.

Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist zunächst erforderlich, damit Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt werden kann.

Die Pressemitteilung des BGH:

Bundesgerichtshof weist Nichtzulassungsbeschwerde im Fall Böhmermann zurück

Der unter anderem für den Schutz des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts zuständige VI. Zivilsenat hat die gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom 15. Mai 2018 (7 U 34/17, veröffentlicht in AfP 2018, 335 ff.) von dem Beklagten eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen.

Der klagende Präsident der Türkei nimmt den beklagten Moderator, Kabarettisten und Autor auf Unterlassung von in der Sendung "Neo Magazin Royale" vom 31. März 2016 in Form eines Gedichts ("Schmähkritik") vorgetragener Äußerungen in Anspruch. Das Landgericht und das Oberlandesgericht haben der Unterlassungsklage überwiegend stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Beklagte Böhmermann mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hatte keinen Erfolg. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung hat der Senat - wie üblich - gemäß § 544 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

Vorinstanzen:

LG Hamburg – Urteil vom 10. Februar 2017 – 324 O 402/16

OLG Hamburg – Urteil vom 15. Mai 2018 – 7 U 34/17



BVerfG: Durchsuchung einer Anwaltskanzlei im Zuge des Diesel-Skandals verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden

BVerfG
Beschluss vom 06.07.2018
2 BvR 1405/17, 2 BvR 1780/17, 2 BvR 1562/17, 2 BvR 1287/17, 2 BvR 1583/17


Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde anlässlich der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei im Zuge des "Diesel-Skandals" nicht zur Entscheidung angenommen und erklärt, dass dieser verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sind.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Verfassungsbeschwerden anlässlich der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei im Zuge des „Diesel-Skandals“ erfolglos

Die Anordnung der Durchsuchung des Münchener Büros der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day und die Bestätigung der Sicherstellung der dort aufgefunden Unterlagen zum Zwecke der Durchsicht sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dies hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden und zwei Verfassungsbeschwerden der Volkswagen AG, zwei Verfassungsbeschwerden der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day und eine Verfassungsbeschwerde dort tätiger Rechtsanwälte nicht zur Entscheidung angenommen, mit denen sich die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer gegen die genannten Maßnahmen und die diese bestätigenden Entscheidungen der Fachgerichte gewendet haben. Zur Begründung hat die Kammer angeführt, dass die Volkswagen AG durch die Sicherstellung weder in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung noch in ihrem Recht auf ein faires Verfahren verletzt ist und im Hinblick auf die Durchsuchung kein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Die Rechtsanwaltskanzlei Jones Day ist nicht grundrechtsberechtigt und deshalb nicht beschwerdeberechtigt; eine Beschwerdebefugnis der dort tätigen Rechtsanwälte ist nicht ersichtlich.

Sachverhalt:

Anlässlich eines in den USA geführten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Abgasmanipulationen an Dieselfahrzeugen beauftragte die Volkswagen AG die internationale Rechtsanwaltskanzlei Jones Day im September 2015 mit internen Ermittlungen, rechtlicher Beratung und der Vertretung gegenüber den US-amerikanischen Strafverfolgungsbehörden. Zum Zwecke der Sachaufklärung sichteten die Rechtsanwälte von Jones Day innerhalb des Volkswagen-Konzerns eine Vielzahl von Dokumenten und führten konzernweit Befragungen von Mitarbeitern durch. Mit dem Mandat waren auch Rechtsanwälte aus dem Münchener Büro der Kanzlei befasst.

Wegen der Vorgänge im Zusammenhang mit 3,0 Liter-Dieselmotoren der Audi AG, einer Tochter der Volkswagen AG, die der Kanzlei Jones Day selbst kein Mandat erteilt hatte, ermittelt die Staatsanwaltschaft München II wegen des Verdachts des Betruges und strafbarer Werbung. Die Ermittlungen richteten sich zunächst gegen Unbekannt und seit dem 29. Juni 2017 gegen mehrere konkrete Beschuldigte. Am 29. Juni 2017 leitete die Staatsanwaltschaft München II auch ein Bußgeldverfahren gemäß § 30 OWiG gegen die Audi AG selbst ein. Ein weiteres Ermittlungsverfahren betreffend einen 2,0 Liter-Dieselmotor der Beschwerdeführerin wird von der Staatsanwaltschaft Braunschweig gegen mehrere Beschuldigte geführt.

Auf Antrag der Staatsanwaltschaft ordnete das Amtsgericht München am 6. März 2017 die Durchsuchung der Münchener Geschäftsräume der Kanzlei Jones Day an. Bei der Durchsuchung am 15. März 2017 wurden zahlreiche Aktenordner sowie ein umfangreicher Bestand an elektronischen Daten mit den Ergebnissen der internen Ermittlungen sichergestellt. Das Amtsgericht München bestätigte die Sicherstellung mit Entscheidungen vom 21. und 29. März 2017. Die gegen die Durchsuchungsanordnung und die Bestätigung der Sicherstellung erhobenen Beschwerden waren erfolglos. Hiergegen wenden sich die Volkswagen AG und die Anwaltskanzlei Jones Day mit jeweils einer auf die Durchsuchungsanordnung und einer auf die Bestätigung der Sicherstellung bezogenen Verfassungsbeschwerde sowie drei Rechtsanwälte der Kanzlei mit einer gegen beide Maßnahmen gerichteten Verfassungsbeschwerde.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

I. Verfassungsbeschwerden der Volkswagen AG

1. Die Verfassungsbeschwerde der Volkswagen AG gegen den Durchsuchungsbeschluss des Amtsgerichts und die nachfolgende Beschwerdeentscheidung des Landgerichts München I vom 8. Mai 2017 ist mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässig. Von dem mit der Durchsuchung verbundenen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 13 GG ist die Beschwerdeführerin nicht unmittelbar betroffen, weil nicht ihre Geschäftsräume, sondern die Kanzleiräume ihrer Rechtsanwälte durchsucht worden sind. Soweit der Durchsuchungsbeschluss zunächst die Grundlage für die Sichtung der bei der Durchsuchung aufgefundenen Papiere und Dateien gemäß § 110 StPO bildete, ist er durch die die Sicherstellung bestätigenden Beschlüsse vom 21. und 29. März 2017, die als Grundlage des Sichtungsverfahrens an seine Stelle getreten sind, prozessual überholt.

2. Durch die Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 21. und 29. März 2017, mit denen die Sicherstellung der bei der Durchsuchung aufgefundenen Schriftstücke und Dateien richterlich bestätigt worden ist, und die nachfolgende Beschwerdeentscheidung des Landgerichts München I vom 7. Juli 2017 ist die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen, da die Durchsicht der Daten und eine etwaig daran anknüpfende Verwendung für weitere Ermittlungen geeignet sind, die Volkswagen AG in ihrer spezifischen Freiheitsausübung, nämlich in ihrer wirtschaftlichen Betätigung zu gefährden. Der Grundrechtseingriff ist jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Er findet seine Rechtsgrundlage in § 110 StPO. Gegen die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift durch die Fachgerichte ist verfassungsrechtlich nichts zu erinnern.

a) Es verstößt nicht gegen Verfassungsrecht, dass die Fachgerichte mit der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Literatur § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO, nach dem eine Ermittlungsmaßnahme unzulässig ist, die sich gegen einen Rechtsanwalt richtet und voraussichtlich Erkenntnisse erbringen würde, über die dieser das Zeugnis verweigern dürfte, im Bereich der Beschlagnahme (§ 94 StPO) beziehungsweise der dieser vorausgehenden Sicherstellung zur Durchsicht nicht für anwendbar gehalten haben. Von Verfassungs wegen ist es nicht geboten, den absoluten Schutz des § 160a Abs. 1 Satz 1 StPO auf den Bereich der Durchsuchungen einschließlich der vorläufigen Sicherstellung zum Zwecke der Durchsicht und auf Beschlagnahmen von Mandantenunterlagen eines Rechtsanwalts auszudehnen. Die Normierung eines absoluten Beweiserhebungs- und -verwendungsverbotes in § 160a Abs. 1 StPO beschränkt die verfassungsrechtlich gebotene Effektivität der Strafverfolgung in erheblichem Maße. Derartige absolute Verbote können nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur in engen Ausnahmefällen zum Tragen kommen, insbesondere wenn eine Ermittlungsmaßnahme mit einem Eingriff in den Schutzbereich der Menschenwürde verbunden wäre, die jeder Abwägung von vornherein unzugänglich ist. Solche Gründe sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich.

b) Soweit die Fachgerichte davon ausgegangen sind, § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO begründe ebenso wie § 97 Abs. 1 Nr. 1 und 2 StPO ein Beschlagnahmeverbot nur im Rahmen eines Vertrauensverhältnisses zwischen einem Berufsgeheimnisträger und dem im konkreten Ermittlungsverfahren Beschuldigten, ist Verfassungsrecht ebenfalls nicht verletzt. Ein solches Verständnis steht im Einklang mit dem Wortlaut, der Systematik, der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Norm und ist nicht willkürlich. Eine erweiternde Auslegung von § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO, nach der der Beschlagnahmeschutz unabhängig von einem Berufsgeheimnisträger-Beschuldigten-Verhältnis besteht, ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Sie würde zu einem weitreichenden Schutz vor Beschlagnahmen und darauf gerichteten Durchsuchungen bei Berufsgeheimnisträgern führen und die verfassungsrechtlich gebotene Effektivität der Strafverfolgung erheblich beschneiden. Auch bestünde ein hohes Missbrauchspotential, sollte sich der Beschlagnahmeschutz auf sämtliche Mandatsverhältnisse unabhängig von einer Beschuldigtenstellung des Mandanten erstrecken. Beweismittel könnten gezielt in die Sphäre des Rechtsanwalts verlagert oder nur selektiv herausgegeben werden.

c) Gegen die Annahme der Fachgerichte, der Beschwerdeführerin komme eine Beschuldigtenstellung oder eine beschuldigtenähnliche Stellung im Sinne von § 97 Abs. 1 StPO nicht zu, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nichts zu erinnern.

aa) Insbesondere hat das Landgericht München I zur Beurteilung der Frage, unter welchen Voraussetzungen sich eine juristische Person in einer beschuldigtenähnlichen Verfahrensstellung befindet, einen vertretbaren Maßstab herangezogen. Es folgt im Ergebnis der wohl überwiegend vertretenen Ansicht, die den Beschlagnahmeschutz juristischer Personen gemäß § 97 Abs. 1 StPO zwar nicht davon abhängig macht, dass das Unternehmen bereits die förmliche Verfahrensstellung eines Beteiligungsinteressenten innehat, die dafür aber voraussetzt, dass eine künftige Nebenbeteiligung nach objektiven Gesichtspunkten in Betracht kommt. Von Verfassungs wegen ist es nicht geboten, eine beschuldigtenähnliche Stellung, die einen Beschlagnahmeschutz aus § 97 Abs. 1 StPO nach sich zieht, bereits dann anzunehmen, wenn ein Unternehmen ein künftiges gegen sich gerichtetes Ermittlungsverfahren lediglich befürchtet und sich vor diesem Hintergrund anwaltlich beraten lässt oder eine unternehmensinterne Untersuchung in Auftrag gibt. Dies gilt umso mehr, als es ohne objektive Kriterien kaum möglich erscheint, die Grenzen des Beschlagnahmeschutzes zuverlässig zu bestimmen.

bb) Die Fachgerichte mussten die Beschwerdeführerin auch nicht deshalb als Beschuldigte behandeln, weil sie in dem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Braunschweig förmlich als Nebenbeteiligte wegen eines Ordnungswidrigkeitenvorwurfs geführt wird und deshalb dort eine beschuldigtenähnliche Verfahrensstellung einnimmt. Den Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaften München II und Braunschweig liegen unterschiedliche prozessuale Taten zugrunde. Der Verzicht auf eine Verbindung der Verfahren unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

cc) Das Landgericht München I ist verfassungsrechtlich unbedenklich zu dem Ergebnis gelangt, dass die Verfahrensstellung der Audi AG für den Beschlagnahmeschutz aus § 97 Abs. 1 StPO unerheblich sei. Von Verfassungs wegen ist es nicht geboten, Tochtergesellschaften insoweit in den Schutz eines zwischen der Muttergesellschaft und einem Rechtsanwalt geschlossenen Mandatsverhältnisses einzubeziehen und der Muttergesellschaft die Berufung auf ein Beschlagnahmeverbot aufgrund einer beschuldigtenähnlichen Stellung der Tochtergesellschaft zuzubilligen.

d) Die angegriffenen Entscheidungen haben schließlich die Verhältnismäßigkeit der Sicherstellung der bei der Kanzlei Jones Day aufgefundenen Unterlagen und Daten zum Zwecke der Durchsicht nach § 110 StPO ohne Verfassungsverstoß bejaht.

3. Die Verfassungsbeschwerden sind auch unbegründet, soweit die Beschwerdeführerin sich auf eine Verletzung ihres Rechts auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG beruft. Denn daraus folgt jedenfalls kein weitergehender Schutz als aus Art. 2 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

II. Verfassungsbeschwerden der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day

Die Verfassungsbeschwerden der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day, die in der Rechtsform einer Partnership nach dem Recht des US-Bundesstaats Ohio organisiert ist, sind mangels Beschwerdeberechtigung der Beschwerdeführerin unzulässig. Diese ist nicht Trägerin von Grundrechten, da sie keine inländische juristische Person im Sinne von Art. 19 Abs. 3 GG ist. Auf der Grundlage ihres Vorbringens kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich ihr Hauptverwaltungssitz in Deutschland oder in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union befindet. Dass die Mehrheit der Entscheidungen über die Geschäftsführung an den deutschen Kanzleistandorten oder an einem Standort in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union getroffen wird, behauptet die Beschwerdeführerin nicht und ist auch nicht ersichtlich.

Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführerin sind auch nicht aufgrund der Betroffenheit ihres Münchener Standorts von staatlichen Ermittlungsmaßnahmen wie die Verfassungsbeschwerden einer inländischen juristischen Person zu behandeln. Soweit die Beschwerdeführerin eine Grundrechtsberechtigung aus der Entscheidung der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. März 2009 - 2 BvR 1036/08 - herleiten möchte, ergibt sich aus ihrem Vortrag bereits nicht, dass die in dieser Kammerentscheidung aufgestellten Kriterien erfüllt sind.

III. Verfassungsbeschwerde der Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day

Die Verfassungsbeschwerde der Rechtsanwälte der Kanzlei Jones Day ist unzulässig, weil eine Beschwerdebefugnis der Beschwerdeführer nicht ersichtlich ist. Aus ihrem Vortrag ergibt sich nicht, dass sie durch die Durchsuchungsanordnung und durch die Bestätigung der Sicherstellung in eigenen Grundrechten verletzt wurden. Insoweit genügt die Verfassungsbeschwerde nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG).

1. a) Die Beschwerdeführer sind im Hinblick auf die Räume des Münchener Standorts der Rechtsanwaltskanzlei Jones Day nicht Träger des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1 GG. Bei Geschäftsräumen kommt der Schutz des Art. 13 Abs. 1 GG regelmäßig nur dem Unternehmer als Nutzungsberechtigtem zugute, nicht aber den einzelnen Arbeitnehmern, so dass sich die Beschwerdeführer zu 2) und 3) als Angestellte grundsätzlich nicht auf das Wohnungsgrundrecht berufen können. Der Beschwerdeführer zu 1) ist zwar Partner der Kanzlei Jones Day. Das Nutzungsrecht steht den Partnern aber nur gemeinschaftlich zu. Es kann deshalb auch nur von den Gesellschaftern gemeinschaftlich oder, soweit ihre Rechtsfähigkeit anerkannt ist, von der Gesellschaft als solcher geltend gemacht werden.

Die Beschwerdeführer haben darüber hinaus nicht dargelegt, dass die von ihnen genutzten Kanzleiräume für sie als individueller Rückzugsbereich fungieren und deshalb ihrer persönlichen Privatsphäre zuzuordnen sind. Zur Begründung ihrer Verfassungsbeschwerde heben sie allein auf ihre Stellung als Rechtsanwalt, ihre Berufsausübung und die Auswirkungen auf die Vertrauensbeziehung zwischen Rechtsanwalt und Mandant ab. Diese berufliche Sphäre betrifft jedoch nur die Kanzlei Jones Day.

b) Eine Verletzung von Art. 12 Abs. 1 GG durch die Anordnung der Durchsuchung scheidet aus. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann den strafprozessualen Eingriffsnormen des 8. Abschnitts des Ersten Buchs der StPO und den darauf gestützten Maßnahmen keine berufsregelnde Tendenz entnommen werden, da sie unterschiedslos sämtliche Beschuldigte strafrechtlicher Vorwürfe betreffen oder sich wie § 103 StPO unterschiedslos an jedermann richten. Auch eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG in Gestalt des Rechts auf wirtschaftliche und berufliche Betätigung haben die Beschwerdeführer nicht dargelegt, sondern leiten eine Beschwerdebefugnis allein aus einer Beschwer der Kanzlei Jones Day her.

c) Die Möglichkeit einer Verletzung des Rechts der Beschwerdeführer auf informationelle Selbstbestimmung durch die Anordnung der Durchsuchung ist gleichfalls nicht dargetan. Die Durchsuchungsanordnung war nicht auf die Gewinnung ihrer persönlichen Daten gerichtet, sondern zielte auf Informationen ab, die die Kanzlei aufgrund des Mandatsverhältnisses mit der Volkswagen AG zusammengetragen oder erstellt hatte. Dass es die Beschwerdeführer waren, die diese Informationen in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit sammelten oder produzierten, ändert nichts an der Mandatsbezogenheit der Daten. Der Datenbestand ist demnach der Kanzlei Jones Day, der Volkswagen AG als Auftraggeberin der internen Ermittlungen sowie der Audi AG, soweit die Informationen aus ihrer Sphäre herrühren, zuzuordnen. Soweit die Beschwerdeführer abstrakt ausführen, der sichergestellte E-Mail-Verkehr enthalte regelmäßig eine Vielzahl personenbezogener Informationen wie etwa Sende- und Empfangsdaten, die Aufschluss über die Tätigkeit von Sender und Empfänger geben könnten, legen sie nicht konkret dar, aus welchen einzelnen Informationen hier welche Rückschlüsse auf ihre persönlichen Verhältnisse gezogen werden könnten.

d) Auf das Recht auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG können sich die Beschwerdeführer nicht berufen, da sie mangels Betroffenheit in eigenen Rechten auch nicht im weiteren Sinne als Beteiligte des Verfahrens anzusehen sind.

2. Die Beschwerdeführer haben gleichfalls nicht dargelegt, durch die Bestätigung der Sicherstellung und die daraufhin ergangene Beschwerdeentscheidung in eigenen Grundrechten betroffen zu sein. Soweit Aktenordner und Hefter sichergestellt wurden, können sie eine Beschwerdebefugnis nicht unter dem Gesichtspunkt des Art. 14 Abs. 1 GG herleiten. Nach ihrem eigenen Vortrag stehen diese Gegenstände im Eigentum der Kanzlei Jones Day, der damit auch das Besitzrecht zusteht. Für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht auf ein faires Verfahren gelten die Erwägungen zur Durchsuchungsanordnung entsprechend.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: