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EuGH: Europäische harmonisierte technische Normen müssen als unionsrechtliche Rechtsakte bei überwiegendem öffentlichen Interesse frei und kostenlos zugänglich sein

EuGH
Urteil vom 05.03.2024
C-588/21 P
Public.Resource.Org und Right to Know ./. EU-Kommission u. a


Der EuGH hat entschieden, dass europäische harmonisierte technische Normen als unionsrechtliche Rechtsakte bei überwiegendem öffentlichen Interesse frei und kostenlos zugänglich sein müssen.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Europäische harmonisierte technische Normen über die Sicherheit von Spielzeug müssen für Unionsbürger zugänglich sein

Der Gerichtshof erklärt den Beschluss der Kommission, mit dem der Zugang zu solchen Normen verweigert wurde, für nichtig und hebt das Urteil des Gerichts auf, mit dem die Weigerung für rechtmäßig erklärt wurde

2018 lehnte die Europäische Kommission den Antrag zweier gemeinnütziger Organisationen ab, ihnen Zugang zu harmonisierten technischen Normen über die Sicherheit von Spielzeugwaren zu gewähren. 2021 erklärte das Gericht diese Ablehnung für rechtmäßig. Im Rechtsmittelverfahren stellt der Gerichtshof jedoch fest, dass an der Verbreitung der harmonisierten Normen über die Sicherheit von Spielzeugwaren ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht, da diese Normen wegen ihrer Rechtswirkungen Teil des Unionsrechts sind. Daher hebt der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf und erklärt den Beschluss der Kommission für nichtig.

Public.Resource.Org und Right to Know sind zwei gemeinnützige Organisationen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, allen Bürgern das Recht frei zugänglich zu machen. 2018 beantragten sie bei der Kommission, ihnen Zugang zu auf Unionsebene harmonisierten technischen Normen im Bereich der Sicherheit von Spielzeugwaren zu gewähren. Diese Normen betrafen im Einzelnen chemisches Spielzeug und chemische Experimentierkästen. Die Kommission lehnte ihren Antrag ab. Das von den Organisationen angerufene Gericht bestätigte diese Ablehnung.

Im Rechtsmittelverfahren hebt der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf und erklärt den Beschluss der Kommission für nichtig.

Der Gerichtshof weist darauf hin, dass das Unionsrecht jedem Unionsbürger und jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnsitz oder Sitz in einem Mitgliedstaat den Zugang zu Dokumenten gewährleistet, u. a. zu denjenigen, die sich im Besitz der Europäischen Kommission befinden. Der Zugang zu einem Dokument kann allerdings verweigert werden, falls durch dessen Verbreitung der Schutz der geschäftlichen Interessen einer natürlichen oder juristischen Person, einschließlich des geistigen Eigentums, beeinträchtigt würde, es sei denn, es besteht ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung.

Im vorliegenden Fall sind die Normen über die Sicherheit von Spielzeug harmonisierten Normen Teil des Unionsrechts. Eine Unionsvorschrift kann nämlich solchen Normen Rechtswirkungen verleihen, insbesondere wenn für Erzeugnisse, die diese Normen beachten, die Vermutung besteht, dass sie die Standards einhalten, die in diesen Vorschriften festgelegt werden und von denen die Vermarktung in der Union abhängt. In diesem Sinne kann eine harmonisierte Norm die den Einzelnen eingeräumten Rechte sowie ihnen obliegende Pflichten näher bestimmen. Unter Verweis u. a. auf die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit und des freien Zugangs zum Gesetz ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die Bürger darauf angewiesen sein können, von diesen Normen Kenntnis zu nehmen, damit sie prüfen können, ob ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung tatsächlich die Anforderungen einer solchen Vorschrift erfüllt. Daher stellt der Gerichtshof fest, dass ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Verbreitung der in Rede stehenden harmonisierten Normen besteht.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

VG Düsseldorf: Nebengeschäftsverbot für Wettvermittlungsstellen in § 13 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW ist unionsrechtskonform

VG Düsseldorf
Urteil vom 01.09.2023
3 K 6352/21


Das VG Düsseldorf hat entschieden, dass das Nebengeschäftsverbot für Wettvermittlungsstellen in § 13 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW unionsrechtskonform ist.

Aus den Entscheidungsgründen:
dd. Das in § 13 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW normierte Nebengeschäftsverbot ist mit höherrangigem Recht vereinbar und daher uneingeschränkt anzuwenden,

vgl. so auch: VG Aachen, Urteil vom 20. Juni 2023 - 10 K 1789/21 -, juris Rn. 111 ff. m.w.N.

Das Nebengeschäftsverbot des § 13 Abs. 3 Satz 2 AG GlüStV NRW begegnet keinen durchgreifenden verfassungs- und unionsrechtlichen Bedenken. Es verstößt nicht gegen die unionsrechtliche Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 49 und Art. 56 AEUV, stellt in verfassungsrechtlicher Hinsicht einen zulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG dar und wird dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG gerecht.

Zwar beschränkt das - aufgrund seiner Adressierung an In- und Ausländer nicht diskriminierende - Nebengeschäftsverbot grundsätzlich die unionsrechtlichen Grundfreiheiten des Art. 49 und Art. 56 AEUV, stellt einen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 12 Abs. 1 GG dar und ist mit Blick auf eine abweichende Regulierung in Bezug auf andere Glücksspielangebote am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Die mit dem Nebengeschäftsverbot einhergehende Einschränkung ist jedoch gerechtfertigt, weil es im Einklang mit dem sowohl im Verfassungsrecht als auch im Unionsrecht verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit steht. Danach ist zu prüfen, ob die Regelung geeignet ist, die Erreichung der mit ihr verfolgten legitimen Ziele zu gewährleisten, nicht über das hierfür Erforderliche hinausgeht, und angemessen ist, d.h. die Grenze der Zumutbarkeit nicht überschreitet, wobei insbesondere sicherzustellen ist, dass sie tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, die mit ihr verfolgten Ziele in konsequenter, kohärenter und systematischer Weise zu erreichen,

vgl. EuGH, Urteil vom 20. Dezember 2017 - C-322/16 - Global Starnet, juris Rn. 51; EuGH, Urteil vom 10. März 2007 - C-169/07 - Hartlauer, juris Rn. 55; BVerfG, Beschluss vom 7. März 2017 - 1 BvR 1314/12 u.a. -, juris Rn. 130 ff., 141 ff., 148 ff. m.w.N.

Diesen Anforderungen wird das Nebengeschäftsverbot gerecht. Es verfolgt verfassungs- und unionsrechtlich legitime Gemeinwohlziele und ist zur Erreichung dieser Ziele geeignet, erforderlich und angemessen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OVG Rheinland-Pfalz: Glücksspielrechtliches Mindestabstandsgebot für Wettvermittlungsstellen unionsrechtskonform

OVG Rheinland-Pfalz
Beschluss vom 12.09.2023
6 B 10622/23.OVG


Das OVG Rheinland-Pfalz hat entschieden, dass ein glücksspielrechtliches Mindestabstandsgebot für Wettvermittlungsstellen unionsrechtskonform ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Glücksspielrechtliches Mindestabstandsgebot für Wettvermittlungsstellen europarechtlich unbedenklich

Die Regelung im Landesglücksspielgesetz, wonach Wettvermittlungsstellen einen Mindestabstand von 250 Metern Luftlinie zu einer öffentlichen oder privaten Einrichtung, die überwiegend von Minderjährigen besucht wird, einhalten müssen, ist mit Unions­recht vereinbar. Dies entschied das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz in Koblenz in einem Eilverfahren.

Die Antragstellerin möchte in Zweibrücken eine Wettvermittlungsstelle weiterbetreiben. Ihren Antrag auf Verlängerung der ihr befristet erteilten glücksspielrechtlichen Erlaubnis lehnte die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) mit der Begründung ab, dass der gesetzliche Mindestabstand zu einer Nachhilfeeinrichtung, die auch von Minder­jährigen besucht werde, nicht eingehalten sei. Hiergegen erhob die Antragstellerin Widerspruch und stellte beim Verwaltungsgericht Neustadt an der Weinstraße einen Eilantrag, den Betrieb der Wettvermittlungsstelle vorübergehend weiter zu dulden, ins­besondere keine Maßnahmen einzuleiten, die auf eine Schließung des Betriebs abzie­len. Das Verwaltungsgericht lehnte den Eilantrag ab. Ihre hiergegen eingelegte Beschwerde wies das Oberverwaltungsgericht zurück.

Die für den Betrieb einer Wettvermittlungsstelle für Sportwetten erforderliche glücks­spielrechtliche Erlaubnis dürfe nach dem Landesglücksspielgesetz Rheinland-Pfalz (LGlüG) nur erteilt werden, wenn die Wettvermittlungsstelle unter anderem einen Mindestabstand von 250 Metern zu einer öffentlichen oder privaten Einrichtung, die überwiegend von Minderjährigen besucht werde, nicht unterschreite. Die Voraussetzun­gen dieser Mindestabstandsregelung lägen nicht vor. Die Regelung sei auch nicht – wie von der Antragstellerin geltend gemacht – aus unionsrechtlichen Gründen unanwend­bar. Insbesondere ein Verstoß gegen das unionsrechtliche Kohärenzgebot sei nicht feststellbar. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs könnten nämlich solche Beschränkungen der Glücksspieltätigkeit durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses wie den Schutz der Verbraucher, die Betrugsvorbeugung oder die Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu übermäßigen Ausgaben für das Spielen gerechtfertigt sein. Die restriktive Maßnahme müsse allerdings geeignet sein, die Ver­wirklichung dieses Ziels dadurch zu gewährleisten, dass sie dazu beiträgt, die Tätig­keiten im Glücksspiel in kohärenter und systematischer Weise zu begrenzen. Der Senat teile die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass das Abstandsgebot dem Spieler- und Jugendschutz diene, da Sportwettangebote insbesondere auch für Kinder und Jugendliche ein hohes Gefährdungspotenzial hätten und damit eine örtliche Begren­zung des Angebots erreicht werden könne, um insbesondere Glücksspielsucht bei Kindern und Jugendlichen zu verhindern und zu bekämpfen. Das mit dem Abstands­gebot verfolgte Ziel der Spielsuchtbekämpfung und des Jugendschutzes werde durch Ausnahmen in anderen Bereichen des Glücksspielrechts, insbesondere für Lotto-Annahmestellen und Bestandsspielhallen nicht derart konterkariert, dass eine kohärente und systematische Verfolgung dieser Ziele nicht mehr vorliege. Im Unter­schied zu Wettvermittlungsstellen, in denen sich ausschließlich Kunden fänden, die Sportwetten abschließen möchten oder Wettergebnisse live über Bildschirme mitver­folgten, gingen in Lotto-Annahmestellen vor allem Kunden ein und aus, die mit gewöhn­lichen, ihren Alltagsbedarf deckenden Bedürfnissen befasst seien. Aus diesem Grund komme dem Glücksspielangebot in Lotto-Annahmestellen wegen der dort bestehenden sozialen Kontrolle eine andere Qualität zu. Für Spielhallen sehe das Landesglücksspiel­gesetz mit 500 Metern einen doppelt so hohen Mindestabstand unter anderem zu Kinder- und Jugendeinrichtungen vor. Zwar habe der Gesetzgeber für bei Inkrafttreten des Landesglücksspielgesetzes im Jahr 2012 bestehende Spielhallen eine großzügige Übergangsfrist bis zum 30. Juni 2028 gewährt. Die Übergangsfrist konterkariere die Mindestabstandsregelung aber nicht, weil sie ausweislich der Gesetzesmaterialien letztmalig verlängert worden sei und nur für Bestandsspielhallen gelte.

Beschluss vom 12. September 2023, Aktenzeichen: 6 B 10622/23.OVG


EuGH-Generalanwältin: Erfassung und Speicherung des Fingerabdrucks auf Personalausweis mit DSGVO und anderen unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar

EuGH-Generalanwältin
Schlussanträge vom
C-61/22


Die EuGH-Generaltanwältin kommt in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass die obligatorische Erfassung und Speicherung des Fingerabdrucks auf dem Personalausweis mit der DSGVO und anderen unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Nach Ansicht von Generalanwältin Medina ist die obligatorische Erfassung und Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen gültig

Die Verordnung 2019/11571 enthält ab dem 2. August 2021 die Verpflichtung, in jeden von den Mitgliedstaaten neu ausgestellten Personalausweis Fingerabdrücke des Inhabers auf einem hochsicheren Speichermedium aufzunehmen.

Im November 2021 stellte ein deutscher Staatsbürger bei der Landeshauptstadt Wiesbaden (Deutschland) einen Antrag auf Ausstellung eines neuen Personalausweises. In seinem Antrag ersuchte er ausdrücklich darum, diesen Ausweis ohne die Aufnahme von Fingerabdrücken im Chip des Ausweises auszustellen.

Die Landeshauptstadt Wiesbaden lehnte diesen Antrag u. a. mit der Begründung ab, dass der Personalausweis nicht ohne ein Abbild von Fingerabdrücken des Inhabers ausgestellt werden könne, da seit dem 2. August 2021 die Verpflichtung bestehe, ein Fingerabdruckbild im Chip neuer Personalausweise zu speichern.

Das in diesem Zusammenhang angerufene Verwaltungsgericht Wiesbaden hegt Zweifel an der Gültigkeit der Verordnung 2019/1157 und demzufolge an dem verpflichtenden Charakter der Erfassung und Speicherung von Fingerabdrücken in deutschen Personalausweisen. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden möchte insbesondere wissen, erstens, ob die richtige Rechtsgrundlage für den Erlass der Verordnung 2019/1157 Art. 21 Abs. 2 AEUV oder nicht vielmehr Art. 77 Abs. 3 AEUV gewesen sei, zweitens, ob die Verordnung 2019/1157 mit den Art. 7 und 8 der Charta in Verbindung mit deren Art. 52 Abs. 1 vereinbar sei und, drittens, ob diese Verordnung mit der Verpflichtung zur Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung gemäß Art. 35 Abs. 10 der Datenschutz-Grundverordnung im Einklang stehe.

In ihren Schlussanträgen vom heutigen Tag kommt Generalanwältin Laila Medina zunächst zu dem Ergebnis, dass die Verordnung 2019/1157 zu Recht auf der Grundlage von Art. 21 Abs. 2 AEUV erlassen worden sei, um die Ausübung des Rechts der Unionbürger, sich in den Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern.

In diesem Zusammenhang stellt sie fest, dass dieses Recht es den Unionsbürgern ermögliche, am Alltagsleben der anderen Einwohner des Aufnahmemitgliedstaats teilzuhaben. Die nationalen Personalausweise hätten somit die gleichen Funktionen wie die Personalausweise der Gebietsansässigen, was bedeute, dass nur ein zuverlässiger und authentischer Identitätsnachweis die uneingeschränkte Inanspruchnahme der Freizügigkeit erleichtere.

Die Vereinheitlichung des Formats der Personalausweise und die Verbesserung ihrer Zuverlässigkeit durch Sicherheitsstandards, einschließlich digitaler Fingerabdrücke, wirkten sich unmittelbar auf die Ausübung dieses Rechts aus, indem sie diese Ausweise vertrauenswürdiger machten und damit die Akzeptanz bei den Behörden der Mitgliedstaaten und den Dienstleistern stärkten. Letztendlich bedeute dies eine Verringerung der Unannehmlichkeiten, Kosten und administrativen Hindernisse für mobile Unionsbürger.

Schließlich ist sie der Auffassung, dass die dem Rat durch Art. 77 Abs. 3 AEUV verliehene Zuständigkeit dahin zu verstehen sei, dass sie sich ausschließlich auf den Kontext der Grenzkontrollpolitik beziehe. Eine Unionsmaßnahme, die über diesen spezifischen Zusammenhang hinausgehe, wie dies bei der Verordnung 2019/1157 der Fall sei, falle nicht in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung.

Die Generalanwältin wendet sich dann der Prüfung zu, ob die Verpflichtung, ein Abbild von zwei Fingerabdrücken zu erfassen und in Personalausweisen zu speichern, eine nicht gerechtfertigte Einschränkung des Grundrechts auf Achtung des Privatlebens im Hinblick auf die Verarbeitung personenbezogener Daten darstelle.

Die Verordnung 2019/1157, die Maßnahmen einführe, die den vom Gerichtshof im Urteil Schwarz in Bezug auf Reisepässe geprüften vergleichbar seien, stelle eine Einschränkung der von den Art. 7 und 8 gewährleisteten Rechte dar. Daher sei zu prüfen, ob diese Verarbeitung auf der Grundlage von Art. 52 Abs. 1 der Charta gerechtfertigt werden könne.

Zur Frage, ob die sich aus der Verordnung 2019/1157 ergebenden Einschränkungen einer dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzung entsprechen, vertritt die Generalanwältin die Auffassung, dass, da die fehlende Einheitlichkeit der Formate und Sicherheitsmerkmale der nationalen Personalausweise die Gefahr von Fälschungen und Dokumentenbetrug erhöhe, die von der Verordnung 2019/1157 eingeführten Einschränkungen, die diese Gefahr bekämpfen und damit die Akzeptanz solcher Ausweise fördern sollten, eine solche Zielsetzung verfolgten.

Sie ist außerdem der Ansicht, dass diese Einschränkungen geeignet und erforderlich seien und nicht über das hinausgingen, was zur Erreichung des Hauptziels dieser Verordnung absolut notwendig sei. Insbesondere scheine es keine im Vergleich zur Abnahme und Speicherung von Fingerabdrücken gleichermaßen geeignete, aber weniger in die Privatsphäre eingreifende Methode zu geben, um das Ziel der Verordnung 2019/1157 auf ähnlich wirksame Weise zu erreichen. Darüber hinaus biete die Verordnung 2019/1157 hinreichende und geeignete Maßnahmen, die sicherstellten, dass die Erfassung, Speicherung und Verwendung biometrischer Identifikatoren wirksam vor Missbrauch oder Fehlgebrauch geschützt sei. Diese Maßnahmen garantierten, dass in einem neu ausgestellten Ausweis gespeicherte biometrische Identifikatoren nach Ausstellung dieses Ausweises ausschließlich dem Ausweisinhaber zur Verfügung stünden und dass sie nicht öffentlich zugänglich seien. Ferner enthalte die Verordnung 2019/1157 keine Rechtsgrundlage für die Einrichtung oder Aufrechterhaltung nationaler Datenbanken oder einer zentralen Datenbank auf der Ebene der Europäischen Union.

Was schließlich die Frage angeht, ob die Verordnung 2019/1157 mit der Verpflichtung zur Durchführung einer Datenschutz-Folgenabschätzung nach Art. 35 Abs. 10 DSGVO im Einklang stehe, weist die Generalanwältin darauf hin, dass die DSGVO und die Verordnung 2019/117 Rechtsakte des Sekundärrechts seien, die in der Hierarchie der Quellen des Unionsrechts gleichrangig seien. Außerdem ergebe sich aus der DSGVO an keiner Stelle, dass die Verpflichtung zur Durchführung einer Folgenabschätzung, wie sie in Art. 35 Abs. 1 DSGVO vorgesehen ist, für den Unionsgesetzgeber verbindlich sei, noch lege diese Bestimmung irgendein Kriterium fest, anhand dessen die Gültigkeit einer anderen sekundärrechtlichen Rechtsvorschrift der Europäischen Union zu beurteilen wäre. Die Generalanwältin ist daher der Ansicht, dass das Europäische Parlament und der Rat in dem Gesetzgebungsverfahren, das zum Erlass der Verordnung 2019/1157 geführt habe, nicht zur Durchführung einer Folgenabschätzung verpflichtet gewesen seien.


Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:

EuGH-Generalanwältin: Europäische harmonisierte technische Normen müssen als unionsrechtliche Rechtsakte frei und kostenlos zugänglich sein

EuGH-Generalanwältin
Schlussanträge vom 22.06.2023
C-588/21 P
Public.Resource.Org und Right to Know / Kommission u. a.

Die EuGH-Generalanwältin kommt in ihren Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass europäische harmonisierte technische Normen als unionsrechtliche Rechtsakte frei und kostenlos zugänglich sein müssen.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Nach Ansicht von Generalanwältin Medina müssen europäische harmonisierte technische Normen wegen ihrer besonderen Rechtsnatur als unionsrechtliche Rechtsakte, frei und kostenlos zugänglich sein

Der Gerichtshof sollte das angefochtene Urteil aufheben und einen Beschluss der Kommission, mit dem der Zugang zu den angeforderten harmonisierten technischen Normen verweigert wurde, für nichtig erklären.

Die Public.Resource.Org Inc. und die Right to Know CLG sind zwei gemeinnützige Organisationen, deren vorrangige Aufgabe darin besteht, das Rechtssystem allen Bürgern frei zugänglich zu machen. Diese Organisationen erhoben beim Gericht Klage gegen einen Beschluss der Kommission, mit dem ihnen der Zugang zu vier vom Europäischen Komitee für Normung (CEN) angenommenen harmonisierten technischen Normen (HTN) insbesondere zur Spielzeugsicherheit verweigert worden war. Da ihre Klage ohne Erfolg blieb, legten sie gegen das Urteil des Gerichts ein Rechtsmittel beim Gerichtshof ein.

In ihren heutigen Schlussanträgen befasst sich Generalanwältin Laila Medina mit der Frage, ob die Rechtsstaatlichkeit sowie der Grundsatz der Transparenz und das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Unionsorgane verlangen, dass HTN frei und kostenlos zugänglich sind.

Die Organisationen haben vorgetragen, dass dem Gericht durch eine fehlerhafte Beurteilung des urheberrechtlichen Schutzes für die angeforderten HTN ein Rechtsfehler unterlaufen sei. Sie meinen, HTN könnten nicht urheberrechtlich geschützt sein, da sie Teil des Unionsrechts seien und die Rechtsstaatlichkeit einen freien Zugang zum Recht gebiete. Generalanwältin Medina legt dar, dass der Gerichtshof bereits anerkannt habe, dass HTN Rechtswirkungen hätten, Teil des Unionsrechts seien und verbindlich sein könnten, wohingegen er sich noch nicht zu ihrer genauen Natur geäußert habe.

Die Generalanwältin prüft sodann die genaue Natur von HTN als Rechtsakte, die Teil des Unionsrechts seien. Sie meint, dass HTN nicht bloß Durchführungsmaßnahmen einer privaten Einrichtung (nämlich einer der drei europäischen Normungsorganisationen, etwa des CEN) seien, sondern dass sie – im Rahmen des vom Unionsgesetzgeber errichteten Normungssystem der Europäischen Union – als von der Kommission erlassen anzusehen seien bzw. dass zumindest davon auszugehen sei, dass die Kommission zusammen mit der betreffenden europäischen Normungsorganisation für die Annahme der HTN verantwortlich sei. Auch das Verfahren zur Annahme von HTN bestätige die entscheidende Rolle der Kommission, da die Kommission den gesamten Prozess zur Erstellung von HTS leite und u. a. aus dem vorbereitenden Dokument einen Rechtsakt mache, der Teil des Unionsrechts sei, wenn sie die Fundstelle der betreffenden HTN im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentliche.

In Bezug auf die Rechtswirkungen von HTN ist Generalanwältin Medina der Auffassung, dass die Einhaltung von HTN die Vermutung der Konformität mit den wesentlichen Anforderungen des abgeleiteten Unionsrechts begründe. Das bedeute, dass HTN für jede natürliche oder juristische Person, die diese Vermutung in Bezug auf ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Dienstleistung in Frage stellen möchte, tatsächlich die gleiche Wirkung hätten wie eine verbindliche Vorschrift. Ferner wirke sich die Bezugnahme auf eine HTN im Streitfall unmittelbar auf die Beweislast aus. Schließlich müsse jeder Mitgliedstaat nach Fertigstellung von HTN und Veröffentlichung ihrer Fundstelle im Amtsblatt der Europäischen Union jede HTN – unverändert – als nationale Norm übernehmen und entgegenstehende Normen innerhalb von sechs Monaten zurückziehen.

Sodann prüft Generalanwältin Medina die Auswirkungen des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit auf HTN und legt dar, dass die Rechtsstaatlichkeit verlange, dass alle natürlichen und juristischen Personen in der Europäischen Union freien Zugang zum Unionsrecht hätten. Die Generalanwältin meint, dass sich der Gerichtshof an den Grundsatz der Transparenz halten sollte, da keinem Bürger die Möglichkeit vorenthalten werden dürfe, „offiziell“ vom Inhalt der HTN Kenntnis zu nehmen, die ihn unmittelbar oder mittelbar betreffen könnten. In diesem Zusammenhang kommt die Generalanwältin zu dem Ergebnis, dass der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit einen freien und kostenlosen Zugang zu HTN verlange. Als Harmonisierungsmaßnahmen, die Teil des Unionsrechts seien, abgeleitetes Unionsrecht umsetzten und Rechtswirkungen erzeugten, sollten HTN demnach im Amtsblatt veröffentlicht werden, um ihre Durchsetzbarkeit und Zugänglichkeit sicherzustellen.

Generalanwältin Medina ist der Auffassung, dass HTN für die Zwecke des Unionsrechts im Allgemeinen und des Zugangs zum Unionsrecht im Besonderen und angesichts ihrer unverzichtbaren Rolle bei der Umsetzung des abgeleiteten Unionsrechts sowie ihrer Rechtswirkungen grundsätzlich nicht urheberrechtlich schutzfähig sein dürften. Nach Ansicht der Generalanwältin folgt aus Art. 297 AEUV, dass Unionsrecht grundsätzlich nicht urheberrechtlich schutzfähig sei. Das Gericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, zu beurteilen, ob das Recht (und damit HTN als Rechtsakte, die Teil des Unionsrechts seien) überhaupt urheberrechtlich schutzfähig sei. Überdies habe, selbst wenn HTN urheberrechtlich schutzfähig seien, der freie Zugang zum Recht Vorrang vor dem Schutz des Urheberrechts. Demzufolge schlägt die Generalanwältin vor, das angefochtene Urteil aufzuheben.

Ergänzend schlägt Generalanwältin Medina dem Gerichtshof auch vor, den Beschluss der Kommission über die Verweigerung des Zugangs zu den angeforderten HTN für nichtig zu erklären.


Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier:


OLG Frankfurt: Sportwetten-Teilnehmer hat keinen Anspruch auf Rückzahlung verlorener Sportwetteinsätze gegen ein aus Unionsgründen konzessionsloses Wettbüro

OLG Frankfurt
Hinweisbeschluss vom 19.01.2023
8 U 102/22


Das OLG Frankfurt hat im Rahmen eines Hinweisbeschlusses ausgeführt, dass ein Sportwetten-Teilnehmer keinen Anspruch auf Rückzahlung verlorener Sportwetteinsätze gegen ein aus Unionsgründen konzessionsloses Wettbüro hat.

Die Pressemitteilung des Gerichts
Sportwetten - Aus Unionsgründen konzessionsloses Wettbüro haftet nicht für verlorene Sportwetteinsätze

Das OLG hat mit heute veröffentlichter Entscheidung bestätigt, dass ein Wettbüro nicht zur Rückzahlung verlorener Wetteinsätze verpflichtet ist.

Wurde einem Wettbüro im Hinblick auf unionsrechtliche Bedenken gegen die Regelungen über die Erteilung von Konzessionen zur Veranstaltung von Sportwetten keine Konzession erteilt, obwohl es sich darum bemüht hat, kann das konzessionslos handelnde Wettbüro nicht sanktioniert werden. Schließt eine Privatperson mit einem solchen Wettbüro Sportwetten ab, sind diese nicht wegen Gesetzesverstoß nichtig. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) hat mit heute veröffentlichter Entscheidung bestätigt, dass das Wettbüro in diesem Fall nicht zur Rückzahlung verlorener Wetteinsätze verpflichtet ist.

Der Kläger nimmt das beklagte Wettbüro auf Rückzahlung verlorener Sportwetten in Anspruch. Er hatte von 2018 bis 2020 in Wettbüros der Beklagten und über deren deutschsprachige Webseiten Sportwetten abgeschlossen. Die Onlinewetten tätigte er von zu Hause über sein Smartphone; seinen Einsätzen im Internet in Höhe von gut 40.000 € stehen Auszahlungen von knapp 5.000 € gegenüber. Die Beklagte verfügte in der streitgegenständlichen Zeit nicht über eine Erlaubnis zur Veranstaltung von Sportwetten. Sie hatte zwar eine Konzession beantragt. Das VG Wiesbaden hatte die zuständige Behörde auch zur Erteilung verpflichtet. Das Verfahren war aber wegen unionsrechtlicher Bedenken gestoppt worden. Zwischenzeitlich verfügt die Beklagte über eine Konzession.

Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen. Das OLG hielt die hiergegen eingelegte Berufung ebenfalls für erfolglos. Es bestätigte, dass der zwischen den Parteien geschlossene Wettvertrag nicht wegen eines Gesetzesverstoßes des konzessionslos handelnden Wettbüros nichtig sei. Ein Mitgliedstaat dürfe keine strafrechtlichen Sanktionen für ein Verhalten verhängen, mit dem der Betroffene verwaltungsrechtlichen Anforderungen nicht genüge, die gegen Unionsrecht verstießen. So sei es hier. Die damals geltenden Regelungen nach dem Glücksspielstaatsvertrag 2012 zur Konzessionserteilung für die Veranstaltung von Sportwetten seien intransparent gewesen und hätten deshalb gegen Unionsrecht verstoßen.

Im Hinblick auf die Unionswidrigkeit der damals geltenden Bestimmungen zur Konzessionserlangung dürfte die Beklagte weder strafrechtlich noch verwaltungsrechtlich sanktioniert werden. Die fehlende Konzession wirke sich dann auch nicht auf die Wirksamkeit der Wettverträge mit dem Kläger aus. Dies gebiete der Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung. Sei eine öffentlich-rechtliche Verbotsnorm (hier das Verbot der Veranstaltung von Glücksspielen ohne Konzession) im Ausnahmefall wegen Verstoßes gegen übergeordnetes Unionsrecht nicht wirksam, bleibe auch der privatrechtliche Vertrag (hier zwischen dem Wettbüro und dem Kläger) wirksam.

Dabei dürften sich allerdings nur solche Anbieter auf die Unionswidrigkeit berufen, die - wie hier das beklagte Wettbüro - alles unternommen hätten, um eine Sportwettenkonzession zu erlangen. Insoweit habe das Landgericht entgegen der Auffassung des Klägers gerade nicht der Beklagten „indirekt jedes Glücksspielangebot ohne Grenzen zugesprochen“. Die Entscheidung übertrage allein die Folgen der der gerichtlich festgestellten Rechtswidrigkeit des damaligen Konzessionsverfahrens konsequent auf das Privatrecht.

Der Kläger hat auf diesen Hinweis hin seine Berufung zurückgenommen. Damit ist das klageabweisende Urteil des Landgerichts rechtskräftig.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 19.1.2023, 8 U 102/22

Erläuterungen:
Das OLG Frankfurt am Main, 23. Zivilsenat hatte sich im Rahmen eines Hinweisbeschlusses vom 8.4.2022, Az 23 U 55/21 vor einem Jahr mit der Frage der Rückerstattung verlorener Wetteinsätze bei Teilnahme an einem Online-Casino befasst. Dort waren Ansprüche des Spielers gegen die auf Malta ansässige Casinogesellschaft zuerkannt worden.

Der Senat grenzt sich von dieser Entscheidung ab und verweist darauf, dass nach dem damals geltenden Glücksspielstaatsvertrag 2012 Online-Sportwetten grundsätzlich genehmigungsfähig gewesen wäre, nicht aber Online-Casino-Angebote.


VG Wiesbaden legt EuGH vor: Vereinbarkeit der Speicherung des Fingerabdrucks auf Personalausweis mit DSGVO und anderen unionsrechtlichen Vorgaben

VG Wiesbaden
Beschluss vom 13.01.2022
6 K 1563/21.WI


Das VG Wiesbaden hat dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt, ob die Speicherung des Fingerabdrucks auf dem Personalausweis mit der DSGVO und anderen unionsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist.

Aus den Entscheidungsgründen:
1. Zur Überzeugung des Gerichts hätte für den Erlass der das besondere Gesetzgebungsverfahren des Art. 77 AEUV durchgeführt werden müssen.

Der AEUV unterscheidet in dessen Art. 289 zwischen dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und den besonderen Gesetzgebungsverfahren. Die wurde auf Art. 21 Abs. 2 AEUV gestützt und auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zuleitung des Entwurfs des Gesetzgebungsakts an die nationalen Parlamente, nach Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses und nach Anhörung des Ausschusses der Regionen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen.

Laut Art. 21 Abs. 2 AEUV können das Europäische Parlament und der Rat gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren Vorschriften erlassen, mit denen die Ausübung des Freizügigkeitsrechts erleichtert wird, wenn zur Erreichung dieses Ziels ein Tätigwerden der Union erforderlich erscheint und die Verträge hierfür keine Befugnisse vorsehen.

Art. 77 Abs. 3 S. 1 AEUV enthält eine weitere Kompetenznorm, die sich unter anderem auf Regelungen zu Personalausweisen bezieht. Gemäß dieser Norm kann der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellte Dokumente erlassen, sofern die Verträge hierfür anderweitig keine Befugnisse vorsehen, falls zur Erleichterung der Freizügigkeit ein Tätigwerden der Union erforderlich ist. Der Rat beschließt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments. Durch dieses Erfordernis der Einstimmigkeit wird den Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet ein Höchstmaß an Souveränität belassen (von der Groeben/Schwarze/Sarah Progin-Theuerkauf, 7. Aufl. 2015, AEUV Art. 77, Rn 22).

Art. 77 AEUV entspricht dem damaligen Art. 62 EGV (EG-Vertrag). Die , in deren Art. 1 Abs. 2 bestimmt ist, dass Fingerabdrücke in Reisepässen gespeichert werden, wurde damals vom Verordnungsgeber auf Art. 62 EGV gestützt. Mit Urteil vom 17.10.2013 entschied der Europäische Gerichthof, dass Art. 62 Nr. 2 Buchst. a EGV eine geeignete Rechtsgrundlage für den Erlass der , insbesondere deren Art. 1 Abs. 2, darstellte (EuGH, Urteil vom 17.10.2013 – C-291/12 –, Rn. 20; CELEX 62012CJ0291).

Die Kompetenz nach Art. 77 Abs. 3 AEUV geht Art. 21 Abs. 2 AEUV vor, da Art. 77 Abs. 3 AEUV als dem Inhalt nach speziellere Vorschrift höhere Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren stellt (Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, AEUV Art. 77 Rn. 20, beck-online) und Art. 21 Abs. 2 AEUV nur dann einschlägig ist, wenn die Verträge für das Erreichen des Ziels der Förderung der Freizügigkeit keine anderen Befugnisse vorsehen. Die bezieht sich zwar nicht auf die Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes, intendiert aber wie die die Angleichung der Sicherheitsmerkmale und die Aufnahme biometrischer Identifikatoren als wichtigen Schritt zur Verwendung neuer Elemente im Hinblick auf künftige Entwicklungen auf europäischer Ebene. Hierdurch soll wie bei der die Sicherheit von Dokumenten (hier: Personalausweisen statt Reisepässen) erhöht werden.

Nach alledem ist das Gericht der Auffassung, dass es für den wirksamen Erlass der – und damit auch des Art. 3 Abs. 5 dieser Verordnung – des besonderen Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 77 Abs. 3 AEUV bedurft hätte.

2. Zudem bestehen inhaltliche Zweifel an der Vereinbarkeit der Erfassung und Speicherung von Fingerabdrücken bei Personalausweisen mit Art. 7 und 8 GrCh.

Nach Art. 7 GrCh hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation. Aus Art. 8 GrCh folgt das Recht jeder Person auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.

Bereits im Urteil vom 17.10.2013 hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass die Erfassung und die Speicherung von Fingerabdrücken durch die nationalen Behörden in Reisepässen, die in Art. 1 Abs. 2 der geregelt sind, einen Eingriff in die Rechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen (EuGH, Urteil vom 17.10.2013 – C-291/12 –, Rn. 30, CELEX 62012CJ0291). Fingerabdrücke sind personenbezogene Daten, da sie objektiv unverwechselbare Informationen über natürliche Personen enthalten und deren genaue Identifizierung ermöglichen (EuGH, Urteil vom 17.10.2013 – C-291/12 –, Rn. 27, CELEX 62012CJ0291, unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 04.12.2008, S. und Marper/Vereinigtes Königreich, Reports of judgments and decisions 2008-V, S. 213, §§ 68 und 84). Dieselben Grundrechte sind auch bei der Erfassung und Speicherung von Fingerabdrücken bei Personalausweisen betroffen.

Das Gericht hat Zweifel daran, ob die Erfassung der Fingerabdrücke und damit ein Eingriff in Art. 7 und 8 GrCh auch bei Personalausweisen gerechtfertigt ist.

Nach Art. 52 GrCh muss jede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.

Zudem ist in Art. 8 Abs. 2 GrCh bestimmt, dass personenbezogene Daten nur mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden dürfen.

Im vorliegenden Fall liegt zur Überzeugung des Gerichts – ebenso wie der Europäische Gerichtshof zu Reisepässen entschieden hat – keine Einwilligung der einen Personalausweis beantragenden Personen in die Erfassung ihrer Fingerabdrücke vor. Jedoch bestimmt dies Art. 3 Abs. 5 als gesetzliche Regelung für alle Personalausweise.

Gemäß sind alle Deutschen verpflichtet, einen gültigen Ausweis zu besitzen, sobald sie 16 Jahre alt sind und der allgemeinen Meldepflicht unterliegen oder, ohne ihr zu unterliegen, sich überwiegend in Deutschland aufhalten. Zur Ausstellung dieses Dokuments ist die Abnahme von Fingerabdrücken damit zwingend vorgeschrieben. Da eine Personalausweispflicht besteht, kann nicht davon ausgegangen werden, dass diejenigen, die einen Personalausweis beantragen, in eine solche Datenverarbeitung eingewilligt haben (so auch EuGH, Urteil vom 17.10.2013 – C-291/12 – Rn. 31, CELEX 62012CJ0291).

Mithin bedarf es nach Art. 52 Abs. 1 GrCh einer legitimen gesetzlichen Grundlage.

Zwar ist die Aufnahme von Fingerabdrücken in Personalausweisen in Art. 3 Abs. 5 gesetzlich vorgesehen. Auch entspricht dies zumindest in Teilen den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen.

Ausweislich der Erwägungsgründe (1), (4) und (46) dient die dazu, die Freizügigkeit zu stärken und der Fälschung von Dokumenten und der Vorspiegelung falscher Tatsachen in Bezug auf die an das Aufenthaltsrecht geknüpften Bedingungen vorzubeugen. Die Freizügigkeit schließt das Recht ein, mit einem gültigen Personalausweis oder Reisepass Mitgliedstaaten zu verlassen und in Mitgliedstaaten einzureisen, Erwägungsgrund (2). Nach Erwägungsgrund (18) dient die Aufnahme von Fingerabdrücken dazu, dass in Kombination mit dem Gesichtsbild eine zuverlässige Identifizierung des Inhabers und eine Verringerung des Betrugsrisikos erreicht werden kann.

Innerhalb der Europäischen Union kann der Personalausweis im Rahmen der Grenzüberschreitung genutzt werden. Außerdem erlauben auch Staaten, die nicht der EU angehören, die Einreise mit dem Personalausweis, so etwa insbesondere die Schweiz, Island, Norwegen, Albanien und Montenegro. Der Personalausweis wird vor diesem Hintergrund zumindest auch als Reisedokument genutzt, sodass hierdurch die Regelung auch dem Zweck dient, die illegale Einreise aus diesen Ländern zu verhindern. Dies würde eine von der Union anerkannte dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung darstellen (EuGH, Urteil vom 17.10.2013 – C-291/12 –, Rn. 38, CELEX 62012CJ0291). Allerdings liegt der Hauptzweck des Personalausweises gerade nicht primär darin, ein Reisedokument im Schengen-Raum wie der Reisepass zu sein. Insoweit verweisen die Erwägungsgründe der zu Recht, entgegen denen in der , gerade nicht auf den Schengen-Raum als Raum der Freiheit.

Auch regelt die die Nutzung der gespeicherten biometrischen Daten nicht in diesem Sinne, wenn in Art. 11 Abs. 6 festlegt ist, dass die gespeicherten biometrischen Daten nur verwendet werden dürfen, um die Echtheit oder Identität des Inhabers zu überprüfen. Mithin lässt die offen, wie die Freizügigkeit erleichtert werden soll. Das Ziel der Verhinderung illegaler Einreise kann insoweit nicht mit der Erleichterung der Freizügigkeit gleichgesetzt werden.

Selbst wenn die Regelung eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung verfolgen sollte, bestehen jedoch Zweifel daran, ob Art. 3 Abs. 5 verhältnismäßig ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn die Einschränkungen dieser Rechte aus der GrCh gemessen an den mit der verfolgten Zielen und damit gemessen am Zweck, die illegale Einreise von Personen in das Unionsgebiet zu verhindern und eine zuverlässige Identifizierung des Ausweisinhabers zu ermöglichen, verhältnismäßig sind. Hierfür müssen die mit dieser Verordnung eingesetzten Mittel zur Erreichung dieser Ziele geeignet sein und nicht über das dazu Erforderliche hinausgehen (EuGH, Urteil vom 17.10.2013 – C-291/12 –, Rn. 40, Rn. 38, CELEX 62012CJ0291).

Hierbei muss der Ansicht des Gerichts nach berücksichtigt werden, dass der Personalausweis in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht nicht mit dem Reisepass gleichgesetzt werden kann, sondern dass hinsichtlich der Verwendung dieser Dokumente deutliche Unterschiede bestehen. Dennoch werden durch Art. 3 Abs. 5 die beiden Dokumente hinsichtlich der Fingerabdrücke gleich behandelt.

Zwar kann der Personalausweis – wie oben bereits dargestellt – auch als Reisedokument verwendet werden. Dennoch unterscheiden sich Personalausweise und Reisepässe sowohl in rechtlicher, als auch praktischer Hinsicht. Selbst wenn Personalausweise auch als Reisedokumente im Freizügigkeitskontext genutzt werden, erfolgt keine routinemäßige Kontrolle zumindest bei Reisen zwischen EU-Mitgliedsstaaten. Zudem dürfte für die meisten Unionsbürger die primäre Funktion der nationalen Identitätskarte nicht mit der Freizügigkeit verknüpft sein. Personalausweise weisen nämlich über diese hinausgehende Nutzungsarten auf. So werden Personalausweise im Alltag unter anderem für Interaktionen mit den nationalen Verwaltungsbehörden oder mit privaten Dritten, wie etwa Banken oder Fluggesellschaften genutzt. Unionsbürger, die ihre Freizügigkeit ausüben wollen würden, können dies bereits mit ihrem Reisepass tun (in diesem Sinne auch: Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf S. 10).

Zudem besteht in Deutschland eine Pflicht, einen Personalausweis zu besitzen, . Der Bürger kann im Gegensatz zum Reisepass nicht selbst entscheiden, ob er einen Personalausweis beantragt oder nicht. Auch der Europäische Datenschutzbeauftragte ist der Ansicht, dass die Aufnahme und Speicherung von Fingerabdrücken weitreichende Auswirkungen auf bis zu 370 Mio. EU-Bürger hätte, da er bei 85 % der EU-Bevölkerung die obligatorische Abnahme von Fingerabdrücken verlangen würde. Dieser breit angelegte Anwendungsbereich sowie die höchst sensiblen Daten, die verarbeitet werden (Gesichtsbilder in Kombination mit Fingerabdrücken), verlangen eine gründliche Prüfung auf der Grundlage einer strengen Prüfung der Notwendigkeit (Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf S. 9, 10 m.w.N). Das Gericht folgt der Überlegung des Europäische Datenschutzbeauftragte, dass in Anbetracht der Unterschiede zwischen Personalausweisen und Reisepässen die Einführung von Sicherheitsmerkmalen, die für Reisepässe möglicherweise als angemessen gelten, für Personalausweise nicht automatisch gelten darf, sondern dies der Überlegung und einer gründlichen Analyse bedarf (ABl. C 338 vom 21.09.2018, S. 22). Diese fehlt vorliegend.

Das Gericht ist der Ansicht, dass sich in Kombination mit den oben geschilderten weit gefassten Verwendungsmöglichkeiten und der Vielzahl der betroffenen Unionsbürger nach eine viel höhere Eingriffsintensität im Vergleich zu Reisepässen ergibt, die im Gegenzug auch eine stärkere Rechtfertigung erfordert.

Im Rahmen der Auslegung der Art. 7 und 8 GrCh sind auch die Wertungen der DS-GVO zu berücksichtigen. Ausweislich der Erwägungsgründe (1) und (2) der DS-GVO ist der Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ein Grundrecht. Die Grundsätze und Vorschriften zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten sollten gewährleisten, dass ihre Grundrechte und Grundfreiheiten und insbesondere ihr Recht auf Schutz personenbezogener Daten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit oder ihres Aufenthaltsorts gewahrt bleiben. Die DS-GVO soll zur Vollendung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und einer Wirtschaftsunion, zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, zur Stärkung und zum Zusammenwachsen der Volkswirtschaften innerhalb des Binnenmarkts sowie zum Wohlergehen natürlicher Personen beitragen.

Daktyloskopische Daten sind besondere Arten personenbezogener Daten nach Art. 9 Abs. 1 DS-GVO, nämlich biometrische Daten. Diese werden in Art. 4 Nr. 14 DS-GVO definiert als mit speziellen technischen Verfahren gewonnene personenbezogene Daten zu den physischen, physiologischen oder verhaltenstypischen Merkmalen einer natürlichen Person, die die eindeutige Identifizierung dieser natürlichen Person ermöglichen oder bestätigen, wie Gesichtsbilder oder daktyloskopische Daten. Gemäß Art. 9 Abs. 1 DS-GVO ist die Verarbeitung solcher biometrischen Daten im Grundsatz untersagt und nur in eng gefassten Ausnahmefällen zulässig.

Soweit die Fingerabdrücke in Personalausweisen aufgenommen werden sollen, um die Fälschungssicherheit zu fördern, ist festzuhalten, dass in den Jahren 2013-2017 lediglich 38.870 gefälschte Identitätskarten festgestellt worden sein sollen und seit Jahren die Nutzung gefälschter Identitätskarten abnimmt (Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf,S.11).

Es ist bereits nicht hinreichend deutlich, ob die Aufnahme von Fingerabdrücken die Sicherheit vor Fälschungen tatsächlich zu fördern vermag. Eine Übereinstimmung der biometrischen Daten, die auf dem Chip des Personalausweises gespeichert sind mit den Fingerabdrücken des Besitzers des Ausweises bestätigt lediglich, dass das Dokument zum Besitzer gehört. Aus der Übereinstimmung an sich folgt noch kein Nachweis der Identität, solange nicht der Personalausweis selbst als echt festgestellt wurde. Zwar ist anerkannt, dass die Nutzung biometrischer Daten die Wahrscheinlichkeit der erfolgreichen Fälschung eines Dokumentes reduziert, so dass die Aufnahme von Fingerabdrücken zumindest teilweise den Zweck fördern kann (Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf S. 13).

Ob jedoch diese Möglichkeit den weitreichenden Eingriff zu rechtfertigen vermag, erscheint höchst fraglich, zumal auch ein Personalausweis mit defektem Chip entgegen der nach nationalem Recht weiterhin gültig ist. Hierzu führt das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik aus, dass "ein Ausweis mit funktionsunfähigem Chip seine Gültigkeit [behält], auch wenn der integrierte Chip erkennbar defekt ist. Die Sicherheit als Ausweisdokument ist durch die physischen Sicherheitsmerkmale gegeben" (https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/ Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationen-und-Empfehlungen/Digitale-Verwaltung/Online-Ausweisfunktion/FAQ-Online-Ausweisfunktion/faq-online-ausweisfunktion_node.html). Wenn jedoch die Sicherheit allein durch die physischen Sicherheitsmerkmale (insbesondere Mikroschriften, UV-Aufdrucke etc.) gegeben ist, stellt sich die Frage nach der Erforderlichkeit der Aufnahme von Fingerabdrücken umso deutlicher.

Auch der Europäische Datenschutzbeauftragte betonte, dass Sicherheitsmaßnahmen bezogen auf den Druck des Dokuments, wie etwa die Verwendung von Hologrammen oder Wassermarken, eine deutlich geringere Eingriffsintensität hätten. Diese Methoden würden keine Verarbeitung von personenbezogenen Daten beinhalten, wären jedoch auch dazu in der Lage, die Fälschung von Ausweisdokumenten zu verhindern und die Authentizität eines Dokuments zu verifizieren (Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf S. 16).

In diesem Rahmen ist auch eines der wichtigsten Prinzipien des europäischen Datenschutzrechts zu beachten: Das Prinzip der Datenminimierung bzw. Datensparsamkeit. Hiernach muss die Erhebung und Nutzung von persönlichen Daten verhältnismäßig und erforderlich, sowie auf das für die Zwecke der Verarbeitung notwendige Maß beschränkt sein.

Sollte es nötig sein, Fingerabdrücke zu erfassen, stellt sich auch die Frage, warum es der Ablichtung des gesamten Abdrucks bedarf. Hierdurch wird zwar die Interoperabilität der verschiedenen Arten der Systeme, die Fingerabdrücke erkennen können, gefördert. Diese Systeme können in drei Unterkategorien eingeteilt werden. Zum einen gibt es die Systeme, die komplette Ablichtungen der Fingerabdrücke speichern und vergleichen. Andere Systeme verwenden so genannte Minuzien. Diese Minuzien beschreiben eine Teilmenge von Charakteristiken, die aus den Ablichtungen der Fingerabdrücke gewonnen werden. Die dritte Kategorie sind Systeme, die mit einzelnen Mustern, die aus Ablichtungen der Fingerabdrücke extrahiert werden, arbeiten. Falls lediglich eine Minuzie gespeichert würde, könnte ein Mitgliedstaat, der mit einem System arbeitet, das eine Ablichtung des gesamten Fingerabdrucks verwendet, diese nicht nutzen. Die Speicherung des gesamten Fingerabdrucks fördert die Interoperabilität, jedoch erhöht sie die Anzahl der gespeicherten persönlichen Daten und damit das Risiko des Identitätsdiebstahles, falls es zu einem Datenleck kommt (Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf S. 14).

Die in den Personalausweisen verwendeten RFID-Chips lassen sich unter Umständen auch von nicht autorisierten Scannern auslesen. Dies liegt daran, dass sie über ein Funkfeld aktiviert werden und im Anschluss die Daten in verschlüsselter Form übertragen. Damit hängt die Sicherheit des Verfahrens letztlich an der Qualität der Übertragungs- und Verschlüsselungstechnologie. Gerade die Verwendung des gesamten Fingerabdrucks wirkt sich in diesem Zusammenhang risikoerhöhend aus (in diesem Zusammenhang zu elektronischen Aufenthaltstiteln: NK-AuslR/Schild, 2. Aufl. 2016, AufenthG § 78 Rn. 37).

Bei alledem ist auch zu beachten, dass es sich bei Fingerabdrücken um biometrische Daten handelt. Der Verordnungsgeber hat unter anderem durch die Einführung von Art. 9 DS-GVO gezeigt, dass diese einem besonderen Schutz unterliegen.

Selbst die verzichtet auf das "Sicherheitsmerkmal" des Fingerabdrucks bei Kindern unter 12 Jahren und befreit Kinder unter 6 Jahren vollständig von der Pflicht zur Abgabe, Art. 3 Abs. 7 . Viel wichtiger ist aber, dass bei Personen, denen eine Abnahme von Fingerabdrücken physisch nicht möglich ist (z.B. bei Adermatoglyphie), diese von der Pflicht zur Abgabe befreit sind. Wozu dann dieses Sicherheitsmerkmal noch dienen soll, bleibt in der ungeregelt und schlicht offen.

3. Der Europäische Datenschutzbeauftragte unterstreicht in seiner Stellungnahme vom 10.08.2018 ferner, dass Artikel 35 Abs. 10 DS-GVO auf die Erfassung und Verarbeitung der Fingerabdrücke Anwendung findet. Nach Artikel 35 Abs. 1 DS-GVO ist eine Datenschutz-Folgenabschätzung durchzuführen, bevor eine Verarbeitung erfolgt, die voraussichtlich ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen zur Folge hat. Diese Datenschutz-Folgeabschätzung sollte sich insbesondere mit einer Beurteilung der Risiken für die Rechte und Freiheiten der betroffenen Personen sowie mit den Maßnahmen beschäftigen, mit denen gegen diese Risiken vorgegangen werden soll, wie Garantien und Sicherheitsvorkehrungen (Stellungnahme des Europäischen Datenschutzbeauftragten zur geplanten Einführung der Speicherung von Fingerabdrücken in Personalausweisen vom 10.08.2018, abrufbar unter https://edps.europa.eu/sites/edp/files/publication/18-08-10_opinion_eid_en.pdf, S. 12).

Da die Rechtsgrundlage auf Unionsrecht, dem der Verantwortliche unterliegt, beruht und da diese Rechtsvorschriften den konkreten Verarbeitungsvorgang regeln, hat die allgemeinen Folgenabschätzung im Zusammenhang mit dem Erlass dieser Rechtsgrundlage zu erfolgen (Art. 35 Abs. 10 DS-GVO). Eine solche Folgenabschätzung wäre daher bei Erlass der durchzuführen gewesen. Sie ist ausweislich der Erwägungsgründe nicht erfolgt.

Das Gericht ist, wie der Europäische Datenschutzbeauftragte in seiner Stellungnahme vom 10.08.2018, der Auffassung, dass die Folgenabschätzung die obligatorische Aufnahme sowohl von Gesichtsbildern als auch von (zwei) Fingerabdrücken in Personalausweise nicht tragen würde. Bereits in Gesetzgebungsverfahren hat der Europäische Datenschutzbeauftragte empfohlen, vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit der Verarbeitung biometrischer Daten (Gesichtsbild in Kombination mit Fingerabdrücken) erneut zu prüfen (ABl. C 338 vom 21.09.2018, S. 22).

Der Verordnungsgeber geht in Erwägungsgrund (40) auf diese Problematik in Bezug auf die DS-GVO nur sehr allgemein ein. Es verbleibt bei unbestimmten Aussagen, wie etwa, dass die Unionsbürger über das Speichermedium informiert werden solle und weiter präzisiert werden müsste, welche Garantien für die verarbeiteten personenbezogenen Daten sowie insbesondere für sensible Daten wie beispielsweise biometrische Identifikatoren gelten. Das Speichermedium sollte hochsicher sein, und die auf ihm gespeicherten personenbezogenen Daten sollten wirksam vor unbefugtem Zugriff geschützt sein. Es bleibt vage, was mit "hochsicher" gemeint ist und wie die Garantien und Schutzvorkehrungen ausgestaltet sein sollen. Insbesondere ist keine Abwägung mit den Risiken bei einem Datenleck des Chips und dem Eingriff in Art. 7 und 8 GrCh ersichtlich.

Es stellt sich daher die Frage, ob das Unterlassen einer verpflichtenden Risikofolgeabschätzung die Wirksamkeit einer Norm unberührt lassen kann oder nicht vielmehr bei zwingender Verpflichtung des Normgebers zur Durchführung einer Risikofolgeabschätzung sein Unterlassen zu einer Ungültigkeit der Norm führen muss. Andernfalls würde der Normgeber für sein Fehlverhalten belohnt werden.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


LG Saarbrücken legt EuGH Fragen zum Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Entscheidung vor

LG Saarbrücken
Beschluss vom 22.11.2021
5 O 151/19

Das LG Saarbrücken hat dem EuGH Fragen zum Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO zur Entscheidung vorgelegt.

Die Vorlagefragen:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 AEUV folgende Fragen zur Auslegung von Kapitel VIII, insbesondere von Art. 82 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz- Grundverordnung, DSGVO) vorgelegt:

1. Ist der Begriff des immateriellen Schadens in Art. 82 Abs. 1 DSGVO im Hinblick auf den Erwägungsgrund 85 und den Erwägungsgrund 146 S. 3 EUV 2016/679 in dem Sinne zu verstehen, dass er jede Beeinträchtigung der geschützten Rechtsposition erfasst, unabhängig von deren sonstigen Auswirkungen und deren Erheblichkeit ?

2. Wird die Haftung auf Schadenersatz gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO dadurch ausgeschlossen, dass der Rechtsverstoß auf menschliches Versagen im Einzelfall einer im Sinne von Art. 29 DSGVO unterstellten Person zurückgeführt wird ?

3. Ist bei der Bemessung des immateriellen Schadenersatzes eine Orientierung an den in Art. 83 DSGVO, insbesondere Art. 83 Abs. 2 und Abs. 5 DSGVO genannten Zumessungskriterien erlaubt bzw. geboten ?

4. Ist der Schadenersatz für jeden einzelnen Verstoß zu bestimmen oder werden mehrere - zumindest mehrere gleichgelagerte - Verstöße mit einer Gesamtentschädigung sanktioniert, die nicht durch eine Addition von Einzelbeträgen ermittelt wird, sondern auf einer wertenden Gesamtbetrachtung beruht ?

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BVerfG: Streitrelevante Fragen zur Auslegung des Geldentschädigungsanspruchs aus Art. 82 DSGVO müssen EuGH zur Entscheidung vorgelegt werden

BVerfG
Beschluss vom 14.01.2021
1 BvR 2853/19

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass streitrelevante Fragen zur Auslegung des Geldentschädigungsanspruchs aus Art. 82 DSGVO dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt werden müssen, da insofern noch keine erschöpfende Klärung durch den EuGH erfolgt ist und viele offene Rechtsfragen bestehen.

Aus den Entscheidungsgründen:

Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung des als verletzt gerügten Rechts des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101. Abs. 1 Satz 2 GG angezeigt ist, § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG. Diese Entscheidung kann von der Kammer getroffen werden, weil die maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden sind und die Verfassungsbeschwerde danach offensichtlich begründet ist, § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

1. Das Amtsgericht hat das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter verletzt, indem es aufgrund der teilweisen Klageabweisung, der dadurch für den Beschwerdeführer nicht erreichten Berufungsbeschwer (§ 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) und der nicht zugelassenen Berufung letztinstanzlich tätig geworden ist und entgegen Art 267 Abs. 3 AEUV von einem Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union abgesehen hat

a) Der Gerichtshof der Europäischen Union ist gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. BVerfGE 73,339 <366>; 82, 159 <192>; 126, 286 <315>; 128, 157 <186 f.>; 129,78 <105>; 135, 155 <230 f. Rn. 177>). Unter den Voraussetzungen des Art. 267 Abs. 3 AEUV sind die nationalen Gerichte von Amts wegen gehalten, den Gerichtshof anzurufen (vgl. BVerfGE 82, 159 <192 f.>; 128, 157 <187>; 129,78 <105». Es kann einen Entzug des gesetzlichen Richters darstellen, wenn ein nationales Gericht seiner Pflicht zur Anrufung des Gerichtshofs im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 3 AEUV nicht nachkommt (vgl. BVerfGE 73, 339 <366 f.>; 82, 159 <192 ff.>; 135, 155 <230 f. Rn.177>; st Rspr).

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 21; Urteil vom 15. September 2005, C-495/03, EU:C:2005:552, Rn. 33; Urteil vom 6. Dezember 2005, C-461/03, EU:C:2005:742, Rn. 16; st Rspr) muss ein nationales letztinstanzliches Gericht seiner Vorlagepflicht nachkommen, Wenn sich in einem bei ihm schwebenden Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt, es sei denn, das Gericht hat festgestellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist, dass die betreffende unionsrechtliche Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (acte éclairé) oder dass die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair) (vgl. auch BVerfGE 82, 159 <193>; 128, 157 <187>; 129,78 <105 f.>; 140,317 <376 Rn. 125>; 147,364 <378 f. Rn. 37>). Davon darf das innerstaatliche Gericht aber nur ausgehen, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und für den Gerichtshof der Europäischen Union die gleiche Gewissheit bestünde. Nur dann darf das Gericht von einer Vorlage absehen und die Frage in eigener Verantwortung lösen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982, C.I.L.F.I.T., C-283/81, EU:C:1982:335, Rn. 16).

Diese Grundsatze gelten auch für die unionsrechtliche Zuständigkeitsvorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV. Daher stellt nicht jede Verletzung der unionsrechtlichen Vorlagepflicht zugleich einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG dar (vgl. BVerfGE 126, 286 <315>; 147, 364 <380 Rn. 40>). Das Bundesverfassungsgericht überprüft nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel des Art. 267 Abs. 3 AEUV bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BVerfGE 126, 286 <315 f.>; 128, 157 <187>; 129, 78 <106>). Durch die zurückgenommene verfassungsrechtliche Prüfung behalten die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung von Unionsrecht einen Spielraum eigener Einschätzung und Beurteilung, der demjenigen' bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung entspricht. Das Bundesverfassungsgericht wacht allein über die Einhaltung der Grenzen dieses Spielraums (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>). Ein "oberstes Vorlagenkontrollgericht" ist es nicht (vgl. BVerfGE 126, 286 <316>; 135, 155 <231 f. :Rn. 180>; 147, 364 <379 f. Rn. 39>; BVerfGE 13, 506 <512>; 14, 230 <233>; 16, 328 <336>; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 9. November 1987 - 2 BvR 808/82 -, NJW 1988, S. 1456 [1457]).

Die Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV zur Klärung der Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften wird in verfassungswidriger Weise gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage trotz der - seiner Auffassung nach bestehenden - Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl es selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht; vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126,286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129,78 <106 f.>; 135, 155 <232 Rn. 181>; 147,364 <380 Rn. 41>).

Gleiches gilt in den Fällen, in denen das letztinstanzliche Gericht in seiner Entscheidung bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu entscheidungserheblichen Fragen abweicht .und gleichwohl nicht oder nicht neuerlich vorlegt (bewusstes Abweichen von der Rechtsprechung des Gerichtshofs ohne Vorlagebereitschaft; vgl. BVerfGE 75, 223 <245>; 82,159 <195>; 126,286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 .<232 Rn. 182>; 147, 364 <381 Rn. 42>).

Liegt zu einer entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union noch nicht vor oder hat er die entscheidungserhebliche Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet oder erscheint eine Fortentwicklung der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur als entfernte Möglichkeit (Unvollständigkeit der Rechtsprechung), so wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm in solchen Fällen notwendig zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hat (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; 126, 286 <316 f.>; 128, 157 <187 f.>; 129, 78 <106 f.>; 135, 155 <232 f. Rn. 183>). Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind (vgl. BVerfGE 82, 159 <195 f.>; BVerfGK 10,19 <29>). Jedenfalls bei willkürlicher Annahme eines "acte clair" oder eines "acte éclairé" durch die Fachgerichte ist der Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten (vgl. BVerfGE 135, 155 <232 f. Rn. 183>; 147; 364 <381 Rn. 43>).

In diesem Zusammenhang ist auch zu prüfen, ob sich das Gericht hinsichtlich des Unionsrechts ausreichend kundig gemacht hat. Etwaige einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union muss es auswerten und seine Entscheidung hieran orientieren (vgl. BVerfGE 82, 159 <196>; 128, 157 <189>). Auf dieser Grundlage muss das Fachgericht unter Anwendung und Auslegung des materiellen Unionsrechts (vgl. BVerfGE 75, 223 <234>; 128, 157 <188>; 129, 78 <107>) die vertretbare Überzeugung bilden, dass die Rechtslage entweder von vornherein eindeutig ("acte clair") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel offen lässt ("acte eclaine"; vgl. BVerfGE 129, 78 <107>). Hat es dies nicht getan, verkennt es regelmäßig die Bedingungen für die Vorlagepflicht. Zudem hat das Fachgericht Gründe anzugeben, die dem Bundesverfassungsgericht eine Kontrolle am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ermöglichen (vgl. BVerfGE 147,364 <380 f. Rn. 41>; BVerfGE 8, 401 <405>; 10, 19 <30 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 9. Januar 2001 - 1 BvR 1036/99 -, Rn. 21; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 20. Februar 2008 - 1 BvR 2722/06 -; Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230/09 -, Rn. 19).

Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts genannten Fallgruppen handelt es sich um eine nicht abschließende Aufzählung von Beispielen für eine verfassungsrechtlich erhebliche Verletzung der Vorlagepflicht. Für die Frage nach einer Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG durch Nichtvorlage an den Gerichtshof der Europäischen-Union kommt es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts - hier der DSGVO - an, sondern auf die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht nach der Vorschrift des Art. 267 Abs. 3 AEUV, die den gesetzlichen Richter im Streitfall bestimmt (vgl. BVerfGE 128, 157 <188>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 25. Februar 2010 - 1 BvR 230109 -, Rn. 20; Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 30. August 2010 - 1 BvR 1631/08, Rn. 48).

b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hat das Amtsgericht Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt, indem es von einem Vorabentscheidungsersuchen wegen der zu klärenden Frage, ob im vom Beschwerdeführer vorgetragenen Fall der datenschutzwidrigen Verwendung einer Email-Adresse und der Übersendung einer ungewollten Email an das geschäftliche Email-Konto des Beschwerdeführers nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO ein Schmerzensgeldanspruch des Beschwerdeführers in Betracht kommt.

aa) Das Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union entscheiden dürfen, dass sich kein Anspruch des Beschwerdeführers aus der ohne seine, ausdrückliche Einwilligung erfolgten Übersendung der Email aus Art. 82 DSGVO ergebe, weil ein Schaden nicht eingetreten sei.

Der im Ausgangsverfahren zu beurteilende Sachverhalt warf die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewährt und welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 Satz 3 zu geben ist; der eine weite Auslegung des Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verlangt, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, Anspruch auf Schadensersatz gegen den Verantwortlichen, also diejenige natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet (vgl. Art. 4 Nr. 7 DSGVO).

Dieser Geldentschädigungsanspruch ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union weder erschöpfend geklärt noch kann er in seinen einzelnen, für die Beurteilung des im Ausgangsverfahrens vorgetragenen Sachverhalts notwendigen Voraussetzungen unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Auch in der bislang vorliegenden Literatur, die sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes ausspricht, sind die Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch unklar (vgl. Gola/Piltz, in: Gola, DSGVO, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 12 f.; Quaas, in: BeckOK Datenschutzrecht, 34. Ed., 11/2020, Art. 82 Rn. 23 f.; Bergt, in: Kühling/Buchner, DSGVO BDSG, 3. Aufl., 2020, Art. 82, Rn. 17 f.; Boehm, in: Simitis/Hornung/Spiecker gen. Döhmann, Datenschutzrecht, 1. Aufl., 2019, Art. 82 Rn. 11 f.; Frenzel, In: Paal/Pauly, DSGVO BDSG, 2. Aufl., 2018, Art. 82 Rn. 10). Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte clair), konnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gilt umso mehr, als Art. 82 DSGVO ausdrücklich immaterielle Schäden einbezieht.

bb) Die angegriffene Entscheidung zeigt, dass das Amtsgericht die Problematik der Auslegung des Art. 82 Abs. 1 DSGVO durchaus gesehen hat. Es hat sodann aber verfassungsrechtlich relevant fehlerhaft eine eigene Auslegung des Unionsrechts vorgenommen, indem es sich für die Ablehnung des Anspruchs auf ein Merkmal fehlender Erheblichkeit gestützt hat, das so weder unmittelbar in der DSGVO angelegt ist, noch von der Literatur befürwortet oder vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendet wird.

Gleiches gilt für den vom Beschwerdeführer mit angegriffenen Beschluss des Amtsgerichts, mit dem es die erhobene Gehörsrüge des Beschwerdeführers zurückgewiesen hat. Auch hier rekurriert das Amtsgericht auf das Bestehen eines bislang ungeklärten Merkmals eines Bagatellverstoßes im Rahmen des Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

cc) Die Antwort auf die Rechtsfrage, wie Art. 82 Abs. 1 DSGVO vor dem Hintergrund von Erwägungsgrund 146 in Fällen der Übersendung einer Email ohne Zustimmung auszulegen ist, war für die Entscheidung über den vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zahlungsanspruch entscheidungserheblich.


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VG Wiesbaden legt EuGH zahlreiche Fragen zum Fluggastdatengesetz bzw. der PNR-Richtlinie zur Entscheidung vor

VG Wiesbaden
Beschluss vom 13.05.2020 - 6 K 805/19.W
Beschluss vom 15.05.2020 - 6 K 806/19.WI


Das VG Wiesbaden hat dem EuGH zahlreiche Fragen zum Fluggastdatengesetz bzw. der PNR-Richtlinie zur Entscheidung vorgelegt.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Vorschriften des Fluggastdatengesetzes auf dem Prüfstand

Mit Beschlüssen vom 13. und 15. Mai 2020 (Az.: 6 K 805/19.WI und 6 K 806/19.WI) hat die 6. Kammer des VG Wiesbaden im Rahmen von Vorabentscheidungsersuchen dem Europäischen Gerichtshof eine Vielzahl von Fragen betreffend das Fluggastdatengesetz vorgelegt.

In beiden Verfahren begehren die jeweiligen Kläger die Löschung ihrer sogenannten Fluggastdaten (PNR-Daten), die derzeit durch das Bundeskriminalamt gespeichert werden. Das Verfahren 6 K 805/19.WI betrifft dabei Flüge aus der Europäischen Union in einen Drittstaat, das Verfahren 6 K 806/19.WI betrifft Flüge innerhalb der Europäischen Union.

Der Hintergrund der Verfahren ist der folgende: Am 27. April 2016 erließen das Europäische Parlament und der Rat die Richtlinie (EU) 2016/681 (sog. PNR-Richtlinie). Diese schreibt vor, dass die Fluggesellschaften bei sämtlichen Flügen von der Union in Drittstaaten und von Drittstaaten in die Union eine Vielzahl von personenbezogenen Daten aller Fluggäste an von den jeweiligen Mitgliedstaaten einzurichtende Zentralstellen (in Deutschland: das Bundeskriminalamt) übermitteln müssen, wo diese Daten automatisiert mit Datenbanken und Algorithmen (sog. Mustern) abgeglichen und fünf Jahre lang gespeichert werden. Auch eine Weitergabe an andere Behörden im In- und Ausland ist gestattet. Diese Maßnahmen sollen der Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität dienen. Die Bundesrepublik Deutschland hat, ebenso wie viele andere EU-Mitgliedstaaten, mit Erlass des Fluggastdatengesetzes vom 6. Juni 2017 – dem deutschen Umsetzungsgesetz zur PNR-Richtlinie – die Richtlinie umgesetzt und von der durch die Richtlinie explizit eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Fluggastdatenverarbeitung auch auf alle innereuropäischen Flüge auszuweiten.

Die durch das VG Wiesbaden nun dem Europäischen Gerichtshof zur Beantwortung vorlegten Fragen betreffen im Wesentlichen die Vereinbarkeit der PNR-Richtlinie und des Fluggastdatengesetzes mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, insbesondere den dort verankerten Grundrechten auf Achtung des Privat- und Familienlebens und dem Schutz personenbezogener Daten, sowie mit der Datenschutz-Grundverordnung und (im Falle der innereuropäischen Flüge) mit der durch den AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) innerhalb der Europäischen Union garantierten Freizügigkeit.

Das Gericht hat erhebliche Zweifel, ob die PNR-Richtlinie und das deutsche Umsetzungsgesetz europarechtskonform sind. Es hält die Fluggastdatenverarbeitung mit der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten für vergleichbar und erachtet die damit verbundenen Grundrechtseingriffe trotz des verfolgten Ziels (Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität) als nicht gerechtfertigt.

Als zweifelhaft erachtet das Gericht unter anderem

den Umfang der erhobenen und verarbeiteten Fluggastdaten,
die Verhältnismäßigkeit der 5-jährigen Speicherdauer für die Fluggastdaten,
die Bestimmtheit mehrerer Vorschriften der Richtlinie und des Umsetzungsgesetzes,
ob die Fluggäste über die Datenverarbeitung ausreichend informiert werden,
ob die Weitergabe an Drittstaaten und inländisch an das Bundesamt für Verfassungsschutz zulässig ist und
ob die Mehrfacherfassung der Fluggäste (durch Start- und Zielland des jeweiligen innereuropäischen Fluges) gerechtfertigt ist.
Die Beschlüsse sind unanfechtbar. Die Verfahren werden nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes über die Vorabentscheidungsersuchen durch das VG Wiesbaden fortgesetzt werden.

Anhang:
Art.7 GRCh - Achtung des Privat- und Familienlebens
Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

Art. 8 GRCh - Schutz personenbezogener Daten
(1) Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.
(2) Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. Jede Person hat das Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.
(3) Die Einhaltung dieser Vorschriften wird von einer unabhängigen Stelle überwacht.

Art. 21 AEUV - Freizügigkeit
(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten.
(2) […]
(3) […]

Art. 67 AEUV - Grundsätze
(1) Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Grundrechte und die verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten geachtet werden.
(2) Sie stellt sicher, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, und entwickelt eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist. Für die Zwecke dieses Titels werden Staatenlose den Drittstaatsangehörigen gleichgestellt.
(3) […]
(4) […]

EuGH: Es ist unionsrechtksonform Anbietern wie Facebook und Hostinganbietern aufzugeben für rechtswidrig erklärte und sinngleiche Inhalte aktiv zu suchen und zu löschen bzw weltweit zu sperren

EuGH
Urteil vom 03.10.2019
C-18/18
Eva Glawischnig-Piesczek / Facebook Ireland Limited


Der EuGH hat entschieden, dass es unionsrechtskonform ist, Anbietern wie Facebook und Hostinganbietern aufzugeben, für rechtswidrig erklärte und sinngleiche Inhalte aktiv zu suchen und zu löschen bzw. weltweit zu sperren.

Tenor der Entscheidung:

Die Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“), insbesondere ihr Art. 15 Abs. 1, ist dahin auszulegen, dass sie es einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht verwehrt,

– einem Hosting-Anbieter aufzugeben, die von ihm gespeicherten Informationen, die den wortgleichen Inhalt haben wie Informationen, die zuvor für rechtswidrig erklärt worden sind, zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren, unabhängig davon, wer den Auftrag für die Speicherung der Informationen gegeben hat;

– einem Hosting-Anbieter aufzugeben, die von ihm gespeicherten Informationen, die einen sinngleichen Inhalt haben wie Informationen, die zuvor für rechtswidrig erklärt worden sind, zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren, sofern die Überwachung und das Nachforschen der von einer solchen Verfügung betroffenen Informationen auf solche beschränkt sind, die eine Aussage vermitteln, deren Inhalt im Vergleich zu dem Inhalt, der zur Feststellung der Rechtswidrigkeit geführt hat, im Wesentlichen unverändert geblieben ist, und die die Einzelheiten umfassen, die in der Verfügung genau bezeichnet worden sind, und sofern die Unterschiede in der Formulierung dieses sinngleichen Inhalts im Vergleich zu der Formulierung, die die zuvor für rechtswidrig erklärte Information ausmacht, nicht so geartet sind, dass sie den Hosting-Anbieter zwingen, eine autonome Beurteilung dieses Inhalts vorzunehmen;

– einem Hosting-Anbieter aufzugeben, im Rahmen des einschlägigen internationalen Rechts weltweit die von der Verfügung betroffenen Informationen zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Das Unionsrecht verwehrt es nicht, dass einem Hosting-Anbieter wie Facebook aufgegeben wird, mit einem zuvor für rechtswidrig erklärten Kommentar wortgleiche und unter bestimmten Umständen auch sinngleiche Kommentare zu entfernen

Das Unionsrecht verwehrt es auch nicht, dass eine solche Verfügung im Rahmen des
einschlägigen internationalen Rechts, dessen Berücksichtigung Sache der Mitgliedstaaten ist,
weltweit Wirkungen erzeugt.

Frau Eva Glawischnig-Piesczek, die Abgeordnete zum Nationalrat (Österreich), Klubobfrau der „Grünen“ im Parlament und Bundessprecherin dieser politischen Partei war, verklagte Facebook Irland vor den österreichischen Gerichten. Sie beantragt, dass Facebook aufgetragen wird, einen von einem Nutzer dieses sozialen Netzwerks veröffentlichten Kommentar, der sie in ihrer Ehre beleidigt, sowie wort- und/oder sinngleiche Behauptungen zu löschen.

Der in Rede stehende Nutzer von Facebook hatte auf seiner Profilseite einen Artikel des österreichischen Online-Nachrichtenmagazins oe24.at mit dem Titel „Grüne: Mindestsicherung für Flüchtlinge soll bleiben“ geteilt, was auf dieser Seite eine „Thumbnail-Vorschau“ von der ursprünglichen Website generierte, die den Titel dieses Artikels, eine kurze Zusammenfassung davon sowie ein Foto von Frau Glawischnig-Piesczek enthielt. Der Nutzer postete außerdem einen Kommentar zu diesem Artikel, der nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts geeignet ist, Frau Glawischnig-Piesczek in ihrer Ehre zu beleidigen, sie zu beschimpfen und zu diffamieren. Dieser Beitrag konnte von jedem Nutzer von Facebook Service abgerufen werden. Vor diesem Hintergrund ersucht der Oberste Gerichtshof (Österreich) den Gerichtshof um
Auslegung der Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr.

Nach dieser Richtlinie ist ein Hosting-Anbieter wie Facebook nicht für eine gespeicherte Information verantwortlich, wenn er keine Kenntnis von ihrem rechtswidrigen Charakter hat oder wenn er, sobald er davon Kenntnis erlangt, unverzüglich tätig wird, um diese Information zu entfernen oder den Zugang zu ihr zu sperren. Dieser Ausschluss hindert jedoch nicht daran, dass
einem Hosting-Anbieter aufgegeben wird, eine Rechtsverletzung abzustellen oder zu verhindern, u. a. durch die Entfernung rechtswidriger Informationen oder der Sperrung des Zugangs zu ihnen.

Hingegen ist es nach der Richtlinie verboten, einen Hosting-Anbieter zu verpflichten, allgemein die von ihm gespeicherten Informationen zu überwachen, oder aktiv nach Umständen zu forschen, die auf eine rechtswidrige Tätigkeit hinweisen.

Mit seinem heutigen Urteil antwortet der Gerichtshof dem Obersten Gerichtshof, dass die Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr, die ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen beteiligten Interessen schaffen soll, es einem Gericht eines Mitgliedstaats nicht verwehrt, einem Hosting-Anbieter aufzugeben,

▪ die von ihm gespeicherten Informationen, die den wortgleichen Inhalt haben wie Informationen, die zuvor für rechtswidrig erklärt worden sind, zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren, unabhängig davon, wer den Auftrag für die Speicherung der Informationen gegeben hat;

▪ die von ihm gespeicherten Informationen, die einen sinngleichen Inhalt haben wie Informationen, die zuvor für rechtswidrig erklärt worden sind, zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren, sofern die Überwachung und das Nachforschen der von einer solchen Verfügung betroffenen Informationen auf solche beschränkt sind, die eine Aussage vermitteln, deren Inhalt im Vergleich zu dem Inhalt, der zur Feststellung der Rechtswidrigkeit geführt hat, im Wesentlichen unverändert geblieben ist, und die die Einzelheiten umfassen, die in der Verfügung genau bezeichnet worden sind, und sofern die Unterschiede in der Formulierung dieses sinngleichen Inhalts im Vergleich zu der Formulierung, die die zuvor für rechtswidrig erklärte Information ausmacht, nicht so geartet sind, dass sie den Hosting-Anbieter zwingen, eine autonome Beurteilung dieses Inhalts vorzunehmen (so kann der Hosting-Anbieter auf automatisierte Techniken und Mittel zur Nachforschung zurückgreifen);

▪ im Rahmen des einschlägigen internationalen Rechts, dessen Berücksichtigung Sache der Mitgliedstaaten ist, weltweit die von der Verfügung betroffenen Informationen zu entfernen oder den Zugang zu ihnen zu sperren.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerwG legt EuGH vor: Ist deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht vereinbar ?

BVerwG
Beschlüsse vom 25. September 2019
6 C 12.18 und 6 C 13.18


Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass der EuGH entscheiden muss, ob die deutsche Regelung zur Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts:

EuGH soll Vereinbarkeit der deutschen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung mit dem Unionsrecht klären

Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig hat heute entschieden, dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine Frage zur Auslegung der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (Richtlinie 2002/58/EG) vorzulegen. Von der Klärung dieser Frage hängt die Anwendbarkeit der im Telekommunikationsgesetz enthaltenen Regelungen zur Vorratsdatenspeicherung ab.

Die Klägerinnen der beiden Ausgangsverfahren erbringen öffentlich zugängliche Internetzugangsdienste bzw. Telefondienste für Endnutzer. Sie wenden sich gegen die ihnen durch § 113a Abs. 1 i.V.m. § 113b TKG in der Fassung des Gesetzes vom 10. Dezember 2015 auferlegte Pflicht, Telekommunikationsverkehrsdaten ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern. Die für eine Dauer von zehn Wochen zu speichernden Daten umfassen u.a. die Rufnummern der beteiligten Anschlüsse, Beginn und Ende der Verbindung oder der Internetnutzung bzw. die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs einer Kurznachricht, zugewiesene Internetprotokoll-Adressen und Benutzerkennungen sowie Kennungen der Anschlüsse und Endgeräte. Für eine Dauer von vier Wochen zu speichern sind zudem Standortdaten, d.h. im Wesentlichen die Bezeichnung der bei Beginn der Verbindung genutzten Funkzelle. Der Inhalt der Kommunikation, Daten über aufgerufene Internetseiten, Daten von E-Mail-Diensten sowie Daten, die den Verbindungen zu oder von bestimmten Anschlüssen in sozialen oder kirchlichen Bereichen zugrunde liegen, dürfen hingegen nicht gespeichert werden. Mit Ausnahme der Internetprotokoll-Adresse dürfen die auf Vorrat gespeicherten Daten von den zuständigen Behörden nur zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten oder zur Abwehr einer konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für den Bestand des Bundes oder eines Landes verwendet werden.

Das Verwaltungsgericht hat auf die Klagen festgestellt, dass die Klägerinnen nicht verpflichtet sind, die im Gesetz genannten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Internetzugang bzw. den Zugang zu öffentlichen Telefondiensten vermitteln, zu speichern. Die Speicherpflicht verstoße gegen Unionsrecht und sei daher in den Fällen der Klägerinnen unanwendbar. Die grundsätzlichen Rechtsfragen zur Reichweite und zu den materiellrechtlichen Anforderungen des im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Unionsrechts seien durch das Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2016 in den verbundenen Rechtssachen C-203/15 (Tele2 Sverige) und C-698/15 (Watson) geklärt. Gegen die erstinstanzlichen Entscheidungen hat die Beklagte, vertreten durch die Bundesnetzagentur, jeweils Sprungrevision eingelegt.

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts hängt davon ab, ob der durch die gesetzliche Speicherpflicht bewirkte Eingriff in die durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2002/58/EG geschützte Vertraulichkeit der elektronischen Kommunikation auf der Grundlage der Erlaubnisnorm des Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie gerechtfertigt ist. Zwar hat der EuGH abschließend geklärt, dass die Richtlinie auf nationale Regelungen der Vorratsspeicherung anwendbar ist und dass Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie des Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die für Zwecke der Bekämpfung von Straftaten eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung sämtlicher Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer und registrierten Nutzer in Bezug auf alle elektronischen Kommunikationsmittel vorsieht.

Klärungsbedarf verbleibt jedoch in Bezug auf die Frage, ob eine nationale Regelung, die - wie § 113a i.V.m. § 113b TKG - eine Pflicht zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung vorsieht, unter keinen Umständen auf Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie gestützt werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass der Kreis der von der Speicherpflicht erfassten Kommunikationsmittel und die Speicherdauer gegenüber den schwedischen und britischen Regelungen, über die der EuGH zu entscheiden hatte, reduziert ist. Ferner enthalten die deutschen Regelungen strenge Beschränkungen im Hinblick auf den Schutz der gespeicherten Daten und den Zugang hierzu. Außerdem besteht angesichts des mit den neuen Telekommunikationsmitteln verbundenen spezifischen Gefahrenpotenzials ein Spannungsverhältnis zwischen den in den Art. 7 und 8 GRC verankerten Grundrechten auf Achtung der Privatsphäre und auf Schutz personenbezogener Daten einerseits und der aus Art. 6 GRC folgenden Pflicht der Mitgliedstaaten, die Sicherheit der sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhaltenden Personen zu gewährleisten, andererseits. Ein ausnahmsloses Verbot der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung würde den Handlungsspielraum der nationalen Gesetzgeber in einem Bereich der Strafverfolgung und der öffentlichen Sicherheit, der nach Art. 4 Abs. 2 Satz 3 EUV jedenfalls grundsätzlich weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, erheblich einschränken und sich damit tendenziell auch von der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention entfernen. Schließlich geht aus verschiedenen beim EuGH bereits anhängigen Vorabentscheidungsersuchen aus anderen Mitgliedstaaten hervor, dass die vorlegenden Gerichte insbesondere im Hinblick auf Art. 6 GRC und Art. 4 EUV Zweifel daran haben, ob die Ausführungen des EuGH im Urteil vom 21. Dezember 2016 als generelles Verbot einer anlasslosen Vorratsdatenspeicherung zu verstehen sind, das weder im Hinblick auf die Erheblichkeit der zu bekämpfenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit noch im Rahmen einer „Kompensation“ durch restriktive Zugriffsregelungen und hohe Sicherheitsanforderungen überwunden werden kann.

Führt das Vorabentscheidungsverfahren zu dem Ergebnis, dass § 113a i.V.m. § 113b TKG unionsrechtswidrig ist, sind die Klägerinnen auch in ihren Rechten verletzt. Denn die Speicherpflicht stellt einen Eingriff in die durch Art. 16 GRC garantierte unternehmerische Freiheit der Klägerinnen dar. Verstoßen diese Regelungen gegen Unionsrecht, dürfen sie wegen des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts nicht angewendet werden. Dann ist diese Grundrechtseinschränkung nicht i.S.d. Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC „gesetzlich vorgesehen“.

Bis zur Entscheidung des Gerichtshofs hat das Bundesverwaltungsgericht die Revisionsverfahren ausgesetzt.

BVerwG 6 C 12.18 - Beschluss vom 25. September 2019

Vorinstanz:

VG Köln, 9 K 3859/16 - Urteil vom 20. April 2018 -

BVerwG 6 C 13.18 - Beschluss vom 25. September 2019

Vorinstanz:

VG Köln, 9 K 7417/17 - Urteil vom 20. April 2018 -




OVG Lüneburg: Verbot von Online-Casinos und Online-Poker in § 4 Abs. 4 GlüStV ist verfassungskonform und verstößt nicht gegen Europarecht

OVG Lüneburg
Urteil vom 28.02.2019
11 LB 497/18


Das OVG Lüneburg hat entschieden, dass das Verbot von Online-Casinos und Online-Poker in § 4 Abs. 4 GlüStV verfassungskonform ist und nicht gegen Europarecht verstößt.

Aus den Entscheidungsgründen:

"Der Senat folgt diesen Erwägungen des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Senatsbeschl. v. 17.8.2016 - 11 ME 61/16 -, juris, Rn. 30). Die Berufungsbegründung der Klägerin zu 1. führt zu keiner anderen Entscheidung.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil ausdrücklich berücksichtigt, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urt. v. 30.6.2016 - C-64/15 -, juris, und Urt. v. 14.6.2017 - C-685/15 -, juris) bei der Prüfung der unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeit einer restriktiven nationalen Regelung im Bereich der Glücksspiele nicht nur auf die Zielsetzung dieser Regelung zum Zeitpunkt ihres Erlasses, sondern auch auf die nach ihrem Erlass zu bewertenden Auswirkungen abzustellen ist. Im Hinblick auf die teilweise Öffnung des Internetvertriebswegs für Sportwetten hat das Bundesverwaltungsgericht weiter darauf hingewiesen, dass diese Experimentiercharakter hat und das Experiment noch nicht abgeschlossen ist, so dass die Eignung der probeweisen Öffnung noch nicht abschließend beurteilt werden kann (Urt. v. 26.10.2017 - 8 C 18/16 -, juris, Rn. 43). Dass die vom Bundesverwaltungsgericht unter Bezugnahme auf die einheitliche obergerichtliche Rechtsprechung und die Gesetzesbegründung angeführten spezifischen Gefahren, die mit dem Anbieten von Glücksspielen über das Internet verbunden sind, nicht mehr vorliegen, ist nicht ersichtlich und lässt sich, wie noch ausgeführt wird, auch den aktuellen Studien und Forschungsberichten nicht entnehmen. Die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichts, dass vom Online-Glücksspiel besondere Gefahren ausgehen, steht im Übrigen mit der aktuellen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Einklang (Urt. v. 28.2.2018 - C-3/17 -, juris, Rn. 41 m.w.N.).

In dem aktuellen Forschungsbericht der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) „Glücksspielverhalten und Glücksspielsucht in Deutschland - Ergebnisse des Surveys 2017 und Trends -“ vom 15. Februar 2018 wird unter Bezugnahme auf zwei Gutachten ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich Online-Casinospiele (darunter fallen auch Online-Pokerspiele) im Allgemeinen durch eine hohe Spielgeschwindigkeit, oftmals höhere Auszahlungsquoten als terrestrische Angebote und eine ständige Verfügbarkeit auszeichnen (S. 205). Weiter (S. 205 f.) wird in dem Forschungsbericht ausgeführt, dass Online-Casinospiele erst in jüngerer Zeit eine größere Verbreitung erfahren hätten und es vermutlich noch einige Zeit dauern werde, bis sich im Zusammenhang mit diesen Spielen auftretende Glücksspielprobleme epidemiologisch niederschlügen. Gegenwärtig sei das exakte Ausmaß der Sucht bei Online-Glücksspielen noch unklar, da die Prävalenzen des mindestens problematischen Glücksspiels unter den Teilnehmern von Online-Glücksspielen schwankten. Unter Berücksichtigung der Daten aus den beiden aktuellsten BZgA-Glücksspielsurveys aus dem Zeitraum 2015 bis 2017 seien Personen mit mindestens problematischem Glücksspielverhalten am häufigsten unter den Personen zu finden, die in den letzten 12 Monaten das „kleine Spiel“ in der Spielhalle (21,1%), Internet-Casinospiele (18,4%), Bingo (12,3%), Geldspielautomaten (10,5%), Oddset-Spielangebote (9,8%) oder Keno (9,6%) gespielt haben (S. 15 u. Tabelle 45, S. 249 f.). Der Anteil von Problemspielern bei Online-Sportwetten betrage 4,1% und bei Live-Wetten 5,8%. Eine multivariate Auswertung der zusammengefassten Erhebungen von 2015 und 2017 weise weiterhin signifikant auf das stark erhöhte Risiko von Online-Casinospielen hin. So sei das Risiko eines Online-Casinospielers fast um das 9-Fache höher mindestens problematisch zu spielen als bei einer Person, die nicht Online-Casinospiele spiele (S. 206).

Angesichts der sich aus dem aktuellen Bericht der BZgA ergebenden hohen Werte und schwankenden Ergebnisse bezüglich des Anteils von Spielern mit problematischem und pathologischem Spielverhalten bei Online-Casinospielen ist das Internetverbot für diese Glücksspiele weiterhin als verhältnismäßig anzusehen. Internet-Casinospiele stehen im Hinblick auf den Problemspieleranteil von allen in den BZgA-Surveys untersuchten Glücksspielen nach dem Automatenspiel in der Spielbank an zweiter Stelle in der Rangfolge. Gegen diese Einschätzung spricht nicht der nach der BZgA-Studie relativ geringe Anteil der Befragten am illegalen Online-Glücksspiel. Danach haben in den zurückliegenden 12 Monaten lediglich 0,6% der Befragten illegale Online-Casinospiele und 1,8% der Befragten Online-Sportwetten in der „Grauzone“ gespielt. Diese Werte stehen im Kontrast zu den Prognosen der Glücksspielmarktforschung und sind nach der BZgA-Studie möglicherweise auf Vorbehalte der Befragten zurückzuführen, über ihre Spielaktivitäten im illegalen Markt bzw. in der „Grauzone“ Auskunft zu geben. Zudem sei der Online-Glücksspielmarkt sehr unübersichtlich und die Angebote im Internet erweckten oft den Schein der Legalität, so dass den Konsumenten möglicherweise auch nicht immer bewusst sei, an einem illegalen Glücksspiel oder einem Glücksspiel in der gesetzlichen „Grauzone“ teilzunehmen.

Eine andere Beurteilung ist auch nicht aufgrund des Endberichts des Landes Hessen zur Evaluierung des Glücksspielstaatsvertrages vom 10. April 2017 geboten. In dem Endbericht wird zunächst in Abbildung 16 auf Seite 37 das Gefährdungspotenzial von verschiedenen Glücksspielen dargestellt, welches sich aus bestimmten technischen Eigenschaften und Merkmalen der Glücksspielformen ableiten lässt (angegebene Quelle: Meyer et al. (2010), S. 409, 411). Danach weisen Glücksspielautomaten in Spielbanken, Geldspielautomaten (Geldspielgeräte), gefolgt von Poker im Internet, Sportwetten (Live-Wetten im Internet) sowie Roulette in Spielbanken das höchste Risikopotenzial auf. Weiter wird anhand einer Umfrage von stationär behandelten Patienten mit pathologischem Spielverhalten aus dem Jahr 2014 überprüft, ob das unterschiedlich hohe Gefährdungspotenzial der Glücksspielformen auch empirisch belegt werden kann. Danach hat der größte Teil der befragten Patienten an Geldspielgeräten gespielt. Von 414 Patienten spielten 313 (75,6%) an Geldspielautomaten in Spielhallen, 137 (33,1%) an Geldspielgeräten in Gaststätten und 70 (16,9%) an Glücksspielautomaten in Spielbanken. Im Bereich der Online-Glücksspiele hat die Befragung ergeben, dass von den stationär behandelten Patienten 21 (5,1%) Online-Sportwetten, 48 (11,6%) Online-Kartenspiele und 31 (7,5%) Online-Casinospiele gespielt haben. Auch dem Endbericht des Landes Hessen zur Evaluierung des Glücksspielstaatsvertrages lässt sich nicht entnehmen, dass das Suchtpotenzial von Online-Casinospielen das Internetverbot nicht mehr rechtfertigt. Da Online-Casinospiele erst in jüngerer Zeit eine größere Verbreitung gefunden haben, können aus einer Befragung von glücksspielsüchtigen Spielern aus dem Jahr 2014 keine hinreichenden Rückschlüsse auf die Suchtgefahr dieser Spiele gezogen werden. Das Ergebnis der Umfrage ist auch angesichts der geringen Anzahl der Befragten (414) nicht aussagekräftig. Zum Vergleich wurden bei der BZgA-Studie 2017 insgesamt 11.503 Personen telefonisch befragt. Zudem ist bei der Beurteilung des Suchtpotenzials verschiedener Glücksspielarten nicht nur pathologisches Spielverhalten, sondern auch schon problematisches Spielverhalten zu berücksichtigen, so dass die ausschließliche Befragung von aufgrund ihrer Glücksspielsucht stationär behandelten Patienten nicht ausreicht.

Der Evaluierungsbericht des Landes Hessen kommt weiter zu dem Ergebnis, dass die aktuelle Lage und die Entwicklung des deutschen Glücksspielmarktes seit Inkrafttreten des GlüStV 2012 den Schluss zulassen, dass die Ziele des GlüStV bei der Glücksspielregulierung verfehlt worden seien. Im Hinblick auf Casino- und Pokerspiele im Internet schlägt der Bericht angesichts des weiter gewachsenen Marktes (von 2013 bis 2015 um 46%) und der bisher nicht wirksamen Unterbindung des illegalen Spiels zur Bekämpfung des inzwischen größten Schwarzmarkts in Deutschland aus Gründen des Spieler- und Jugendschutzes eine Regulierung dieses Marktsegments vor. Als Regelung zum Spielerschutz wird ein monatliches Verlustlimit von 1.000 EUR mit Anbindung an die Spielersperrdatei OASIS vorgeschlagen. Mit solch einer strikten Spielerschutzregelung sei die Regulierung eines Glücksspiels mit einem höheren Suchtpotenzial vertretbar (S. 40 f.). Auch danach wird das höhere Suchtpotenzial von Online-Casinospielen nicht in Zweifel gezogen.

Dass mit einer Änderung des mit Ablauf des 30. Juni 2021 außer Kraft tretenden Glücksspielstaatsvertrags das Internetverbot weiter gelockert und für Online-Casinospiele und Online-Pokerspiele ähnlich wie bei Online-Sportwetten ein Erlaubnismodell eingeführt werden könnte, steht der Vereinbarkeit des Internetverbots mit Art. 56 AEUV zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht entgegen. Wie sich aus dem Ergebnisprotokoll der Jahreskonferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 24. bis 26. Oktober 2018 (Top 8 Glücksspiel) ergibt, läuft derzeit eine von mehreren Bundesländern finanzierte Studie der Universität Hamburg, bei der die verschiedenen Regulierungsansätze in Europa bezüglich des Online-Glücksspiels miteinander verglichen werden sollen. Im Rahmen des Vergleichs soll eine sozio-ökonomische Analyse der Glücksspielmärkte einschließlich etwaiger Wanderungsbewegungen erfolgen sowie aufgezeigt werden, welche Folgen und Herausforderungen die jeweilige Regulierung für Aufsicht, Vollzug, Spielerschutz und Suchtprävention hat. Mit dieser Studie sollen diejenigen Fragen beantwortet werden, die im Evaluationsbericht offengeblieben sind. Die Endfassung des Berichts soll zum Projektende im Dezember 2019 vorgelegt werden.

Die von der Klägerin zu 1. angeführte Studie von Suzanne Lischer (Das Gefährdungspotenzial von Internet-Glücksspielen und Möglichkeiten des Spielerschutzes, ZfWG Sonderbeilage 4/18) gibt keinen Anlass zu einer anderen Einschätzung. Soweit die Studie zu dem Ergebnis kommt, dass Online-Glücksspiele nicht mit höheren Risiken verbunden seien als vergleichbare Spiele im stationären Vertrieb, erscheint dies spekulativ und überzeugt nicht. Dieses Ergebnis lässt sich insbesondere nicht aus der in Bezug genommenen BZgA-Studie 2017 herleiten, nach der das exakte Ausmaß der Sucht bei Online-Spielen noch unklar ist, die vorliegenden Zahlen allerdings bei Online-Casinospielen nach den Automatenspielen den zweithöchsten Anteil von Problemspielern ausweisen.

dd. Die weiteren gegen die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung angeführten Einwände der Klägerin zu 1. greifen ebenfalls nicht durch.

Die Klägerin zu 1. ist zu Recht als Verantwortliche für die Veranstaltung von Glücksspiel im Internet herangezogen worden. Veranstalter von Glücksspiel ist, wer verantwortlich und organisatorisch den äußeren Rahmen für die Abhaltung des Glücksspiels schafft und der Bevölkerung dadurch den Abschluss von Glücksspielverträgen ermöglicht (Bayerischer VGH, Beschl. v. 24.1.2012 - 10 CS 11.1670 -, juris, Rn. 18; VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 29.4.2010 -, juris, Rn. 4; Dietlein/Hecker/ Ruttig, Glücksspielrecht, 2. Aufl., § 2 Rn. 4). Dass die Klägerin zu 1. das in der Verfügung im Einzelnen bezeichnete Online-Glücksspiel veranstaltet hat, unterliegt keinen Zweifeln und ist von ihr auch nicht bestritten worden."

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

EuGH: Geplante deutsche PKW-Maut ist aufgrund Kompensation über Kfz-Steuer europarechtswidrig - Mittelbare Diskriminierung - Verstoß gegen Grundsätze des Freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs

EuGH
Urteil vom 18.06.2019
C-591/17
Österreich / Deutschland


Der EuGH hat entschieden, dass die geplante deutsche PKW-Maut europarechtswidrig ist. Da Halter von in Deutschland zugelassener PKW über die Kfz-Steuer entlastet werden sollen, liegt eine mittelbare Diskriminierung sowie ein Verstoß gegen Grundsätze des Freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs vor.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Die deutsche Vignette für die Benutzung von Bundesfernstraßen durch Personenkraftwagen verstößt gegen das Unionsrecht

Diese Abgabe ist diskriminierend, da ihre wirtschaftliche Last praktisch ausschließlich auf den Haltern und Fahrern von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeugen liegt Bereits 2015 hat Deutschland den rechtlichen Rahmen für die Einführung der Infrastrukturabgabe geschaffen, d. h. einer Abgabe für die Benutzung der Bundesfernstraßen einschließlich der Autobahnen durch Personenkraftwagen.

Mit dieser Abgabe möchte Deutschland teilweise von einem System der Steuerfinanzierung zu einem auf das „Benutzerprinzip“ und das „Verursacherprinzip“ gestützten Finanzierungssystem übergehen. Die Erträge dieser Abgabe sollen zur Gänze zur Finanzierung der Straßeninfrastruktur verwendet werden und ihre Höhe bemisst sich nach Hubraum, Antriebsart und Emissionsklasse des Fahrzeugs.

Alle Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen haben die Abgabe in Form einer Jahresvignette mit einem Betrag von höchstens 130 Euro zu entrichten. Für im Ausland zugelassene Fahrzeuge ist die Abgabe (vom Halter oder Fahrer) nur im Fall der Benutzung der Autobahnen zu entrichten. Insoweit ist eine Zehntagesvignette (von 2,50 bis 25 Euro), eine Zweimonatsvignetten (von 7 bis 50 Euro) oder eine Jahresvignette (höchstens 130 Euro) verfügbar.

Parallel dazu hat Deutschland vorgesehen, dass den Haltern von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen ab Erhebung der Infrastrukturabgabe eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in einer Höhe zugutekommt, die mindestens dem Betrag der Abgabe entspricht, die sie entrichten mussten.

Österreich ist der Ansicht, dass die kombinierte Wirkung der Infrastrukturabgabe und der Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer für in Deutschland zugelassene Fahrzeuge sowie die Modalitäten der Ausgestaltung und des Vollzugs der Infrastrukturabgabe gegen das Unionsrecht, namentlich das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, verstießen. Nachdem Österreich die Kommission um eine Stellungnahme ersucht hatte, die Kommission sich jedoch innerhalb der dafür vorgesehenen Fristen nicht geäußert hatte, erhob dieser Mitgliedstaat vor dem Gerichtshof eine Vertragsverletzungsklage gegen Deutschland. In diesem Verfahren wird Österreich von den Niederlanden unterstützt, während Deutschland von Dänemark unterstützt wird.

In seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof fest, dass die Infrastrukturabgabe in Verbindung mit der Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer, die den Haltern von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen zugutekommt, eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt und gegen die Grundsätze des freien Warenverkehrs und des freien Dienstleistungsverkehrs verstößt.

Hinsichtlich des Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stellt der Gerichtshof fest, dass die Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer zugunsten der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen bewirkt, dass die von diesen entrichtete Infrastrukturabgabe vollständig kompensiert wird, so dass die wirtschaftliche Last dieser Abgabe tatsächlich allein auf den Haltern und Fahrern von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeugen liegt.

Zwar steht es den Mitgliedstaaten frei, das System zur Finanzierung ihrer Straßeninfrastruktur zu ändern, indem sie ein System der Steuerfinanzierung durch ein System der Finanzierung durch sämtliche Nutzer einschließlich der Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeugen, die diese Infrastruktur nutzen, ersetzen, damit alle Nutzer in gerechter und verhältnismäßiger Weise zu dieser Finanzierung beitragen. Jedoch ist bei einer solchen Änderung das Unionsrecht, namentlich das Diskriminierungsverbot, zu beachten.

Im vorliegenden Fall kann Deutschland insbesondere nicht gefolgt werden, wenn es vorträgt, die Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer zugunsten der in diesem Mitgliedstaat zugelassenen Fahrzeuge spiegle den Übergang zur Finanzierung der Straßeninfrastruktur durch alle Nutzer nach dem „Benutzerprinzip" und dem „Verursacherprinzip" wider.

Da Deutschland keine näheren Angaben zum Umfang des Beitrags der Steuer zur Finanzierung der Infrastrukturen des Bundes gemacht hat, hat es nämlich in keiner Weise dargetan, dass der den Haltern von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen gewährte Ausgleich in Form einer Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in Höhe eines Betrags, der mindestens dem der Infrastrukturabgabe, die sie entrichten mussten, entspricht, diesen Beitrag nicht übersteigt und somit angemessen ist.

Zudem wird die Infrastrukturabgabe, was die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen anbelangt, jährlich und ohne die Möglichkeit geschuldet, eine Vignette für einen kürzeren Zeitraum zu wählen, wenn eine solche der Häufigkeit, mit der sie diese Straßen nutzen, besser entspräche. Diese Gesichtspunkte in Verbindung mit der Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in Höhe eines Betrags, der mindestens dem der entrichteten Infrastrukturabgabe entspricht, zeigen, dass der Übergang zu einem Finanzierungssystem, das auf das „Benutzerprinzip“ und das „Verursacherprinzip“ gestützt ist, in Wirklichkeit ausschließlich die Halter und Fahrer von in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Fahrzeugen betrifft, während für die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen weiterhin das Steuerfinanzierungsprinzip gilt. Im Übrigen hat Deutschland nicht dargetan, wie die festgestellte Diskriminierung durch Umwelterwägungen oder sonstige Erwägungen gerechtfertigt werden könnte.

Hinsichtlich des freien Warenverkehrs stellt der Gerichtshof fest, dass die streitigen Maßnahmen geeignet sind, den Zugang von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten zum deutschen Markt zu behindern. Die Infrastrukturabgabe, der tatsächlich ausschließlich die Fahrzeuge unterliegen, die diese Erzeugnisse befördern, ist nämlich geeignet, die Transportkosten und damit auch die Preise dieser Erzeugnisse zu erhöhen, und beeinträchtigt damit deren Wettbewerbsfähigkeit.

Hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs stellt der Gerichtshof fest, dass die streitigen Maßnahmen geeignet sind, den Zugang von aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Dienstleistungserbringern und -empfängern zum deutschen Markt zu behindern. Die Infrastrukturabgabe kann nämlich aufgrund der Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer entweder die Kosten der Dienstleistungen erhöhen, die von diesen Dienstleistern in Deutschland erbracht werden, oder die Kosten erhöhen, die sich für diese Dienstleistungsempfänger daraus ergeben, dass sie sich in diesen Mitgliedstaat begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.

Hingegen entscheidet der Gerichtshof, dass die Modalitäten der Ausgestaltung und des Vollzugs der Infrastrukturabgabe entgegen dem Vorbringen Österreichs nicht diskriminierend sind. Dabei handelt es sich um die stichprobenartige Überwachung, die etwaige Untersagung der Weiterfahrt mit dem betreffenden Fahrzeug, die nachträgliche Erhebung der Infrastrukturabgabe, die mögliche Verhängung eines Bußgelds sowie die Zahlung einer Sicherheitsleistung.


Tenor der Entscheidung:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 18, 34, 56 und 92 AEUV verstoßen, dass sie die Infrastrukturabgabe für Personenkraftwagen eingeführt und gleichzeitig eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer in einer Höhe, die mindestens dem Betrag der entrichteten Abgabe entspricht, zugunsten der Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen vorgesehen hat.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Bundesrepublik Deutschland trägt drei Viertel der Kosten der Republik Österreich sowie ihre eigenen Kosten.

4. Die Republik Österreich trägt ein Viertel ihrer eigenen Kosten.

5. Das Königreich der Niederlande und das Königreich Dänemark tragen jeweils ihre eigenen Kosten.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



EuGH-Generalanwalt: Deutsche PKW-Maut unionsrechtskonform - keine Diskriminierung ausländischer Autobahnnutzer

EuGH-Generalanwalt
Schlussanträge vom 06.02.2019
C-591/17
Österreich / Deutschland


Der EuGH-Generalanwalt kommt in seinen Schlussanträgen zu dem Ergebnis, dass die deutsche PKW-Maut unionsrechtskonform ist und keine Diskriminierung ausländischer Autobahnnutzer darstellt.

Der EuGH ist an die Schlussanträge des Generalanwalts nicht gebunden, folgt diesen aber häufig.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Generalanwalt Wahl schlägt dem Gerichtshof vor, die Klage Österreichs gegen die neue deutsche Autobahngebühr abzuweisen

Der Umstand, dass Haltern von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen eine Steuerentlastung bei der deutschen Kraftfahrzeugsteuer zugutekomme, die dem Betrag der Infrastrukturabgabe entspreche, stelle keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit dar Deutschland hat 2015 ein Gesetz erlassen, das die Erhebung einer Gebühr für die Benutzung von Bundesfernstraßen (insbesondere Autobahnen) mit Fahrzeugen mit einem Gewicht von weniger als 3,5 Tonnen – so genannte Infrastrukturabgabe – vorsieht.

Für in Deutschland zugelassene Fahrzeuge (inländische Fahrzeuge) ist die Abgabe vom Fahrzeughalter im Voraus in Form einer Jahresvignette zu entrichten. Bei im Ausland zugelassenen Fahrzeugen gilt die Verpflichtung zur Zahlung der
Infrastrukturabgabe entweder dem Halter oder dem Fahrer und entsteht mit der ersten Benutzung von Bundesfernstraßen nach einem Grenzübertritt. Für diese Fahrzeuge stehen drei Optionen zur Verfügung: eine Zehntagesvignette, eine Zweimonatsvignette und eine Jahresvignette.

Abhängig vom Hubraum, der Art des Motors und der Emissionsklasse liegt der Preis einer Zehntagesvignette zwischen mindestens 2,50 Euro und höchstens 25 Euro. Der Preis der Zweimonatsvignette liegt zwischen mindestens 7 Euro und höchstens 55 Euro. Die Jahresvignette schließlich hat einen Höchstpreis von 130 Euro.

Mit Beginn der Erhebung der Infrastrukturabgabe wird den Haltern inländischer Fahrzeuge eine Steuerentlastung bei der Kraftfahrzeugsteuer zugutekommen, die dem Betrag der Infrastrukturabgabe entsprechen wird (Haltern von Euro-6-Fahrzeugen wird sogar eine noch höhere Steuerentlastung zugutekommen).

Österreich ist der Ansicht, dass Deutschland mit der Festlegung der Infrastrukturabgabe gegen mehrere Bestimmungen des Unionsrechts verstoßen habe. Die Infrastrukturabgabe und die Steuerentlastung für Halter inländischer Fahrzeuge wirken sich nach Auffassung Österreichs in der Kombination insbesondere dahin aus, dass in der Praxis nur die Fahrer von Fahrzeugen, die in anderen Mitgliedstaaten zugelassen seien (ausländische Fahrzeuge), der Infrastrukturabgabe unterlägen, was zu einer mittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führe.

Da die Kommission das Vertragsverletzungsverfahren, das sie gegen Deutschland eingeleitet hatte, eingestellt hat (nachdem Deutschland die nationalen Rechtsvorschriften hinsichtlich des Preises für Kurzzeitvignetten und der Steuerentlastung geändert hatte), hat Österreich beim Gerichtshof gegen Deutschland eine Vertragsverletzungsklage erhoben. In diesem Verfahren wird
Österreich von den Niederlanden unterstützt, während Deutschland von Dänemark unterstützt wird. Diese Rechtssache ist eine der seltenen Rechtssachen, in denen ein Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen anderen Mitgliedstaat eingeleitet hat.

In seinen Schlussanträgen vom heutigen Tag schlägt Generalanwalt Nils Wahl dem Gerichtshof vor, die von Österreich gegen Deutschland erhobene Klage abzuweisen. Der Generalanwalt ist insbesondere der Ansicht, dass das Vorbringen Österreichs, das sich auf eine angebliche Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit stützt, auf einem grundlegenden Missverständnis des Begriffs „Diskriminierung" beruhe.

Er räumt ein, dass Halter inländischer Fahrzeuge überwiegend die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, während Fahrer ausländischer Fahrzeuge überwiegend Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats seien. Somit wäre, obgleich die deutschen Rechtsvorschriften keine explizite Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit begründeten, eine mittelbare
Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit und folglich ein Unionsrechtsverstoß zu erwarten, sollten die von Österreich vorgebrachten Argumente für begründet erachtet werden.

Nach Auffassung des Generalanwalts ist es Österreich jedoch nicht gelungen, seinen Standpunkt in Bezug auf zwei Diskriminierungsgrundsätze überzeugend darzulegen.

Erstens befänden sich die beiden Gruppen von Personen, die Österreich miteinander verglichen habe, in Bezug auf die Maßnahmen, die es beanstande, nicht in einer vergleichbaren Situation.

Halter inländischer Fahrzeuge seien sowohl Nutzer deutscher Straßen (und unterlägen somit der Infrastrukturabgabe) als auch deutsche Steuerzahler (da sie der Kraftfahrzeugsteuer unterlägen).

Hingegen handele es sich bei den Fahrern ausländischer Fahrzeuge um Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten: Sie könnten als solche anderen Steuern oder Abgaben in ihrem jeweiligen Wohnsitzland unterliegen, aber sie würden niemals verpflichtet sein, deutsche Kraftfahrzeugsteuer zu zahlen.

Daher seien die Halter inländischer Fahrzeuge und die Fahrer ausländischer Fahrzeuge zwar im Hinblick auf die Benutzung der deutschen Autobahnen vergleichbar, aber sie seien nicht vergleichbar, wenn man sie im Licht beider Maßnahmen prüfe, d. h., wenn man sie sowohl als Benutzer deutscher Autobahnen als auch als Steuerzahler betrachte. Daher sei das Vorbringen Österreichs widersprüchlich: Einerseits bestehe dieser Mitgliedstaat darauf, dass die beiden Maßnahmen zusammen geprüft werden müssten, andererseits schaue er bei der Ermittlung der Vergleichsgröße lediglich auf die Vergleichbarkeit der beiden Gruppen im Hinblick auf die Benutzung der deutschen Autobahnen durch diese Gruppen.

Zweitens habe Österreich keine weniger günstige Behandlung darlegen können, die die in Rede stehenden Maßnahmen für die Fahrer ausländischer Fahrzeuge bedeuten würden. Bei einer Prüfung im Licht beider Maßnahmen befänden sich die Fahrer ausländischer Fahrzeuge nicht in einer Situation, die weniger günstig sei als die, in der sich die Halter inländischer Fahrzeuge befänden, und könnten sich auch niemals in einer solchen Situation befinden. Um auf deutschen Autobahnen fahren zu dürfen, müssten die Erstgenannten nur die Infrastrukturabgabe zahlen und seien dabei nicht verpflichtet, den Betrag für ein ganzes Jahr zu zahlen: Sie könnten sich entsprechend ihrem tatsächlichen Bedarf für eine Vignette mit kürzerer Gültigkeitsdauer entscheiden. Hingegen müssten die Halter inländischer Fahrzeuge, um auf deutschen Autobahnen fahren zu dürfen, von Gesetzes wegen sowohl die Infrastrukturabgabe als auch Kraftfahrzeugsteuer zahlen. Darüber hinaus seien die Halter von in Deutschland zugelassenen Fahrzeugen unabhängig davon, ob sie tatsächlich heimische Autobahnen benutzten, verpflichtet,
die Infrastrukturabgabe in Höhe des für eine Jahresvignette geschuldeten Betrags zu entrichten.

Folglich liege, betrachte man beide Maßnahmen zusammen – wie es Österreich vom Gerichtshof verlange –, offensichtlich keine weniger günstige Behandlung ausländischer Fahrer vor: Für jedes in einem anderen Mitgliedstaat zugelassene Fahrzeug, das künftig auf deutschen Autobahnen genutzt werde, werde, damit es dort genutzt werden dürfe, an die deutschen Behörden stets ein geringerer Betrag gezahlt werden als der, der vom Halter eines in Deutschland zugelassenen Fahrzeugs desselben Modells entrichtet werde.

Der Generalanwalt räumt ein, dass die Höhe der Kraftfahrzeugsteuer, die von den Fahrzeughaltern inländischer Fahrzeuge zu entrichten sei, dank der Steuerentlastung geringer sein werde als in der Vergangenheit. Aber selbst wenn die Steuerentlastung eine „Nullreduzierung" der Kraftfahrzeugsteuer zur Folge hätte (was nicht der Fall sei), wäre jeder ausländische Fahrer verpflichtet, für die Benutzung deutscher Autobahnen einen Betrag zu zahlen, der höchstens so hoch wäre, wie der Betrag, der von den Haltern inländischer Fahrzeuge zu zahlen wäre.

Nach Ansicht des Generalanwalts haben die deutschen Behörden völlig zu Recht die Ansicht vertreten, dass erstens die Kosten des Autobahnnetzes, die bisher hauptsächlich von den Steuerzahlern getragen würden, gleichmäßig auf alle Nutzer, einschließlich der Fahrer ausländischer Fahrzeuge, aufgeteilt werden müssten, und zweitens, dass die Halter inländischer Fahrzeuge einer unverhältnismäßig hohen Besteuerung unterworfen würden, wenn sie sowohl der Infrastrukturabgabe als auch der Kraftfahrzeugsteuer unterlägen.

Hinsichtlich der deutschen Kontroll- und Vollzugsmaßnahmen (stichprobenartige Überwachung, Erhebung einer Sicherheitsleistung, Untersagung der Weiterfahrt) vertritt der Generalanwalt die Auffassung, dass Österreich seiner Beweislast dafür, dass diese Maßnahmen zu einer mittelbaren Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit führen würden, nicht nachgekommen sei.

Was die behauptete Verletzung des freien Warenverkehrs und des freien Dienstleistungsverkehrs anbelangt, ist der Generalanwalt der Ansicht, dass Österreich im Hinblick auf eine mögliche Auswirkung der Infrastrukturabgabe auf den grenzüberschreitenden Handel keinerlei Nachweise erbracht habe. Es gebe keine Anhaltspunkte, die auf eine Behinderung des Markzugangs hindeuten könnten. Eine Auswirkung auf die Verkehrsfreiheiten scheine daher ungewiss bzw. allenfalls mittelbar zu sein.

Was die Vertragsbestimmungen über die gemeinsame Verkehrspolitik anbelangt, konkret die Stillhalteklausel, die es den Mitgliedstaaten untersagt, Vorschriften in ihren Auswirkungen auf die Verkehrsunternehmer anderer Mitgliedstaaten ungünstiger zu gestalten, hat der Generalanwalt Zweifel, ob diese Klausel noch anwendbar ist. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, hat
Österreich nach Ansicht des Generalanwalts nicht hinreichend erläutert, noch gar irgendwelche Beweise dafür vorgebracht, wie eine Maßnahme, die nur Fahrzeuge von weniger als 3,5 Tonnen betreffe, tatsächliche Auswirkungen auf ausländische Verkehrsunternehmen haben könnte. In diesem Zusammenhang weist der Generalanwalt darauf hin, dass die deutsche
Infrastrukturabgabe mit zwei weithin anerkannten Dogmen der EU-Verkehrspolitik in Einklang stehe: Die Kosten im Zusammenhang mit der Benutzung von Verkehrsinfrastrukturen sollen auf dem „Benutzerprinzip" und dem „Verursacherprinzip"
beruhen.


Die vollständigen Schlussanträge finden Sie hier: