Skip to content

Volltext LG Hamburg liegt vor: Einstweilige Verfügung in Sachen Rammstein gegen Spiegel - Verdachtsberichterstattung teilweise rechtswidrig

LG Hamburg
Beschluss vom 14.07.2023
324 O 228/23

Das LG Hamburg hat entschieden, dass die Verdachtsberichterstattung des Spiegels über die Band Rammstein in Teilen rechtswidrig war.

Aus den Entscheidungsgründen:
Dem Antragsteller steht der aus dem Tenor ersichtliche Unterlassungsanspruch gegen die Antragsgegnerin aus §§ 1004 Abs. 1 S. 2 analog, 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG zu. Die angegriffene Berichterstattung verletzt den Antragsteller in dem tenorierten Umfang in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.

1. Der Antrag zu Ziffer 2. zweiter Spiegelstrich hat Erfolg. Die Äußerung „W. berichtet, dass intern dieser Gang von der After-Show-Party zur After-Aftershow-Party die „Schlampenparade“ genannt werde. Die Frauen, die nicht ausgewählt wurden, blieben danach auf der regulären Party und könnten von Mitarbeitern der Crew angemacht werden, „Resteficken“ heiße das intern.“ verletzt das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers. Es handelt sich um eine rechtswidrig verbreitete Verdachtsäußerung der Antragsgegnerin. Die Kammer teilt insoweit nicht die Ansicht des Antragstellers, dass diese Äußerung von der Antragsgegnerin als feststehend verbreitet wird. Der unvoreingenommene und verständige Durchschnittsleser geht nicht davon aus, dass es feststehe, dass die als von S. W. stammend in der Berichterstattung geschilderten Vorwürfe zutreffend seien. Vielmehr ergibt sich aus dem Gesamtkontext, dass dieser in der Berichterstattung geschilderte Sachverhalt von der Antragsgegnerin nur als möglich dargestellt wird. Dies folgt insbesondere aus der unmittelbar den Schilderungen der S. W. vorangestellten Äußerung „Es scheint ein ausgefeiltes System hinter alldem zu stecken. So zumindest stellt es S. W. dar.“ Sodann werden die Schilderungen von Frau W. in der indirekten Rede wiedergegeben und am Ende des Artikels stellt die Antragsgegnerin fest „Es gibt bislang nur Indizien, dass die Geschichten stimmen könnten, es gibt immer mehr Aussagen. Das war bei H. W. am Anfang allerdings auch so.“ Aus dieser konkreten Einbettung folgt, dass die Antragsgegnerin nicht behaupten will, dass die von ihr in dem Artikel dargestellten Vorwürfe zutreffend seien, sondern dass sie dies lediglich für möglich erachtet. Dies gilt auch für die von S. W. wiedergegeben und hier angegriffenen Begebenheiten, welche die Antragsgegnerin als von S. W. berichtet darstellt.

Die Äußerung ist dennoch rechtswidrig verbreitet, da prozessual nicht von dem Vorliegen eines für die Veröffentlichung ausreichenden Mindestbestands an Beweistatsachen ausgegangen werden kann. Es kann prozessual nicht davon ausgegangen werden, dass die Verwendung der von dem Antragsteller angegriffenen Begriffe bei der Crew der Band R. ständige Praxis war. Der Antragsteller hat mit Nichtwissen bestritten, dass der Gang von der Aftershow-Party zur After-Aftershow-Party intern, also unter der Konzert-Crew, als „Schlampenparade“ bezeichnet werde. Gleiches gelte für die Behauptung, Frauen, die nicht ausgewählt werden würden, blieben auf der regulären Aftershow-Party und könnten von Mitarbeitern der Crew angemacht werden sowie für die Bezeichnung dieses Vorgehens als „Resteficken.“ Er hat ausgeführt, dass ihm derartige Bezeichnungen nicht bekannt seien und dass er noch nie davon gehört habe, dass die Konzert-Crew derartige Bezeichnungen im Zusammenhang mit den dargestellten Vorwürfen verwende. Der Antragsteller hat mithin dargelegt, dass er keine eigene Wahrnehmung zu den von der Antragsgegnerin behaupteten Vorwürfen hat. Das Bestreiten mit Nichtwissen stellt sich als zulässig im Sinne von § 138 Abs. 4 ZPO dar. Der Antragsteller hatte auch keine weiteren Erkundigungen einzuholen, da die diesbezüglichen Angaben der Antragsgegnerin, die sich auf die eidesstattliche Versicherung von Frau W. beruft, vollkommen offenlassen, zu welchen Zeitpunkten und in welchem Kontext die Äußerungen gefallen sein sollen.

Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Antragsgegnerin eine eidesstattliche Versicherung der Zeugin W. vorlegt (Anlage AG3), welche schildert, dass sie mehrfach die Begriffe „Resteficken“ und „Schlampenparade“ in dem in der Berichterstattung dargestellten Zusammenhang von den Crewmitgliedern gehört habe, vermag die Kammer nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass die in der Berichterstattung enthaltenen Vorwürfe als glaubhaft gemacht zu behandeln sind. Denn die eidesstattliche Versicherung der Zeugin W., Anlage AG3, ist insoweit nicht geeignet, den in der Berichterstattung transportierten Verdacht, der Gang von der Aftershow-Party zur After-Aftershow-Party werde intern als „Schlampenparade“ bezeichnet, der Umstand, dass sich Crewmitarbeiter an die auf der Aftershow-Party verbleibenden Mädchen heranmachen würden als „Resteficken“, als glaubhaft gemacht anzusehen. Die Antragsgegnerin transportiert in der Berichterstattung den Verdacht, die von dem Antragsteller angegriffenen Bezeichnungen seien gängige Praxis gewesen. Dies geht allerdings über das hinaus, was die Zeugin W. in ihrer eidesstattlichen Versicherung angegeben hat. Denn insoweit führt sie ohne weitere Angaben von Ort und Zeit und ohne Angabe, wer sich ihr gegenüber entsprechend geäußert habe, lediglich aus, dass sie diese Begriffe mehrfach von Crewmitgliedern gehört habe. Dass es sich bei diesen Bezeichnungen um ständige Übung handelt, so das sich aus der Berichterstattung ergebende Verständnis, folgt aus der eidesstattlichen Versicherung der Zeugin W. nicht. Vielmehr lässt sich dieser lediglich entnehmen, dass die Zeugin W. diese Begriffe mehrfach gehört habe, ohne dass Angaben zu der Häufigkeit der Verwendung gemacht wurden.

Kann prozessual nicht davon ausgegangen werden, dass die angegriffenen Vorwürfe zutreffend sind, liegt auch der für eine Verdachtsberichterstattung erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen nicht vor. Die Kammer geht davon aus, dass die eidesstattlich versicherten Angaben der Zeugin W., welche der Antragsgegnerin im Berichterstattungszeitpunkt vorlagen, auch nicht geeignet sind, den für eine Verdachtsberichterstattung erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen darzustellen. Denn wie dargelegt transportiert die Antragsgegnerin den Verdacht, dass die Benutzung der Bergriffe üblich gewesen sei, es sich mithin um ständige Übung gehandelt habe. Dies aber lässt sich der eidesstattlichen Versicherung der Zeugin W. nicht entnehmen.

Der rechtswidrig verbreitete Verdacht ist für den Antragsteller auch von persönlichkeitsrechtlicher Relevanz. Zwar handelt es sich nicht um Vorwürfe, welche dem Antragsteller persönlich gemacht werden. Indes sollen sie sich rund um die Konzerte der Band R. zugetragen haben, deren Frontmann der Antragsteller ist, sodass er auch selbst betroffen ist. Die Kammer geht auch nicht davon aus, dass die Vorwürfe den Antragsteller auch deshalb nicht in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht beeinträchtigen, da er die Ausführungen der Antragsgegnerin betreffend das Vorhalten einer „Suck Box“ bei seinen Konzerten, in welcher er sich regelmäßig einen „Blowjob“ habe verpassen lassen, nicht in Abrede genommen hat. Die angegriffenen Vorwürfe sind ehrenrührig, da sie transportieren, dass die Frauen auf den Konzerten der Band R. despektierlich und abwertend behandelt werden. Auch wenn weiteres unstreitiges Handeln des Antragstellers und der Band bzw. ihres Umfelds von manchen Lesern ebenfalls als abwertend und despektierlich gegenüber Frauen bewertet werden kann, so muss es der Antragsteller nicht hinnehmen, dass ein entsprechender konkreter Vorwurf verbreitet wird, der keine ausreichende tatsächliche Stütze findet.

2. Soweit sich der Antragsteller mit dem Antrag zu 2. dritter Spiegelstrich gegen die Äußerung „Einmal, nach einem Konzert in München 2019, erinnert sich W., sei es auf der After-Aftershow-Party zu einem lautstarken Streit zwischen L. und K. gekommen. Sie hätten sich dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht und sich angeschrien, die ungefähr 20-jährige Frau habe verstört gewirkt.“ wendet, handelt es sich um eine rechtswidrige Verdachtsberichterstattung. Die Kammer teilt insoweit wiederum nicht die Ansicht des Antragstellers, dass der geschilderte Streit von der Antragsgegnerin als so tatsächlich geschehen behauptet wird. Der unvoreingenommene und verständige Durchschnittsleser geht nach Auffassung der Kammer nicht davon aus, dass es feststehe, dass die als von S. W. in der Berichterstattung geschilderten Vorwürfe zutreffend seien. Vielmehr ergibt sich aus den soeben dargestellten Gründen unter Berücksichtigung des Gesamtkontexts der Berichterstattung, dass dieser in der Berichterstattung geschilderte Sachverhalt von der Antragsgegnerin nur als möglich erachtet wird.

Der so von der Antragsgegnerin verbreitete Verdacht, es sei auf einer After-Aftershow-Party zu einem lautstarken Streit zwischen L. und K. gekommen. Sie hätten sich dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht und sich angeschrien, die ungefähr 20-jährige Frau habe verstört gewirkt, ist indes rechtswidrig verbreitet, da die Voraussetzungen einer rechtmäßigen Verdachtsberichterstattung nicht vorliegen. Insoweit fehlt es hinsichtlich des konkreten Vorwurfs an dem erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen, welcher der Berichterstattung Öffentlichkeitswert verleiht.

Prozessual kann nicht davon ausgegangen werden, dass der in der Berichterstattung geschilderte Vorfall mit dem transportierten Hintergrund tatsächlich stattgefunden hat. Der Antragsteller hat bestritten, dass es zwischen R. K. und ihm zu einem lautstarken Streit um ein Mädchen gekommen sei, das sich beide zum Sex ausgesucht hatten. Die Antragsgegnerin beruft sich zur Begründung des im Berichterstattungszeitpunkt vorliegenden Mindestbestands an Beweistatsachen für den von ihr verbreiteten Verdacht auf die Zeugin S. W., welche die von ihr gegenüber der Antragsgegnerin geschilderten Angaben an Eides statt versichert hat. Indes hat die Zeugin den Sachverhalt gegenüber der Antragsgegnerin im Berichterstattungszeitpunkt nicht wie in der Berichterstattung niedergelegt geschildert.

Insoweit hat die Zeugin W., wie aus der Anlage AG3 ersichtlich, der Antragsgegnerin gegenüber angegeben: „In München gab es während der Tour 2019 einen Vorfall, bei dem T. L. und R. K. sich lautstark im Backstage stritten. Beide hatten sich auf der After-Aftershow-Party offenbar dasselbe Mädchen „ausgesucht“, um Sex mit ihr zu haben. (…)“ Hieraus wird deutlich, dass die Zeugin den Streit zwischen dem Antragsteller und Herrn L. aus eigener Wahrnehmung schildert, hinsichtlich des Grund des Streits aber Mutmaßungen anstellt. Insoweit unterscheidet sich die eidesstattliche Versicherung, welche ja die gegenüber der Antragsgegnerin geschilderte Einlassung der Zeugin „abdecken“ soll, von der Berichterstattung, in welcher es konkret heißt:

„Einmal, nach einem Konzert in München 2019, erinnert sich W., sei es auf der After-Aftershow-Party zu einem lautstarken Streit zwischen L. und K. gekommen. Sie hätten sich dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht und sich angeschrien, die ungefähr 20-jährige Frau habe verstört gewirkt.“ (Anlage Ast6) bzw. „Einmal, nach einem Konzert in München 2019, erinnert sich W., sei es auf der After-Aftershow-Party zu einem lautstarken Streit zwischen L. und Gitarrist R. K. gekommen. Sie hätten sich dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht und sich angeschrien, die ungefähr 20-jährige Frau habe verstört gewirkt. (Anlage Ast7).

Randnummer15
Das Verständnis, das ein unvoreingenommener und verständiger Durchschnittsleser der Berichterstattung entnimmt, ist, dass die Zeugin W. sowohl den Streit selbst als auch dessen Grund selbst wahrgenommen hat. Dafür fand sich bereits im Berichterstattungszeitpunkt in der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung keine ausreichende Grundlage, da die Zeugin W. in dieser offenlegt, dass der Grund des Streits nicht auf einer sicheren Kenntnis beruht („offenbar“). Schon aus diesem Grund durfte die Antragsgegnerin nicht wie geschehen berichten, da für den in der Berichterstattung transportierten Verdachtsmoment keine ausreichende Tatsachengrundlage vorlag.

Es liegt auch trotz der mit Schriftsatz vom 10.07.2023 (dort auf Seite 12) abgegebenen Unterlassungsverpflichtungserklärung die für den Unterlassungsanspruch erforderliche Wiederholungsgefahr vor. Denn auch wenn die Antragsgegnerin sich verpflichtet hat, die Passage nur noch wie folgt zu verbreiten: „„Einmal, nach einem Konzert in München 2019, erinnert sich W., sei es auf der After-Aftershow-Party zu einem lautstarken Streit zwischen L. und K. gekommen. Sie hätten sich offenbar dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht und sich angeschrien, die ungefähr 20-jährige Frau habe verstört gewirkt.“ ist die Verdachtsberichterstattung weiterhin als rechtswidrig verbreitet anzusehen. Die Unterlassungsverpflichtungserklärung ist inhaltlich nicht ausreichend, um die Wiederholungsgefahr zu beseitigen. Denn die angegriffene Passage wird weiterhin rechtswidrig verbreitet.

Die Kammer geht davon aus, dass aufgrund des Umstands, dass die Zeugin W. den Grund des Streits auch nach eigenen Angaben nicht persönlich mitbekommen hat, er insoweit also nicht auf ihrer eigenen Wahrnehmung beruht, sondern nur auf einer entsprechenden Mitteilung ihres damaligen Partners, der für die Verbreitung des Verdachts erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen nicht vorliegt. Es handelt sich um einen für den Antragsteller stark ehrenrührigen Vorwurf, dessen Stattfinden er in Abrede nimmt.

Der Vorfall kann nicht als prozessual unstreitig behandelt werden. Zwar hat der Antragsteller das Stattfinden des Vorfalls nur einfach bestritten und keine entsprechende eidesstattliche Versicherung vorgelegt, während die Antragsgegnerin sich zur Glaubhaftmachung des Vortrags auf die eidesstattliche Versicherung der Zeugin S. W. berufen hat. Indes hat diese – wie bereits ausgeführt – den Grund des von ihr geschilderten Streits nicht selbst wahrgenommen, sondern selbst insoweit eine Unsicherheit aufgewiesen, als dass dies „offenbar“ der Grund des von ihr erlebten Streits gewesen sei. In einer späteren eidesstattlichen Versicherung hat sie präzisiert, nur Zeugin vom Hörensagen gewesen zu sein. Auch wenn dem Umstand, dass die Zeugin ihre Angaben an Eides statt versichert hat, ein erhebliches Gewicht zukommt, während der Antragsteller den Vorfall nur einfach bestritten hat, vermag die Kammer nicht zu der Überzeugung gelangen, dass es tatsächlich bei einer After-Aftershow-Party anlässlich eines R.-Konzerts in München 2019 zu einem Streit zwischen dem Antragsteller und R. K. gekommen ist, da sich beide dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht hatten. Dies insbesondere, da die Zeugin selbst keine eigene Wahrnehmung jedenfalls den Grund des Streits betreffend hat.

Aus diesem Grund ist allein die eidesstattliche Versicherung der Zeugin W. auch nicht geeignet, den für die vorliegende Verdachtsberichterstattung erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen darzustellen. Auch wenn der Leser nun erkennen kann, dass die Zeugin keine sichere Kenntnis hat, was der Grund des von ihr geschilderten Streits gewesen sei, so entnimmt er dennoch der Darstellung die Möglichkeit, R. K. und der Antragsteller hätten sich dasselbe Mädchen zum Sex ausgesucht, weswegen es zum Streit zwischen ihnen gekommen sei. Insoweit bleibt auch bei dieser Darstellung ein gewichtiger Verdacht gegenüber dem Antragsteller bestehen, für welchen der erforderliche Mindestbestand nicht vorliegt.

3. Auch der Antrag zu 3. hat Erfolg. Es handelt sich um eine rechtswidrige Verdachtsberichterstattung, welche den Antragsteller in seinem geschützten Persönlichkeitsrecht verletzt. Die Kammer geht davon aus, dass der von dem Antragsteller mit dem Antrag zu 3. angegriffene Verdacht, der Antragsteller habe Frauen bei Konzerten der Gruppe „R.“ mithilfe von K.O.Tropfen und/oder Drogen und/oder Alkohol betäubt oder betäuben lassen, um ihm zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an den Frauen vornehmen zu können, aus der Sicht des maßgeblichen unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittslesers tatsächlich erweckt wird. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Schilderung der gegenüber dem Antragsteller existierenden Vorwürfe wie folgt eingeleitet wird: „Es gibt Vorwürfe von Frauen, dass T. L., 60, der Sänger der B. Band R. und wahrscheinlich der einzige wirklich weltberühmte deutsche Rocker, rund um Konzerte Frauen belästigt haben soll. Einige Frauen vermuten, ihnen seien Drogen ins Getränk gemischt worden. L.s Leute sollen ein perfides Casting-System für Groupies unterhalten und Sex mit ihnen organisiert haben.“ Kurz danach heißt es: „Kann man zusammenbleiben, wenn dem eigenen Frontmann solche Vorwürfe gemacht werden?“ Sodann werden Fälle geschildert, in denen junge Frauen nach dem Konsum von Getränken Erinnerungslücken beschreiben und Sex mit dem Antragsteller hatten bzw. von diesem nach solchem gefragt wurden. Insoweit heißt es bei der Irin S. L., die auf einem Konzert „gespiked“ worden sein soll, dass diese zuvor auf einer Pre-Party mit dem Antragsteller eingeladen gewesen sei. Dort sei ihr ein Drink angeboten worden. Später sei ihre Erinnerung abgerissen. Der Antragsteller habe sie später gefragt, ob sie Sex mit ihm wolle. Auch der in der Berichterstattung als „Z.“ bezeichnete weibliche Fan gibt an, dass sie nach dem nur maßvollen Konsum von Alkohol zu dem Antragsteller in das Hotel gefahren sei, dort sei es dann zum Sex mit dem Antragsteller gekommen, ihre Erinnerungen seien verschwommen, sie habe sich nicht aufrecht halten können. „A.“ teilt ebenfalls mit, zu dem Antragsteller in ein Hotel gebracht worden zu sein. Dort habe sie Wodka bekommen, dann begännen ihre Erinnerungen lückenhaft zu werden. Sie habe neben dem Antragsteller gesessen, das wisse sie noch. Als sie aufgewacht sei, habe der Antragsteller auf ihr gelegen. Die Antragsgegnerin führt nach der Schilderung der von den drei Frauen dargestellten Vorwürfe weiter aus: „Es zeichnet sich ein ähnliches Muster ab. In all den Verdachtsfällen, die bisher bekannt sind. (…) Es scheint ein ausgefeiltes System hinter alldem zu stecken.“ Sodann fährt die Berichterstattung mit den Schilderungen der Zeugin S. W. fort, die davon berichtet, dass ihr eine von einer Pre-Party kommende Teilnehmerin dieser Party, die sehr betrunken gewesen sei, berichtet habe, dass es auf der Pre-Party Alkohol gegeben habe, sie schon auf mehreren dieser Partys gewesen sei und der Antragsteller immer dabei sei. Eine andere Teilnehmerin dieser Party habe vollkommen überdreht gewirkt und es sei ihr sichtbar schwergefallen, eine Unterhaltung zu führen. Im weiteren Verlauf des Artikels nimmt die Antragsgegnerin Bezug auf von dem Antragsteller veröffentlichte Poesie, in welcher dieser unter anderem schreibt: „Ich schlafe gern mit dir wenn du schläfst, wenn du dich überhaupt nicht regst.“ sowie „Und genauso soll das sein (so soll das sein so macht das Spaß), etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).“ und bezeichnet diese als Vergewaltigungsfantasien. Von diesen Fantasien heißt es bereits in der Unterüberschrift der Print-Berichterstattung (Anlage Ast7), dass sie Wirklichkeit geworden sein könnten, was als sich auch auf die Gabe von Rohypnol beziehend verstanden wird.

Dem dargestellten Kontext entnimmt der Durchschnittsleser das Verständnis, dass der Antragsteller selbst oder mit seinem Wissen und Wollen durch „seine Leute“ ein System unterhalten haben könnte, in dem Frauen im Umfeld der Konzerte der Band R. K.O-Tropfen und/oder Drogen und/oder Alkohol verabreicht wurden, damit diese mit dem Antragsteller Sex haben bzw. er sexuelle Handlungen an diesen vornehmen könne. Zwar lässt sich den wiedergegebenen Schilderungen der in der Berichterstattung genannten Konzertbesucherinnen nicht entnehmen, dass diese tatsächliche Anhaltspunkte dafür haben, dass der Antragsteller ihnen Drogen/K.O.-Tropfen/Alkohol verabreicht hat, damit er im Anschluss mit diesen Sex haben bzw. sexuelle Handlungen an ihnen vornehmen könne. Allerdings wird dieser Verdacht durch die von der Antragsgegnerin gewählte konkrete Einbettung der Aussagen der Zeuginnen mit den vorstehend wiedergegebenen Passagen des Artikels erweckt.

Die Kammer hat dabei auch den Einwand der Antragsgegnerin berücksichtigt, dass der Leser der Berichterstattung keinen Verdacht entnehme, er erkenne vielmehr, dass insoweit lediglich Vermutungen angestellt würden. Doch auch wenn der Grat zwischen einer als Meinungsäußerung einzuordnenden Vermutung und der Erweckung eines tatsächlichen Verdachts mitunter schmal ist, ist hier von letzterem auszugehen. Denn die Berichterstattung wird nicht nur mit dem gegenüber dem Antragsteller erhobenen Vorwürfen der Belästigung von Frauen rund um Konzerte eingeleitet. Nach dem Hinweis darauf, dass einige Frauen vermuten, ihnen seien Drogen ins Getränk gemischt worden, und dass „die Leute“ des Antragstellers ein perfides Castingsystem für Groupies unterhalten und Sex mit ihnen organisiert haben sollen, fragt die Antragsgegnerin „Kann man zusammenbleiben, wenn dem eigenen Frontmann solche Vorwürfe gemacht werden?“ Sodann schildert die Berichterstattung drei Situationen von Frauen, die bei einem Zusammentreffen mit dem Antragsteller nach eigenen Angaben nicht mehr bei vollem Bewusstsein waren bzw. Erinnerungslücken aufwiesen und die jeweils Sex mit dem Antragsteller hatten bzw. jedenfalls deswegen angefragt wurden (S. L.). Diese Schilderungen der Frauen, auch wenn sie – wie ausgeführt – jeweils für sich genommen den angegriffenen Verdacht nicht transportieren, stellen sich in dem konkreten Kontext als die vorher aufgeworfenen Vorwürfe gegen den Antragsteller bestätigend dar, sie untermauern diese mit tatsächlichem Geschehen. Diese Darstellung setzt sich später mit dem Hinweis darauf, dass der Antragsteller bereits früher in Form von Poesie Vergewaltigungsfantasien gehegt habe, fort und verfestigt damit weiter die bereits zu Beginn der Berichterstattung aufgeworfenen Vorwürfe.

Für diesen so verstandenen und den Antragsteller äußerst schwerwiegend belastenden Verdacht, den der Antragsteller in Abrede genommen hat, fehlt es an dem erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen. Keine Aussage der Zeuginnen, welche ihre Angaben an Eides statt versichert haben bzw. gegenüber den Autorinnen der Antragsgegnerin getätigt haben (vgl. eidesstattliche Versicherungen der Autorinnen der Antragsgegnerin als Anlagen AG8 und AG9) trägt den Verdacht, dass der Antragsteller Frauen bei Konzerten mit Hilfe von K.O.-Tropfen/Alkohol/Drogen betäubt hat bzw. hat betäuben lassen, um ihm zu ermöglichen, sexuelle Handlungen an den Frauen vornehmen zu können. Insoweit verweist die Antragsgegnerin selbst darauf, dass die Frauen jeweils nur Vermutungen anstellen, sie könnten „gespiked“ worden sein, keine aber behaupte bzw. es nur als möglich darstelle, dass dies von dem Antragsteller mit der Zielrichtung Sex initiiert worden sei. Einzig die Zeugin W. versichert an Eides statt, dass der Antragsteller und A. M. ein System geschaffen hätten, bei dem junge Mädchen unter falschen Vorwänden zu Konzerten und Partys eingeladen werden, auf denen sie Alkohol und Drogen bekommen. Das Ziel dieser Partys sei es, T. L. mit Sexpartnerinnen zu versorgen. Diese Aussage allein ist indes nicht geeignet, den Mindestbestand für den wie dargestellt schwer ehrenrührigen Verdacht zu tragen. Auch eine Gesamtschau des Vortrags der Zeuginnen und der entsprechenden eidesstattlichen Versicherungen führt zu keiner anderen Bewertung.

Die Kammer hat bei der Tenorierung von § 938 Abs. 1 ZPO Gebrauch gemacht und den Antrag des Antragstellers insoweit um eine Passage ergänzt, die nach ihrer Auffassung den beanstandeten Verdacht komplettiert. Damit ist die Kammer nicht über das Antragsbegehren hinausgegangen, da sich dieses auf den zu untersagenden Verdacht und nicht auf die einzelnen Äußerungen bezieht (vgl. OLG Hamburg, Urteil vom 21.05.2019 - 7 U 109/18).

II.
1.
Keinen Erfolg hat der Antrag des Antragstellers, soweit er sich mit dem Antrag zu 1.) gegen die Berichterstattung wendet, mit welcher die Antragsgegnerin die Erlebnisse von „Z.“ und „A.“ mit dem Antragsteller schildert.

Randnummer26
Diese Berichterstattung verletzt den Antragsteller nicht in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, da es sich um eine rechtmäßige Verdachtsberichterstattung handelt. Der für eine Verdachtsberichterstattung erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen liegt vor (a). Auch die weiteren Voraussetzungen einer rechtmäßigen Verdachtsberichterstattung sind gegeben (b).

a) Hinsichtlich der Vorwürfe, welche die in der Berichterstattung als „Z.“ bezeichnete Frau betreffen, ist davon auszugehen, dass das Aufeinandertreffen des Antragstellers mit dieser Frau, bei der es sich um Frau J. handelt (eidesstattliche Versicherung als Anlage Ag1), und auch ein stattgefundener sexueller Kontakt unstreitig sind, der Antragsteller indes in Abrede nimmt, dass der Sex hart und brutal gewesen sei, dass er den Kopf von Frau J. über das Bettende gedrückt habe, um hiernach „Facefucking“ an ihr vorzunehmen, dass er das Gesicht von Frau J. hart in das Bett gedrückt habe und dass er am nächsten Morgen diese sexuellen Handlungen an Frau J. fortgesetzt habe, obwohl diese vorher gesagt habe, dass irgendwas bei ihr nicht laufe.

Nicht entschieden werden muss hier, ob vor dem Hintergrund, dass die Antragsgegnerin eine eidesstattliche Versicherung der Frau J. zur Akte gereicht hat, in welcher diese die in der Berichterstattung wiedergegebenen Vorwürfe an Eides statt versichert, während der Antragsteller selbst sich nur auf einfaches Bestreiten ohne weitere Glaubhaftmachungsmittel beschränkt, von der prozessualen Wahrheit des verbreiteten Verdachts auszugehen ist, da die Antragsgegnerin insoweit nur einen Verdacht verbreitet hat, für den von dem Vorliegen des erforderlichen Mindestbestands an Beweistatsachen auszugehen ist.

Im Rahmen der bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung besonders sorgfältig vorzunehmenden Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit ist im Ausgangspunkt festzuhalten, dass die Rechtspositionen im vorliegenden Fall auf beiden Seiten ein hohes Gewicht aufweisen: So besteht nicht zuletzt aufgrund der nachdrücklich und mit hoher medialer Aufmerksamkeit geführten „MeToo-Debatte“ein großes öffentliches Interesse an einer diese Thematik betreffenden Berichterstattung. Dies gilt erst recht, wenn sich die Vorwürfe gegen eine so bekannte Person wie den Antragsteller richten und ganz aktuell eine große öffentliche Debatte um Geschehnisse rund um die Konzerte von dessen Band geführt wird. Auf Seiten des Antragstellers ist zu berücksichtigen, dass die öffentliche Diskussion der gegen ihn erhobenen Vorwürfe eine erhebliche Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts des Antragstellers zur Folge hat. Die Kammer ist im Rahmen dieser Abwägung auch unter Berücksichtigung der für den Antragsteller geltenden Unschuldsvermutung zu dem Ergebnis gelangt, dass sein Persönlichkeitsrecht gegenüber dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem damit korrespondierenden Berichterstattungsinteresse der Antragsgegnerin vorliegend nicht überwiegt.

Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist das überwiegende Berichterstattungsinteresse der Antragsgegnerin nicht bereits deswegen zu verneinen, weil die Schilderungen die absolut geschützte Intimsphäre des Antragstellers berührten. Zwar ist dem Antragsteller zuzugeben, dass Angaben über das Sexualleben und insbesondere sehr detaillierte Schilderungen eines stattgefundenen sexuellen Kontakts grundsätzlich die Intimsphäre einer Person berühren und als solche in der Regel einer Abwägung nicht zugänglich sind (vgl. BGH, NJW 2012, 767). Ob ein Sachverhalt auch im konkret zu beurteilenden Einzelfall der Intimsphäre einer Person zuzuordnen ist, lässt sich indes nicht schematisch bzw. thematisch bestimmen, sondern beurteilt sich anhand der besonderen Voraussetzungen des jeweiligen Einzelfalls, unter anderem auch danach, inwieweit der Betroffene sein Sexualleben bisher hat geheim halten wollen und in welcher Art und Intensität er aus sich heraus die Sphäre anderer oder die Belange der Gemeinschaft berührt bzw. inwieweit Einzelheiten berichtet werden (vgl. Korte, Presserecht, 2. Aufl. <2019>, § 2 Rn. 62).

Vorliegend war von der Kammer bei der Frage, ob von einer Betroffenheit der Intimsphäre des Antragstellers auszugehen ist, zu berücksichtigen, dass die Berichterstattung sehr detaillierte Einzelheiten des Sexualkontakts offenbart und dies für den Antragsteller aufgrund der ihm dort zugeschriebene Rolle und seines als möglich dargestellten Verhaltens äußerst ehrabträglich ist. Es war allerdings auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller Teile seines Sexuallebens in die Öffentlichkeit getragen und diese sogar an einem tatsächlich stattgefundenen Geschlechtsakt hat teilhaben lassen, indem er auf einem Konzert ein Video hat einblenden lassen, das zeigt, wie er in einer unter der Bühne eigens dafür installierten Vorrichtung Sex mit Besucherinnen seines Konzerts hat. Der Antragsteller hat mithin die Durchführung eines sexuellen Akts unter seiner Beteiligung von sich aus in die Öffentlichkeit gebracht.

Auch wenn es vorliegend nicht um Sex geht, der in der unstreitig unter der Bühne vorgehaltenen Einrichtung stattgefunden hat, so liegt eine Vergleichbarkeit der Situationen insoweit vor, als dass der Sex mit „Z.“, der Zeugin J., auch im unmittelbaren Zusammenhang mit einem öffentlichen Konzert des Antragstellers stattgefunden hat und dass es sich bei Frau J. ebenso wie bei den in dem eingeblendeten Video beteiligten Frauen um eine Konzertbesucherin handelte. Diese hat zudem an dem Antragsteller unstreitig vor der sich anschließenden Zweisamkeit im Hotelzimmer in Anwesenheit mehrerer Personen Oralverkehr durchgeführt.

Unter Berücksichtigung des Umstands, dass der von dem Antragsteller selbst in der Öffentlichkeit gezeigte Sexualkontakt und der in dieser Berichterstattung beschriebene Sexualkontakt, davon muss prozessual ausgegangen werden, unter ähnlichen Umständen zu Stande gekommen sind, und der Antragsteller mit dem Zeigen des Videos während eines Konzerts deutlich zum Ausdruck gebracht hat, dass er hinsichtlich der in der eigens installierten Vorrichtung beschriebenen Vorgänge kein Geheimhaltungsbedürfnis verspürt, kann vorliegend nicht davon ausgegangen werden, dass die Schilderungen des stattgefundenen Sexualkontakts mit der Zeugin J., in der Berichterstattung als „Z.“ bezeichnet, in die Intimsphäre des Antragstellers eingreifen.

Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle, dass das weiterhin von der Antragsgegnerin angeführte Pornovideo, dessen Inhalt auf der Seite 10 f. der Antragserwiderung vom 28.06.2023 genannt wird, bei der Beurteilung der Frage, ob eine Betroffenheit der Intimsphäre vorliegt oder nicht, keine Rolle gespielt hat. Denn dabei handelt es sich um ein Video, das der Antragsteller im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit gedreht hat und an dessen Erstellung freiwillige und professionelle Pornodarsteller mitgewirkt haben. Berufliche sexuelle Kontakte bzw. eine entsprechende Darstellung lassen nicht auf einen verringerten Schutz der Intimsphäre auch für andere Situationen schließen. Zudem weist die Kammer aus Klarstellungsgründen darauf hin, dass sie für die Inhalte des bei dem Konzert gezeigten Videos aus der dafür vorgehaltenen Vorrichtung nicht das Video selbst, das in diesem Verfahren nicht eingereicht wurde, sondern die Schilderungen der Antragsgegnerin vom Inhalt des Videos zu Grunde gelegt hat.

Ist zu Grunde zu legen, dass die Schilderung des Sexualkontakts zwischen dem Antragsteller und „Z.“ nicht als der Intimsphäre des Antragstellers zugehörig anzusehen ist, ist von einem Überwiegen des Berichterstattungsinteresses der Antragsgegnerin gegenüber den Privatheitsinteressen des Antragstellers auszugehen.

Die Antragsgegnerin hat sich darauf berufen, dass ihre Berichterstattung auf den Schilderungen der Frau J. beruhe, welche ihre Angaben bereits im Berichterstattungszeitpunkt an Eides statt versichert hatte. Aus der Anlage AG1 ergibt sich, dass Frau J. die Angaben gegenüber der Antragsgegnerin so getätigt hat, wie sie sich in der Berichterstattung wiederfinden. Diese Angaben von Frau J. stellen zur Überzeugung der Kammer auch hinsichtlich des zwischen den Parteien streitigen Teils der (sexuellen) Begegnung zwischen dem Antragsteller und Frau J. den für eine Verdachtsberichterstattung erforderlichen Mindestbestand an Beweistatsachen, welcher dieser Öffentlichkeitswert verleiht, dar.

Insoweit ist zu berücksichtigen, dass es für die Vorwürfe neben dem Antragsteller und Frau J. keine weiteren Zeugen gibt und dass es sich um eine Aussage gegen Aussage Konstellation handelt. Dennoch geht die Kammer davon aus, dass die eidesstattliche Versicherung von Frau J. im Berichterstattungszeitpunkt ausreichend war, um wie geschehen zu berichten. Zwar handelt es sich, wie ausgeführt, um die eidesstattliche Versicherung nur einer Zeugin. Indes ist das Geschehen auch nur dieser Zeugin und dem Antragsteller bekannt. Würde man davon ausgehen, dass immer dann, wenn es aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls nur eine Zeugin geben kann, der erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen nicht vorliegt, würde dies dazu führen, dass über einen möglichen Vorfall wie den vorliegenden nie berichtet werden dürfte. Dies mag das zutreffende Ergebnis sein, wenn es neben der Aussage nur einer Person keine weiteren Anhaltspunkte bzw. Indizien gibt, die für den Wahrheitsgehalt des Verdachts sprechen. Dies ist vorliegend indes nicht der Fall. Denn insoweit hat in die Bewertung des Vorliegens des Mindestbestands an Beweistatsachen einzufließen, dass auch die in der Berichterstattung als „A.“ bezeichnete Frau S. einen sexuellen Kontakt mit dem Antragsteller schildert, bei dem sie nicht vollständig „Herrin ihrer Sinne“ gewesen sein soll und bei dem der Antragsteller dennoch sexuelle Handlungen an bzw. mit ihr vorgenommen haben soll. Zudem handelte es sich auch bei der Zeugin S. um eine Besucherin seines Konzerts und der sich daran anschließenden After-Aftershow-Party. Der Umstand, dass der Antragsgegnerin gleich zwei sich ähnelnde Vorfälle geschildert und an Eides statt versichert wurden, verstärkt den sich der Antragsgegnerin im Berichterstattungszeitpunkt präsentierenden Mindestbestand für den von ihr verbreiteten Verdacht.

Auch wenn die Vorgänge wie dargelegt nicht die absolut geschützte Intimsphäre des Antragstellers berühren, war in die vorzunehmende Abwägung dennoch einzustellen, dass die Vorwürfe äußerst privat sind und von dem Antragsteller ein sehr ehrabträgliches Bild gezeichnet wird. Insoweit hatte die Kammer sehr sorgfältig zu prüfen, ob angesichts der Massivität der Vorwürfe und der Detailtiefe der Schilderungen von einem Überwiegen des Berichterstattungsinteresses der Antragsgegnerin auch bei Vorliegen des Mindestbestands ausgegangen werden kann. Dies hat die Kammer im Ergebnis unter der Berücksichtigung bejaht, dass es unstreitig im Umfeld des Antragstellers ein System gab, bei dem im Vorfeld von Konzerten Teilnehmende für die Partys und die „Row Zero“ ausgewählt wurden, welche sich vorab per Fotos und Videos beworben hatten und bei denen auch auf das Outfit geachtet wurde, dass die Antragsgegnerin durch die Vorlage von mehreren eidesstattlichen Versicherungen glaubhaft gemacht hat, dass die Teilnehmerinnen dieser Partys von dem Antragsteller selbst nach Sex gefragt wurden und dass es auch zu Sex mit den Teilnehmerinnen gekommen ist, dass dieser unstreitig in einer eigens dafür vorgehaltenen Vorrichtung hinter/unter der Bühne mit Teilnehmerinnen der Row Zero Sexualkontakte hatte und dass die Antragsgegnerin insgesamt das Vorliegen eines Systems glaubhaft gemacht hat, bei dem Frauen für die „Row Zero“ bzw. entsprechende Partys mit der Band des Antragstellers rekrutiert wurden, bei welchen es jedenfalls reichlich Alkohol gab und bei denen sexuelle Kontakte des Antragstellers mit den rekrutierten Frauen üblich waren. Dass eine Band ein solches System unterhält, ist ein Vorgang von hohem öffentlichen Interesse, der besonders bemerkenswert ist. In diesem Kontext stehen die vorliegend streitgegenständlichen Vorwürfe, da sie sich auf den Sexualkontakt mit eben über dieses System rekrutierten Fans beziehen. Dies führt dazu, trotz der erheblichen für den Schutz des Persönlichkeitsrechts des Antragstellers streitenden Umstände von dem Überwiegen des Berichterstattungsinteresses der Antragsgegnerin auszugehen.

b) Auch die weiteren für das Vorliegen einer rechtmäßigen Verdachtsberichterstattung erforderlichen Voraussetzungen liegen vor. Die Kammer geht insbesondere nicht davon aus, dass aufgrund einer zu kurz bemessenen Anhörungsfrist dem Antragsteller vor der Berichterstattung keine ausreichende Gelegenheit zur Stellungnahme gewährt wurde. Zwar war die gesetzte Frist angesichts des umfangreichen Fragenkatalogs sehr knapp bemessen. Indes ist hier insbesondere zu berücksichtigen, dass nicht nur der gesamte Komplex, sondern auch einige der konkreten Vorwürfe bereits aufgrund vorangegangener Berichterstattungen bekannt waren. Insoweit hatte auch die Antragsgegnerin den Antragsteller zu diesen bereits aus anderen Berichterstattungen bekannten Vorwürfen bereits angehört, als sie darauf hingewiesen hatte, dass sie plane, über die vom NDR und von der Süddeutschen Zeitung berichteten Vorwürfe ebenfalls zu berichten (Anlage AG8). Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der vorangegangenen Berichterstattungen und auch der Äußerung der Irin S. L., welche kurz zuvor bekannt geworden waren, ein erheblicher Aktualitätsdruck bestand. Gerade dieser Aktualitätsdruck war dem Antragsteller auch bekannt, weswegen er gemeinsam mit seinen Bandkollegen bereits eine Rechtsanwaltskanzlei mit der anwaltlichen Vertretung beauftragt (Anlage AG9) und auch einen Kommunikationsberater eingeschaltet hatte. Insoweit wurden der Antragsteller bzw. die ihn insoweit unterstützenden Personen nicht von der Anfrage der Antragsgegnerin überrascht, sondern befanden sich vielmehr in einer Situation, in welcher sie auf Anfragen wie diejenige der Antragsgegnerin vorbereitet sein mussten. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass sich der Antragsteller auch im Zeitpunkt der Anfrage auf Tour befand und insoweit sicherlich beruflich stark eingebunden war. Dass der Antragsteller während des Laufs der Frist zur Stellungnahme seine Rechtsanwälte gewechselt hat, fällt in seinen Verantwortungsbereich und vermag eine unzulässige Kürze der Fristsetzung nicht zu begründen.

Die Berichterstattung ist auch nicht deswegen rechtswidrig, weil sie sich als vorverurteilend und nicht in dem erforderlichen Maße ausgewogen darstellt. Der maßgebliche Durchschnittsleser erkennt, dass die Vorwürfe nicht bewiesen sind.

Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass die Verdachtsberichterstattung der Antragsgegnerin in Bezug auf den geschilderten sexuellen Kontakt des Antragstellers mit „A.“, der Zeugin S., ebenfalls als rechtmäßig verbreitet anzusehen ist. Auch dort ist unter Berücksichtigung der von dieser abgegebenen eidesstattlichen Versicherung, welche die Vorwürfe wie in der Berichterstattung wiedergegeben schildert, in der vorzunehmenden Gesamtschau mit den Angaben der Zeugin J. davon auszugehen, dass der für die Berichterstattung erforderliche Mindestbestand an Beweistatsachen vorliegt. Auch für die dortigen Schilderungen gilt, dass die Verdachtsberichterstattung nicht deswegen rechtswidrig ist, da sie sich als sich auf die Intimsphäre des Antragstellers beziehend darstellt. Denn auch bei „A.“ handelte es sich um eine Besucherin eines seiner Konzerte, mit welcher der Antragsteller unstreitig im Anschluss an ein Konzert intim geworden ist.

2. Keinen Unterlassungsanspruch hat der Antragsteller schlussendlich hinsichtlich des Antrags zu 2.) erster Spiegelstrich. Bei den dort angegriffenen Äußerungen handelt es sich um wahre Tatsachenbehauptungen bzw. zulässige Meinungsäußerungen. Soweit sich der Antragsteller in Bezug auf „S. W.“ gegen die folgende Äußerung „Sie war von Ende 2018 bis Anfang 2020 Teil des Inner Circle von R. und mehrmals mit der Band auf Konzerten.“ insbesondere mit der Begründung wendet, dass die Bezeichnung als „Inner Circle“ als Tatsachenbehauptung daherkomme, teilt die Kammer diese Ansicht nicht. Die Bezeichnung als „Inner Circle“ ist vielmehr wertend und unscharf und transportiert keine konkrete Vorstellung des Lesers von dem Personenkreis, dem die S. W. angehörte. Insbesondere geht der Leser nicht davon aus, dass die Zeugin unmittelbar mit den Bandmitgliedern im Austausch stand, auch wenn es in der Berichterstattung weiter heißt: „W. hatte nicht nur Zugang zu Bandmitgliedern, sondern auch auf den Konzerten zu fast allen abgesperrten Bereichen.“ Denn auch der erwähnte Zugang wird nicht weiter spezifiziert, vielmehr erfährt der Leser, dass die S. W. keinen Zutritt zu allen abgesperrten Bereichen hatte. Auch wird berichtet, dass ihr damaliger Freund für die Band gearbeitet habe. Daraus wird deutlich, dass die Zeugin jedenfalls nicht in unmittelbarer Nähe zu einem Bandmitglied stand, sondern es sich nur insoweit nur um einen „abgeleiteten“ Kontakt über ihren Freund gehandelt hat.

Ausgehend davon ist die Wertung, dass S. W. Teil des Inner Circle der Band R. gewesen sei, vorliegend nicht zu beanstanden. Aus den Ausführungen der Zeugin W. in ihrer eidesstattlichen Versicherung (Anlage AG3) folgt, dass sie in der Zeit ihrer Beziehung zu S. v. H. mehrere Konzerte der Band besucht hat. Dabei hat sie jeweils Pässe mit der Aufschrift „Working“ erhalten, welche ihr uneingeschränkten Zugang, mit Ausnahme der Garderoben der Bandmitglieder verschaffte. Diese Schilderungen werden von dem Antragsteller nicht in Abrede genommen. Die Zeugin hatte mithin einen Zugang und Einblicke in Bezug auf die Band R., welche Außenstehenden verschlossen sind. Unstreitig hat sie aufgrund dieses Zugangs unter anderem eine Situation zwischen dem Antragsteller und seiner damaligen Freundin S. T. beobachten können, als diese zum Unmut des Antragstellers nach Ende der Show dessen Garderobe betrat. Dies zeigt, dass die Zeugin an der Band „nah dran“ war. Die Antragsgegnerin durfte die beschriebene Situation, in welcher sich die Zeugin befand, dahingehend bewerten, dass „S. W.“ Teil des „Inner Circle“ der Band R. war. Dies berücksichtigend ist es auch die Aussage, dass S. W. als Teil des Inner Circle mehrmals mit der Band auf Konzerten war, nicht zu beanstanden. Denn dies hat die Antragsgegnerin durch die Vorlage der eidesstattlichen Versicherung der Zeugin W. vorgetragen und auch glaubhaft gemacht. Der Antragsteller hat die detaillierten Ausführungen der Zeugin nach Vorlage der eidesstattlichen Versicherung nicht bestritten.

Auch die Äußerung „Ihr damaliger Freund arbeitete mit R. zusammen, aber auch für L.s Solo-Projekte.“ ist rechtmäßig verbreitet. Der Antragsteller trägt bereits nicht vor, dass diese Tatsachenbehauptung unwahr sein soll. Nicht zu beanstanden ist schlussendlich auch die Aussage „W. hatte nicht nur Zugang zu Bandmitgliedern, sondern auch auf den Konzerten zu fast allen abgesperrten Bereichen.“ Unstreitig hat die Zeugin W. bei Konzerten einen Pass mit der Aufschrift „Working“ bekommen, welcher ihr Zugang zu allen Bereichen mit Ausnahme der Garderoben der Bandmitglieder verschaffte. Mit diesem Pass konnte sie, wie ausgeführt, unter anderem einen Streit zwischen dem Antragsteller und S. T. beobachten. Bereits dies trägt die Aussage, dass die Zeugin Zugang zu den Bandmitgliedern gehabt habe. Denn wie dargelegt geht der Leser aufgrund des Hinweises darauf, dass der Freund von S. W. mit R. zusammengearbeitet habe, nicht davon aus, dass die S. W. in unmittelbarer Nähe zu den Bandmitgliedern stand.

Letztlich ist auch die mit angegriffene Äußerung, S. W. sei von Ende 2018 bis Anfang 2019 auch auf offiziellen Aftershow-Partys gewesen, persönlichkeitsrechtlich nicht zu beanstanden. Denn dass dies so war, folgt aus den an Eides statt versicherten Angaben der Zeugin W., die zudem detaillierte Angaben zu deren Setting gemacht hat, sodass der entsprechende Vortrag als glaubhaft gemacht anzusehen ist.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Zusammenfassung der Rechtsprechung zur Zulässigkeit identifizierender Verdachtsberichterstattung

BGH
Urteil vom 20.06.2023
VI ZR 262/21
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Satz 2


Der BGH hat seine Rechtsprechung zur Zulässigkeit identifizierender Verdachtsberichterstattung nochmals zusammengefasst.

Leitsatz des BGH:
Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen, erforderlich. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie
darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.

BGH, Urteil vom 20. Juni 2023 - VI ZR 262/21 - KG - LG Berlin

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Köln: Zulässige Verdachtsberichterstattung des SPIEGEL über heimliche intime Filmaufnahmen von Mitarbeiterinnen durch einen Unternehmer

OLG Köln
Urteil vom 18.08.2022
15 U 258/21


Das OLG Köln hat in diesem Fall entschieden, dass die Verdachtsberichterstattung des Spiegel über heimliche intime Filmaufnahmen von Mitarbeiterinnen durch einen Unternehmer zulässig war.

Aus den Entscheidungsgründen:
Die Berufung ist teilweise begründet. Sie wendet sich mit Erfolg gegen die Verurteilung, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe auf der fraglichen Klausurtagung Kameras in Hotelzimmern angebracht und hiermit heimlich Mitarbeiterinnen gefilmt, und über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe im Badezimmer eines Hotelzimmers einer Mitarbeiterin eine Kamera entfernt. Soweit sich die Berufung darüber hinaus gegen die Verurteilung wendet, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe zu Kollegen gesagt „Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich“, und es zu unterlassen, das in dem Artikel abgedruckte Foto des Klägers erneut zu veröffentlichen, hat die Berufung keinen Erfolg.

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte entgegen der Auffassung des Landgerichts keinen Anspruch darauf, es zu unterlassen, unter namentlicher Nennung des Klägers über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe auf der Klausurtagung Kameras in Hotelzimmern angebracht und hiermit heimlich Mitarbeiterinnen gefilmt (§ 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB). Die entsprechenden Äußerungen der Beklagten, die in dem angegriffenen Beitrag vom 6. beziehungsweise 7. November 2020 unstreitig enthalten sind, verletzen das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK) des Klägers nach Auffassung des Senats nicht.

a) Sie berühren allerdings dessen Schutzbereich.

Denn die Äußerung des Verdachts, der in der breiten Öffentlichkeit bis dahin unbekannte, im Bericht mit vollem Namen genannte Kläger habe Mitarbeiterinnen in deren Hotelzimmern heimlich gefilmt, ist offensichtlich geeignet, sich abträglich auf das Ansehen des Klägers auszuwirken. Es steht ein Übergriff des Klägers in die Privatsphäre ihm beruflich unterstellter Personen und ein offenbar zumindest beabsichtigter Eingriff auch in die Intimsphäre in Rede.

Hinzukommt, dass in dem Beitrag auch über das gegen den Kläger geführte Strafverfahren, insbesondere über die Wohnungsdurchsuchung, die Anklageschrift und die Einlassung des Klägers im Zwischenverfahren berichtet wird. Die den Beschuldigten identifizierende Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren beeinträchtigt zwangsläufig dessen Recht auf Schutz seiner Persönlichkeit und seines guten Rufs, weil sie sein mögliches Fehlverhalten öffentlich bekannt macht und seine Person in den Augen der Adressaten negativ qualifiziert (vgl. BGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20, NJW 2022, 1751 Rn. 21 mwN).

Diese Erwägungen gelten unabhängig davon, ob das dem Kläger vorgeworfene, wegen des Eingriffs in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der betroffenen Mitarbeiterinnen unzweifelhaft rechtswidrige Verhalten strafbar war. Dies ist rechtlich zweifelhaft, weil eine Strafbarkeit gemäß § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB voraussetzt, dass die tatsächlich gefertigten Filmaufnahmen den höchstpersönlichen Lebensbereich der gefilmten Mitarbeiterinnen betreffen, wofür das Filmen einer Mitarbeiterin beim Öffnen des Hosenbundes möglicherweise nicht ausreichen könnte (vgl. dazu etwa Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 201a Rn. 3).

b) Es liegt aber kein rechtswidriger Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht vor. Im Rahmen der gebotenen Abwägung dieses Rechts mit dem in Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 10 EMRK verankerten Recht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit überwiegt das Schutzinteresse des Klägers die schutzwürdigen Belange der anderen Seite nicht.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs darf die Presse zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Berichterstattung verwiesen werden. Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen, gehört zu den legitimen Aufgaben der Medien (zuletzt BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 19; vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20, NJW 2022, 1751 Rn. 25).

Eine Tatsachenbehauptung, deren Wahrheitsgehalt ungeklärt ist und die eine die Öffentlichkeit wesentlich berührende Angelegenheit betrifft, darf nach der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung demjenigen, der sie aufstellt oder verbreitet, solange nicht untersagt werden, wie er sie zur Wahrnehmung berechtigter Interessen für erforderlich halten darf (Art. 5 GG, § 193 StGB). Eine Berufung hierauf setzt voraus, dass vor Aufstellung oder Verbreitung der Behauptung hinreichend sorgfältige Recherchen über den Wahrheitsgehalt angestellt werden. Die Pflichten zur sorgfältigen Recherche über den Wahrheitsgehalt richten sich dabei nach den Aufklärungsmöglichkeiten. Sie sind für die Medien grundsätzlich strenger als für Privatleute. An die Wahrheitspflicht dürfen im Interesse der Meinungsfreiheit keine Anforderungen gestellt werden, die die Bereitschaft zum Gebrauch des Grundrechts herabsetzen. Andererseits sind die Anforderungen umso höher, je schwerwiegender die Äußerung das Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt. Allerdings ist auch das Interesse der Öffentlichkeit an derartigen Äußerungen zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 22; vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20, NJW 2022, 1751 Rn. 27; vom 16. November 2021 - VI ZR 1241/20, NJW 2022, 940 Rn. 18).

Diese Maßstäbe gelten im Grundsatz auch für die Berichterstattung über ein laufendes Strafverfahren unter namentlicher Nennung des Beschuldigten (§ 157 StPO). In diesem Verfahrensstadium ist nicht geklärt, ob der Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat begangen hat. Zwar gehört es zu den legitimen Aufgaben der Medien, Verfehlungen - auch konkreter Personen - aufzuzeigen. Im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip folgende und in Art. 6 Abs. 2 EMRK anerkannte Unschuldsvermutung ist aber die Gefahr in den Blick zu nehmen, dass die Öffentlichkeit die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens oder Durchführung eines Strafverfahrens mit dem Nachweis der Schuld gleichsetzt und deshalb im Fall einer späteren Einstellung des Verfahrens oder eines Freispruchs vom Schuldvorwurf „etwas hängenbleibt" (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 23; vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20, NJW 2022, 1751 Rn. 28; vom 16. November 2021 - VI ZR 1241/20, NJW 2022, 940 Rn. 19).

Erforderlich ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst „Öffentlichkeitswert" verleihen. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 24; vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20, NJW 2022, 1751 Rn. 29; vom 16. November 2021 - VI ZR 1241/20, NJW 2022, 940 Rn. 20).

bb) Ausgehend von diesen Maßstäben erweist sich die angegriffene Verdachtsberichterstattung als rechtmäßig.

(1) Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprachen, vorlag.

Das folgt bereits aus der Anklageerhebung, die nach § 170 Abs. 1 StPO voraussetzt, dass der Beschuldigte aus Sicht der Staatsanwaltschaft einer Straftat hinreichend verdächtig erscheint, also eine gewisse Wahrscheinlichkeit der Verurteilung besteht (vgl. BGH, Urteile vom 31. Mai 2022 - VI ZR 95/21, AfP 2022, 337 Rn. 28; vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20, NJW 2022, 1751 Rn. 34). Nichts anderes folgt aus dem - im Übrigen erst nach Veröffentlichung des angegriffenen Beitrags ergangenen - Einstellungsbeschluss des Amtsgerichts. Denn auch eine Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO setzt das Bestehen eines hinreichenden Tatverdachts voraus (vgl. BVerfG, Beschluss vom 6. Dezember 1995 - 2 BvR 1732/95, NStZ-RR 1996, 168, 169; BeckOK-StPO/Beukelmann, § 153a Rn. 14 [Stand: 1. Juli 2022]; MüKo-StPO/Peters, § 153a Rn. 8). Einen solchen hat das Amtsgericht in den Gründen des Beschlusses in tatsächlicher Hinsicht auch nicht verneint. Es hat lediglich aus Rechtsgründen Zweifel an der Strafbarkeit des Verhaltens geäußert. Diese Zweifel stehen der Annahme eines Mindestbestandes an Beweistatsachen - also von Anhaltspunkten dafür, dass die als Verdacht geäußerten Tatsachen der Wahrheit entsprechen - nicht entgegen.

Unbeschadet dessen lag ein Mindestbestand an Beweistatsachen auch unabhängig von der Anklageerhebung vor. Denn unstreitig war der Kläger von einer der „Spycams“ in einem später von einer der betroffenen Mitarbeiterinnen bezogenen Hotelzimmer gefilmt worden, was darauf hindeutete, dass er die Kamera dort installiert hatte. Seine diesbezügliche Einlassung, er habe das Zimmer betreten, um die Toilette zu benutzen, war jedenfalls nicht so plausibel, dass die Einlassung bereits der Annahme eines Mindestbestandes an Beweistatsachen entgegenstand. Da die Einlassung nicht auf nahe liegende Fragen einging (Warum hat der in Eile befindliche Kläger keine für alle Hotelgäste zugängliche Toilette - etwa in der Nähe des Tagungsraums - benutzt? Warum hat er, obwohl er das Zimmer als von ihm bezogen angesehen haben will, beim Verlassen des Zimmers die Tür nicht abgeschlossen? Warum hat er das Zimmer so verlassen, dass die betroffene Mitarbeiterin es als noch nicht bezogen angesehen hat? Warum hat er die bereits im Auto ergriffenen Unterlagen und die Powerbar erst im Zimmer in die mitgeführte Tasche gepackt?), durfte die Beklagte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts davon ausgehen, dass die Richtigkeit der Einlassung widerlegt werden könnte. Dies gilt umso mehr, als der Kläger unmittelbar nach der Entdeckung der ersten „Spycam“ das Gerät gegen den Willen der betroffenen Mitarbeiterin an sich genommen, es als normales Ladegerät bezeichnet und sich einer Herausgabe widersetzt hatte.

(2) Der angegriffene Bericht ist ausgewogen, enthält keine Vorverurteilung des Klägers und erweckt nicht den Eindruck, er sei bereits überführt. Das macht der Kläger auch nicht geltend.

(3) Ferner ist unstreitig, dass die Beklagte vor der Veröffentlichung eine Stellungnahme des Klägers eingeholt hat, aus der in dem Beitrag auch mehrfach zitiert wird.

(4) Schließlich handelte es sich entgegen der Ansicht des Landgerichts um einen Vorgang von solchem Gewicht, dass eine Mitteilung des Sachverhalts unter namentlicher Nennung des Klägers durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt war.

(a) Denn zwar schützt die Unschuldsvermutung den Beschuldigten vor Nachteilen, die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozessordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist. Ein identifizierender Bericht über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ist deshalb auch daraufhin zu überprüfen, ob er geeignet ist, den Beschuldigten an den Pranger zu stellen, ihn zu stigmatisieren oder ihm in sonstiger Weise Nachteile zuzufügen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen. Oftmals kann im Hinblick auf die Unschuldsvermutung bis zu einem erstinstanzlichen (nicht notwendig rechtskräftigen) Schuldspruch das Recht des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeit das Interesse an einer identifizierenden Wortberichterstattung überwiegen. Dies ist allerdings nicht der Fall, wenn die besonderen Umstände der dem Beschuldigten vorgeworfenen Straftat oder dessen herausgehobene Stellung ein gewichtiges Informationsinteresse der Öffentlichkeit - auch über die Identität des Beschuldigten - begründen, hinter dem das Interesse des Beschuldigten am Schutz seiner Persönlichkeit zurückzutreten hat (BGH, Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196 Rn. 41 - Staranwalt).

Im Streitfall ist die Unschuldsvermutung bei der Abwägung unabhängig davon zu berücksichtigen, ob das dem Kläger vorgeworfene Verhalten tatsächlich als Straftat zu werten ist. Maßgeblich ist nur, dass die Staatsanwaltschaft das Verhalten als strafbar angesehen hat, der Kläger deshalb strafrechtlich verfolgt worden ist und die Beklagte - ohne rechtliche Fragen zu thematisieren - über das Strafverfahren berichtet hat.

(b) Gemessen an diesen Grundsätzen war eine Mitteilung des Sachverhalts unter namentlicher Nennung des Klägers durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit aber noch gerechtfertigt. Das Informationsinteresse rührt vor allem aus dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Integrität von Führungskräften öffentlicher Unternehmen (vgl. BGH, Urteile vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196 Rn. 43 - Staranwalt; vom 18. November 2014 - VI ZR 76/14, BGHZ 203, 239 Rn. 24 - Chefjustiziar).

Dabei verkennt der Senat nicht, dass der Kläger jedenfalls bis zum Erscheinen der angegriffenen Berichte einer breiten Öffentlichkeit nicht bekannt war. Dass in Fachmedien - ohne Mitteilung der Kündigungsgründe - unter Namensnennung über seine Entlassung berichtet worden war, ändert daran nichts. Auch war der zwar nicht in der Überschrift, wohl aber im weiteren Text mit vollem Namen genannte Kläger wegen der Berichterstattung in dem auflagenstarken Nachrichtenmagazin der Beklagten und in ihrem Internetauftritt schon vor einer Verurteilung der Gefahr erheblicher sozialer Missachtung ausgesetzt. Es stand ein schwerer Eingriff in die Privatsphäre ihm beruflich unterstellter Personen und ein offenbar zumindest beabsichtigter Eingriff auch in die Intimsphäre in Rede. Denn der Kläger soll anlässlich einer dienstlichen Veranstaltung Mitarbeiterinnen des von ihm geführten Unternehmens in deren Hotelzimmern heimlich gefilmt haben.

Andererseits ist zu berücksichtigen, dass der Kläger eine leitende Stellung beim C hatte, einer großen und beitragsfinanzierten öffentlichen Rundfunkanstalt. Als Geschäftsführer einer Enkelgesellschaft hatte er Personalverantwortung für nach seinem eigenen Vortrag etwa 250 Mitarbeiter. Der gegen den Kläger erhobene, seine Sozialsphäre betreffende Vorwurf, heimlich ihm unterstellte Mitarbeiterinnen in zumindest privaten, wenn nicht intimen Situationen gefilmt zu haben, stand, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, mit dieser herausgehobenen Funktion in einem öffentlichen Unternehmen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Angesichts des dadurch begründeten besonderen Informationsinteresses überwogen die durch die Unschuldsvermutung konkretisierten Interessen des Klägers das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Berichterstattung jedenfalls nach der Anklageerhebung nicht mehr.

Die Berufung macht zu Recht geltend, dass es für diese Beurteilung entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist, dass das dem Kläger vorgeworfene Verhalten - sollte es überhaupt strafbar sein - nach § 201a Abs. 1 StGB nur mit Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft wird. Denn das Informationsinteresse folgt - wie ausgeführt - nicht aus der Schwere einer möglicherweise vorliegenden Straftat, sondern aus der Stellung des Klägers und den Besonderheiten des ihm vorgeworfenen - unzweifelhaft rechtswidrigen - Verhaltens. Strafrechtliche Fragen werden in dem Bericht auch nicht angesprochen. Die von der Berufungserwiderung angeführte Vorschrift des § 140 Abs. 2 StPO ist für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung ohnehin ohne Bedeutung, weil sie eine gänzlich andere Fragestellung regelt.

2. Ferner hat der Kläger gegen die Beklagte keinen Anspruch darauf, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe im Badezimmer eines Hotelzimmers einer Mitarbeiterin eine Kamera entfernt. Eine solche Aussage lässt sich dem angegriffenen Bericht schon nicht entnehmen.

In dem Bericht werden lediglich Äußerungen einer „dritte[n] betroffene[n] Kollegin“ wiedergegeben. Danach hat diese Kollegin, nachdem der Kläger und zwei weitere Mitarbeiterinnen ihr erzählt hatten, es seien kleine schwarze Kameras gefunden worden, gesagt, dass sie im Badezimmer „so etwas“ gesehen habe. Der Kläger und eine der weiteren Mitarbeiterinnen seien daraufhin in das Badezimmer „gestürmt“. Als sie herausgekommen seien, habe die Kollegin gemeint, „da sei nichts gewesen.“

Aus diesen Äußerungen kann ein unbefangener Durchschnittsleser zwar den möglichen Schluss ziehen, der Kläger habe auch im Zimmer der dritten Mitarbeiterin eine Kamera installiert und habe diese, um seine Tat zu verdecken, bei der Durchsuchung des Badezimmers wieder entfernt. Unabweisbar nahe gelegt wird dem Leser eine solche Schlussfolgerung aber nicht. Eine eigene Behauptung der Beklagten mit dem aus dem Klageantrag ersichtlichen Inhalt ist deshalb nicht anzunehmen (vgl. BGH, Urteil vom 22. November 2005 - VI ZR 204/04, NJW 2006, 601 Rn. 17; Senat, Urteil vom 26. November 2020 - 15 U 39/20, GRUR-RS 2020, 38050 Rn. 20).

3. Hingegen hat das Landgericht einen Anspruch des Klägers, es zu unterlassen, über den Verdacht zu berichten, der Kläger habe zu Kollegen gesagt „Fickt ihr die mal alle, das ist nichts mehr für mich“, im Ergebnis zu Recht bejaht. Es fehlt insoweit jedenfalls an einem Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprachen. Der Kläger hat in seiner von der Beklagten eingeholten Stellungnahme - wie auch im vorliegenden Rechtsstreit - bestritten, sich in der berichteten Weise geäußert zu haben. Angesichts dieser Einlassung durfte die Beklagte sich nicht allein und ausschließlich auf die Angaben einer der von den Filmaufnahmen betroffenen Mitarbeiterinnen verlassen, wonach ein Kollege ihr mitgeteilt habe, der Kläger habe die Äußerung getätigt. Es handelte sich bei dieser Mitarbeiterin lediglich um eine Zeugin vom Hörensagen, die im Übrigen schon wegen des Vorwurfs des heimlichen Filmens dem Kläger gegenüber negativ eingestellt war, deswegen bereits Klage beim Arbeitsgericht erhoben hatte und möglicherweise erhebliche Eigeninteressen verfolgte, was bei der Bewertung der Überzeugungskraft ihrer Bekundungen auch im Rahmen des Mindestbestandes an Beweistatsachen kritisch zu würdigen ist (Senat, Urteil vom 12. November 2020 - 15 U 112/20, BeckRS 2020, 37979 Rn. 39 mwN). Die Beklagte hätte deshalb vor der Verdachtsberichterstattung zumindest den Kollegen, gegenüber dem der Kläger sich geäußert haben soll, selbst befragen müssen. Dass ihr dies nicht möglich oder nicht zumutbar war, ist nicht ersichtlich; auch bei der Erörterung der Frage im Termin wurde dazu nichts geltend gemacht.

4. Schließlich hat der Kläger gegen die Beklagte auch einen Anspruch auf Unterlassung der ihn identifizierenden Bildberichterstattung.

a) Die Zulässigkeit von Bildveröffentlichungen ist nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nach dem abgestuften Schutzkonzept der §§ 22, 23 KUG zu beurteilen, das sowohl mit verfassungsrechtlichen Vorgaben als auch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Einklang steht. Danach dürfen Bildnisse einer Person grundsätzlich nur mit deren Einwilligung verbreitet werden (§ 22 Satz 1 KUG). Die - wie vorliegend - nicht von der Einwilligung des Abgebildeten gedeckte Verbreitung seines Bildes ist nur zulässig, wenn dieses Bild dem Bereich der Zeitgeschichte oder einem der weiteren Ausnahmetatbestände des § 23 Abs. 1 KUG positiv zuzuordnen ist und berechtigte Interessen des Abgebildeten nicht verletzt werden (§ 23 Abs. 2 KUG). Dabei ist schon bei der Beurteilung, ob ein Bild dem Bereich der Zeitgeschichte zuzuordnen ist, eine Abwägung zwischen den Rechten des Abgebildeten aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK einerseits und den Rechten der Presse aus Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK andererseits vorzunehmen (zuletzt etwa BGH, Urteile vom 9. April 2019 - VI ZR 533/16, AfP 2019, 333 Rn. 7 und vom 6. Februar 2018 - VI ZR 76/17, NJW 2018, 1820 Rn. 10 mwN).

Bei einer strafverfahrensbegleitenden Bildberichterstattung hat in der Abwägung der widerstreitenden Interessen bereits bei der Prüfung, ob ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte im Sinne des § 23 Abs. 1 Nr. 1 KUG vorliegt die Unschuldsvermutung Berücksichtigung zu finden. Sie gebietet eine entsprechende Zurückhaltung und die Berücksichtigung einer möglichen Prangerwirkung. Danach wird oftmals bis zu einem erstinstanzlichen (nicht notwendig rechtskräftigen) Schuldspruch das Recht des Beschuldigten auf Schutz der Persönlichkeit das Interesse an einer identifizierenden Bildberichterstattung überwiegen. Eine individualisierende Bildberichterstattung über den Beschuldigten eines Strafverfahrens scheidet aber nicht in jedem Fall aus. Vielmehr können es die jeweiligen Umstände rechtfertigen, dass sich der Betreffende nicht beziehungsweise nicht mehr mit Gewicht auf sein allgemeines Persönlichkeitsrecht berufen kann. Dies gilt etwa dann, wenn er kraft seines Amtes oder wegen seiner gesellschaftlich hervorgehobenen Verantwortung beziehungsweise Prominenz in besonderer Weise im Blickfeld der Öffentlichkeit steht und die Medienöffentlichkeit mit Rücksicht hierauf hinzunehmen hat (vgl. BGH, Urteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, BGHZ 222, 196 Rn. 46 mwN).

b) Gemessen daran handelt es sich bei der im Streitfall zu beurteilenden Abbildung nicht um ein Bildnis aus dem Bereich der Zeitgeschichte. Denn nach den Ausführungen unter 1 b bb stand der Kläger gerade nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit.

Zwar überwogen seine durch die Unschuldsvermutung konkretisierten Interessen das Interesse der Öffentlichkeit an einer identifizierenden Wortberichterstattung jedenfalls nach der Anklageerhebung nicht mehr. Für die angegriffene Veröffentlichung eines Bildes, deren Zulässigkeit nicht nach denselben Maßstäben wie die Zulässigkeit der Wortberichterstattung zu beurteilen ist (vgl. BGH, Urteil vom 29. Mai 2018 - VI ZR 56/17, NJW-RR 2018, 1063 Rn. 28), fehlt es aber an einer Rechtfertigung.

Auch wenn es sich um eine kontextneutrale Aufnahme handelt, die für sich gesehen keinen besonderen Verletzungsgehalt hat, wird die ohnehin bestehende Gefahr erheblicher sozialer Missachtung durch die Bebilderung der Verdachtsberichterstattung mit einem Foto des Klägers noch weiter verstärkt. Während der Leser den Namen des Klägers erst bei einem aufmerksamen Durchlesen des Berichts erfährt, kann er auf das Bild schon bei einem flüchtigen Durchblättern des Magazins aufmerksam werden; entsprechendes gilt für die Internetveröffentlichung. Die Veröffentlichung des Bildes des in der Öffentlichkeit unbekannten Klägers in dem auflagenstarken Nachrichtenmagazin der Beklagten und ihrem Internetauftritt ist deshalb noch deutlich weitgehender als eine reine Namensnennung geeignet, eine besondere öffentliche Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner Person zu erregen und damit auch eine gewisse Prangerwirkung zu erzeugen (vgl. Senat, Urteil vom 21. Februar 2019 - 15 U 132/18, juris Rn. 29). Dies ist unter Berücksichtigung der oben (1 b bb) erörterten Abwägungskriterien mit der wegen der Unschuldsvermutung gebotenen Zurückhaltung nicht mehr zu vereinbaren.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BGH: Kein Anspruch auf Geldentschädigung aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO wegen identifizierender Verdachtsberichterstattung in Presseartikel

BGH
Urteil vom 22.02.2022
VI ZR 1175/20
BGB § 823 Abs. 1; GG Art. 5


Der BGH hat entschieden, dass kein Anspruch auf Geldentschädigung aus Art. 82 Abs. 1 DSGVO wegen identifizierender Verdachtsberichterstattung in einem Presseartikel besteht. Dem Anspruch steht schon das Medienprivileg entgegen.

Leitsatz des BGH:
Zu den Voraussetzungen einer zulässigen Verdachtsberichterstattung (hier: Pressebericht über bevorstehende Hauptverhandlung im Strafverfahren).

BGH, Urteil vom 22. Februar 2022 - VI ZR 1175/20 - OLG Köln - LG Köln

Aus den Entscheidungsgründen:
Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass dem Kläger kein Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung zusteht.

1. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, folgt ein solcher Anspruch nicht aus Art. 82 Abs. 1 DS-GVO. Aufgrund der Öffnungsklausel des Art. 85 Abs. 2 DS-GVO sind Datenverarbeitungen zu journalistischen Zwecken von den die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung betreffenden Vorschriften in Art. 6 und Art. 7 DS-GVO durch Regelungen der Länder ausgenommen worden (vgl. Senatsurteile vom 7. Juli 2020 - VI ZR 250/19, VersR 2021, 189 Rn. 10; - VI ZR 246/19, NJW 2020, 3715 Rn. 11; jeweils mwN).

Für den Bereich der Telemedien, der die streitgegenständliche Internetberichterstattung umfasst, galt zur Zeit der Berichterstattung § 57 Abs. 1 Satz 4 RStV (jetzt gleichlautend § 23 Abs. 1 Satz 4 MStV). Für die Printberichterstattung existierten und existieren entsprechende Vorschriften der einzelnen Länder (für Berlin, den Sitz der Beklagten zu 2, siehe § 19 Abs. 1 Satz 1 des Berliner Datenschutzgesetzes und jetzt § 22a Abs. 1 Satz 4 des Berliner Pressegesetzes; weitere Nachweise bei Lauber-Rönsberg, AfP 2019, 373 Rn. 29 mit Fn. 50). Es liegt auf der Hand, dass ein Schadensersatzanspruch gemäß § 82 Abs. 1 DS-GVO nicht auf die Verletzung datenschutzrechtlicher Bestimmungen durch eine journalistische Tätigkeit gestützt werden kann, wenn die Bestimmungen für die Tätigkeit gar nicht gelten (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Februar 2021 - VI ZA 6/20, juris; Senatsurteile vom 7. Juli 2020 - VI ZR 250/19, VersR 2021, 189 Rn. 10; - VI ZR 246/19, NJW 2020, 3715 Rn. 11). Insoweit spielt es auch keine Rolle, dass die Öffnungsklausel des Art. 85 Abs. 2 DS-GVO die in Kapitel VIII der Verordnung enthaltene Vorschrift des Art. 82 Abs. 1 DS-GVO nicht erfasst. Im Übrigen stellen § 23 Abs. 1 Satz 5 MStV (zuvor § 57 Abs. 1 Satz 5 RStV) und die presserechtlichen Vorschriften der Länder (etwa § 22a Abs. 1 Satz 5 des Berliner Pressegesetzes, § 19 Abs. 1 Satz 2 des Berliner Datenschutzgesetzes) klar, dass Art. 82 Abs. 1 DS-GVO im Geltungsbereich des Medienprivilegs nicht greift (vgl. Lauber-Rönsberg, AfP 2019, 373 Rn. 30). Einer Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union bedarf es nicht, weil diese Frage klar zu beantworten ist (vgl. zu den Voraussetzungen
der Vorlagepflicht EuGH, EuZW 2018, 1038 Rn. 110 - Kommission/Frankreich mwN).

2. Entgegen der Auffassung der Revision hat das Berufungsgericht dem Kläger zu Recht keine Geldentschädigung wegen Verletzung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch die Wort- und Bildberichterstattungen nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Abs. 2 Abs. 1 GG und §§ 22, 23 KUG zuerkannt.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Identifizierende Verdachtsberichterstattung nur bei Mindestbestand an Beweistatsachen und Einholung einer Stellungnahme des Betroffenen vor Veröffentlichung zulässig

BGH
Urteil vom 16.11.2021
VI ZR 1241/20
GG Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Satz 2; KUG § 22, § 23


Der BGH hat entschieden, dass eine Identifizierende Verdachtsberichterstattung nur bei einem Mindestbestand an Beweistatsachen und Einholung einer Stellungnahme des Betroffenen vor Veröffentlichung zulässig ist.

Leitsätze des BGH:
a) Für eine identifizierende Verdachtsberichterstattung ist jedenfalls ein Mindestbestand an Beweistatsachen, die für den Wahrheitsgehalt der Information sprechen und ihr damit erst "Öffentlichkeitswert" verleihen, erforderlich. Die Darstellung darf ferner keine Vorverurteilung des Betroffenen enthalten; sie darf also nicht durch eine präjudizierende Darstellung den unzutreffenden Eindruck erwecken, der Betroffene sei der ihm vorgeworfenen Handlung bereits überführt. Auch ist vor der Veröffentlichung regelmäßig eine Stellungnahme des Betroffenen einzuholen. Schließlich muss es sich um einen Vorgang von gravierendem Gewicht handeln, dessen Mitteilung durch ein Informationsbedürfnis der Allgemeinheit gerechtfertigt ist.

b) Das grundsätzliche Erfordernis einer Möglichkeit zur Stellungnahme soll sicherstellen, dass der Standpunkt des von der Verdachtsberichterstattung Betroffenen in Erfahrung und gegebenenfalls zum Ausdruck gebracht wird, der Betroffene also selbst zu Wort kommen kann. Dies setzt voraus, dass der Betroffene nicht nur Gelegenheit zur Stellungnahme erhält, sondern dass seine etwaige Stellungnahme auch zur Kenntnis genommen und der Standpunkt des Betroffenen in der Berichterstattung sichtbar wird.

BGH, Urteil vom 16. November 2021 - VI ZR 1241/20 - OLG Köln - LG Köln

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


OLG Frankfurt: Identifizierende Berichterstattung über ein Mitglied der "Pick-Up-Artist-Szene" zulässig

OLG Frankfurt
Urteil vom 04.02.2021
16 U 47/20


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass eine identifizierende Berichterstattung über ein Mitglied der "Pick-Up-Artist-Szene" zulässig ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Identifizierende Berichterstattung über Mitglied der „Pick-Up-Artist-Szene“ zulässig

Die Öffentlichkeit hat ein hohes Interesse an der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der „Pick-Up-Artist-Szene“. Persönlichkeitsrechte des Klägers, der durch einen Video-Clip und Coaching-Tätigkeit selbst als Mitglied dieser Szene an die Öffentlichkeit getreten ist, treten bei Abwägung aller betroffenen Interessen hinter die Meinungsfreiheit der Verfasser der zwei angegriffenen Berichte zurück. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) hat deshalb mit heute verkündetem Urteil Unterlassungsansprüche des Klägers gegen eine identifizierende Berichterstattung zurückgewiesen.

Der Kläger wendet sich gegen zwei Artikel, die in einer AStA-Zeitschrift einer Universität im Sommer 2015 veröffentlicht wurden. Unter den Titeln „´Pick-Up-Artists´ und Casanova - eine künstlerische Technik der Liebe?“ und „´Pick-Up-Artists´: Ein fragwürdiges Phänomen von ´Verführung´“ befassten sie sich mit der „Pick-Up-Artist-Szene“. Der Kläger begehrt von der beklagten Herausgeberin dieser Zeitung insbesondere, dass sie nicht mehr durch Angabe seines Namens, seines Studentenstatus sowie der Bezeichnung seiner Nebentätigkeit identifizierend über ihn berichtet.

Das Landgericht hatte der Klage stattgegeben. Die hiergegen eingelegte Berufung hatte vor dem OLG Erfolg und führte zur Klageabweisung. Dem Kläger stünde kein Unterlassungsanspruch gegen die Beklagte zu, urteilte das OLG.

Die Beklagte habe die bestimmten von Verfassern gekennzeichneten Artikel in ihrer Zeitung jedenfalls verbreitet und sei damit grundsätzlich für den Inhalt verantwortlich. Sie hafte jedoch nicht für die Verbreitung der Äußerungen, da die identifizierende Berichterstattung hier rechtmäßig gewesen sei.

Die Artikel griffen zwar in das Persönlichkeitsrecht des Klägers ein und berührten ihn in seiner so genannten Sozialsphäre. Dieser Eingriff sei jedoch nicht rechtswidrig. Als Herausgeberin könne sich die Beklagte auf das den Autoren der veröffentlichten Artikel und den Lesern zustehende Grundrecht der Meinung- und Kommunikationsfreiheit berufen. Zu den Aufgaben der Beklagten gehöre auch die Förderung der politischen Bildung und der staatsbürgerlichen Verantwortung der Studierenden. Die streitgegenständliche Zeitung diene als Diskussionsforum.

Bei Abwägung zwischen dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers und der Meinungsfreiheit der Verfasser der Artikel überwiege die Meinungsfreiheit. Die Presse sei nach verfassungsrechtlicher Rechtsprechung zur Erfüllung ihrer Aufgaben nicht grundsätzlich auf eine anonymisierte Berichterstattung zu verweisen. Die Artikel knüpften zudem an wahre Tatsachen aus der Sozialsphäre des Klägers und eine Tätigkeit an, die der Kläger „in Coachings nebenberuflich lehrt(e) und selbst in der Öffentlichkeit betreibt“. Wahre Tatsachen müssten in der Regel hingenommen werden, auch wenn sie nachteilig für den Betroffenen seien. Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit überwiege das Interesse des Klägers an Anonymität. „Es besteht zunächst ein hohes öffentliches Interesse an einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen der „Pick-Up-Artist-Szene“. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung sei es vermehrt zu übergriffigem Verhalten an der Universität gekommen. Dabei habe sich das öffentliche Interesse nicht nur auf die weiblichen Studierenden der Universität, sondern auf die gesamte Öffentlichkeit erstreckt.

Die Artikel befassten sich mit der Historie der Szene und setzten sich kritisch mit ihr auseinander. Es bestehe ein Interesse der Öffentlichkeit daran, zu erfahren, wie sich einzelne Vertreter dieser Szene in der Öffentlichkeit präsentieren. Naheliegend sei es deshalb, dass auch Vertreter der Szene - wie im Artikel geschehen - angeführt würden. Der Kläger gehöre zu der Szene, „denn er praktiziert „Pick-Up“ nicht nur selbst, sondern er lehrt(e) die Pick-Up-„Kunst“ im Nebenberuf in Coaching-Seminaren“ und hat sich selbst mit dem Thema im Frühjahr 2014 durch einen Fernsehbeitrag bewusst in die Öffentlichkeit begeben.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 04.02.2021, Az. 16 U 47/20
(vorausgehend Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 16.01.2020, Az. 2-03 O 513/18)

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Zulassung der Revision beim BGH begehrt werden.

BVerfG: Zur Zulässigkeit des Vorhaltens alter Verdachtsberichterstattung in einem Online-Pressearchiv

BVerfG:
Beschluss vom 07. Juli 2020
1 BvR 146/17


Das Bundesverfassungsgericht hat seine Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Vorhaltens alter Verdachtsberichterstattung in einem Online-Pressearchiv weiter präzisiert.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Zulässiges Vorhalten von Verdachtsberichterstattung in Online-Pressearchiven

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die zivilgerichtliche Zurückweisung eines Löschungsbegehrens gegenüber einem Pressearchiv richtet.

Die Kammer greift mit dem Beschluss die in den Senatsentscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ aufgestellten Maßgaben für die Zulässigkeit eines langfristigen Vorhaltens von Presseberichten im Internet auf und konkretisiert sie für den Fall einer Berichterstattung über Verdachtslagen. Dabei hat die Kammer erneut festgehalten, dass die ursprüngliche Zulässigkeit einer Berichterstattung ein entscheidender Faktor für die Zulässigkeit einer über das Internet zugänglichen Archivierung ist und im Normalfall eine unveränderte öffentliche Bereitstellung auch nach langer Zeit noch rechtfertigt. Für die Verdachtsberichterstattung entsprechen dem besonders gesteigerte Anforderungen an die ursprüngliche Veröffentlichung solcher Berichte, die deren öffentliches Vorhalten im Regelfall auch langfristig tragen. In Ausnahmefällen kann das Vorhalten einer ursprünglich berechtigten Verdachtsberichterstattung durch Zeitablauf oder durch zwischenzeitlich hinzugekommene Umstände eine die betroffene Person derart belastende Dimension gewinnen, dass daraus Löschungs-, Auslistungs- oder Nachtragsansprüche erwachsen können. Ein solcher Fall war hier nicht gegeben.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer war zum Zeitpunkt des beanstandeten Presseberichts Unternehmensberater und unterstützte verschiedene Unternehmen bei der Erschließung ausländischer Märkte. In diesem Rahmen erhielt er für Beratungsleistungen unter anderem von der Firma Siemens Zahlungen im achtstelligen Bereich. 2007 erschien in der Europaausgabe einer englischsprachigen Tageszeitung im Zuge damals öffentlich gewordener Korruptionsermittlungen gegen leitende Mitarbeiter der Firma Siemens ein Artikel, der hauptsächlich am Beispiel des namentlich genannten Beschwerdeführers über die Rolle von Beratern bei der Beschaffung von Industrieaufträgen im Ausland berichtete. Seit einigen Jahren komme weltweit der Verteilung von Bestechungsgeldern über schwer zu durchschauende Kanäle durch Berater eine gesteigerte Bedeutung zu. Unter anderem berichtet der Artikel von den Beschwerdeführer belastenden Aussagen leitender Siemens-Mitarbeiter, gegen die zu dem Zeitpunkt strafrechtlich ermittelt wurde. Daneben erwähnt der Bericht, dass Siemens zu den Vorwürfen nicht Stellung genommen habe, dass die Staatsanwaltschaft erklärt habe, dass der Beschwerdeführer weder befragt noch beschuldigt worden sei, dass er selbst die Vorwürfe abstreite und geltend mache, dass er mehrfach erfolglos Korruptionsfälle intern angezeigt habe und dass er einem etwaigen Anruf der Staatsanwaltschaft gelassen entgegenblicke. Ein förmliches Ermittlungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wurde nicht eröffnet. Der Artikel ist in teilweise abgeänderter Form infolge teilstattgebender Gerichtsentscheidungen weiterhin online verfügbar.
Hinsichtlich des Verdachts, der Beschwerdeführer habe für die Firma Siemens Bestechungsgelder in großem Umfang an potentielle Kunden gezahlt, wiesen die Zivilgerichte das Unterlassungsbegehren des Beschwerdeführers ab. Es habe sich zum Zeitpunkt der Veröffentlichung um eine zulässige Verdachtsberichterstattung gehandelt. Auch das weitere Bereithalten des Berichts im Online-Archiv greife nicht rechtswidrig in das Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers ein. Diese Beeinträchtigung sei in Anbetracht der Aufgabe der Presse, auch individualisierend über Ereignisse des Zeitgeschehens zu berichten, und des erheblichen öffentlichen Interesses an Bestechungsvorwürfen in Millionenhöhe gerechtfertigt. Der Antrag auf Ergänzung eines klarstellenden Nachtrags über die Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens sei prozessual verspätet und im Übrigen unbegründet.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Kammer hat unter Verweis auf die Senatsentscheidungen zum „Recht auf Vergessen“ wiederholt, dass in Fällen, in denen das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Pressearchiven, in Rede steht, dessen Zulässigkeit anhand einer neuerlichen Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Unterlassungsbegehrens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen ist. Dabei ist die ursprüngliche Zulässigkeit eines Berichts allerdings ein wesentlicher Faktor, der ein gesteigertes berechtigtes Interesse von Presseorganen begründet, ihn ohne Änderung der Öffentlichkeit dauerhaft verfügbar zu halten. Denn in diesem Fall hat die Presse bei der Veröffentlichung bereits die für sie geltenden Maßgaben beachtet und kann daher im Grundsatz verlangen, sich nicht erneut mit dem Bericht und seinem Gegenstand befassen zu müssen. Zumutbar sind einschränkende Maßnahmen gegenüber einer unveränderten Bereitstellung von ursprünglich zulässigen Presseberichten in Onlinearchiven daher nur in Ausnahmefällen, wenn deren Folgen für die Betroffenen besonders gravierend sind.

2.a) Handelt es sich bei dem Gegenstand des Löschungsbegehrens um eine Verdachtsberichterstattung, ist in Rechnung zu stellen, dass es zu den Aufgaben der Presse gehört, investigativ – in den Grenzen des Zulässigen – auch individualisierend und identifizierend über Verdächtigungen von hohem öffentlichen Interesse zu berichten. Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Verdachtslagen gehören zur sozialen Wirklichkeit, die aufzubereiten und über die zu informieren Merkmal, Freiheit und Aufgabe der Presse ist. Auch unerwiesene Verdächtigungen können von berechtigtem öffentlichen Interesse sein und hierauf gründende Wahrscheinlichkeitswahrnehmungen langfristig individuelles, gesellschaftliches und politisches Handeln beeinflussen. Gerade der mangelnden Aufklärbarkeit von Verdachtslagen kann dabei – etwa wenn es um strukturelle Grenzen von Aufklärungsmöglichkeiten geht – öffentliche Bedeutung zukommen. Insoweit erübrigt sich ein Veröffentlichungs- und Bereithaltungsinteresse der Presse nicht grundsätzlich schon durch die Einstellung oder Nichteinleitung eines Ermittlungsverfahrens.

b) Andererseits ist bei einer Verdachtsberichterstattung die Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts regelmäßig insoweit von erhöhtem Gewicht, als der Betroffene damit einem Verdacht ausgesetzt bleibt, der möglicherweise nicht den Tatsachen entspricht und der zwischenzeitlich sogar ausgeräumt wurde. Betroffene können damit auf Dauer einer negativen Wertung ausgesetzt sein, die sie – anders als bei unstrittig wahrhafter Tatsachenberichterstattung – womöglich nicht durch ihr eigenes Handeln zu verantworten haben. Auch kann das öffentliche Interesse an einem längerfristigen Vorhalten eines Berichts je nach Inhalt des Verdachts geringfügiger als bei feststehenden Tatsachen sein.

c) Auch aus diesem Grund unterliegt die ursprüngliche Zulässigkeit einer Verdachtsberichterstattung strengen rechtlichen Maßstäben. So hat eine zulässige Verdachtsberichterstattung im Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung immer einen Vorgang von erheblichem Gewicht, also ein besonders gesteigertes Berichterstattungsinteresse, zur Voraussetzung. Daneben wird durch das Erfordernis einer Stellungnahmemöglichkeit und das Verbot vorverurteilender Berichterstattung sichergestellt, dass die Betroffenen selbst zu Wort kommen und der Bericht nur den Eindruck eines noch nicht geklärten Verdachts vermittelt. Die Betroffenen sind also nicht in den Augen ihres sozialen Umfelds für alle Zukunft auf einen Umstand festgelegt, wie es bei einer dauerhaft vorgehaltenen Mitteilung von unstrittig wahrer Tatsachenberichterstattung der Fall ist.

d) Bei der von den Fachgerichten geforderten Abwägung sind im Sinne praktischer Konkordanz auch vermittelnde Lösungen zu erwägen. Hierzu kann unter Umständen auch ein klarstellender Nachtrag über den Ausgang rechtlich formalisierter Verfahren wie etwa strafrechtlicher Ermittlungs- oder Hauptsacheverfahren gehören, solange dies auf besondere Fälle begrenzt bleibt und der Presse nur eine sachlich-distanzierte Mitteilung geänderter Umstände abverlangt wird. Solche Nachtragsansprüche müssen allerdings die Freiheit der Presse, ihre Berichterstattungsgegenstände selbst zu wählen und nicht zu neuerlichen Nachforschungen und Bewertungen vergangener Berichterstattungsgegenstände verpflichtet zu werden, unangetastet lassen. Die Bekanntgabe allein des Umstands einer Einstellung oder Nichtaufnahme strafrechtlicher Ermittlungen kann einen Nachtragsanspruch nicht auslösen, weil dafür verschiedenste Gründe wie etwa Beweisnot oder staatsanwaltliche Priorisierungsentscheidungen ausschlaggebend sein können, die den Verdacht der Sache nach weder entkräften noch ausräumen.

3. Die angegriffenen Entscheidungen genügen diesen Maßstäben. Die Gerichte haben erkannt, dass die Zulässigkeit des weiteren Vorhaltens eines Presseberichts im Lauf der Zeit Veränderungen unterliegen kann und im Zeitpunkt des Unterlassungsbegehrens durch Abwägung der widerstreitenden grundrechtlich erheblichen Belange zu beurteilen ist. Auf dieser Grundlage sind sie zurecht davon ausgegangen, dass die ursprüngliche Zulässigkeit einer Veröffentlichung ein entscheidender Faktor der Beurteilung ist. Auch davon abgesehen rechtfertigt die besonders gesteigerte gesellschaftliche Bedeutung der in dem Artikel beschriebenen Vorgänge und des darin geäußerten Verdachts, den anlassgebenden Missstand an einem konkreten Beispiel fassbar und plastisch zu machen. Ebenfalls zutreffend haben die Gerichte berücksichtigt, dass der beanstandete Bericht bei einer Suche anhand des vollständigen Namens des Beschwerdeführers nicht mit hoher Priorität kommuniziert wird. Es ist daher nicht erkennbar, dass Dritte bei einer unvoreingenommenen Namenssuche im Internet in unzumutbarer Weise auf den Bericht gestoßen und der Beschwerdeführer in seinem sozialen Umfeld in vergleichbar gravierender Weise auf die hier geäußerten Verdächtigungen festgelegt würde wie der Beschwerdeführer in dem Verfahren „Recht auf Vergessen I“.

Schließlich sind die Gerichte zurecht davon ausgegangen, dass ein Anspruch auf einen klarstellenden Nachtrag mangels einer klar feststellbaren zwischenzeitlichen Veränderung der Sachlage, etwa eines Freispruchs oder einer Einstellung nach § 170 Abs. 2 StPO, nicht bestand. Aus dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Schreiben ergab sich keine objektiv und ohne eigene Recherchen feststellbare Veränderung der Sachlage, über die die Beklagte des Ausgangsverfahrens in Gestalt des Nachtrags in sachlich-distanzierter Weise – ohne Revidierung des ursprünglich zulässig geäußerten Verdachts – hätte berichten müssen. Der Umstand allein, dass es nie zu einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren kam, reicht für eine Zuerkennung von Nachtragsansprüchen nicht aus. Andernfalls käme im Bereich strafrechtlich erheblicher Sachverhalte der Nichteröffnung staatsanwaltlicher Verfahren die Wirkung zu, das Vorhalten zulässiger Verdachtsberichterstattung regelmäßig auszuschließen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerfG: Alter Pressebericht in Online-Archiv einer Zeitschrift über Kindschaftsverhältnis zu prominentem Vater muss nicht gelöscht werden

BVerfG
Beschluss vom 25.02.2020
1 BvR 1282/17


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass ein alter Pressebericht im Online-Archiv einer Zeitschrift über das Kindschaftsverhältnis zu einem prominenten Vater nicht gelöscht werden muss.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Keine Verletzung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts durch im Internet verfügbaren alten Pressebericht, aus dem sich Kindschaftsverhältnis zu prominentem Vater ergibt

Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die zivilgerichtliche Zurückweisung eines Unterlassungsbegehrens gegen ein Online-Pressearchiv richtet. Im Online-Archiv eines Magazins war ein mehr als 35 Jahre zurückliegender Bericht auffindbar, aus dem sich ergibt, dass der Beschwerdeführer der Sohn eines ehemaligen Oberbürgermeisters einer deutschen Großstadt ist. Der Beschwerdeführer ist hierdurch nicht in seinem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt; insbesondere führt auch die gebotene Grundrechtsabwägung hier nicht zu einem „Recht auf Vergessen“. Die Beeinträchtigungen, die für den Beschwerdeführer aus der Zugänglichkeit des Berichts und der Kenntnis seiner Abstammung folgen, haben keine Bedeutung, die das grundsätzliche Interesse der Presse und der Allgemeinheit an der fortgesetzten Verfügbarkeit inhaltlich nicht modifizierter Presseberichte übersteigt.

Sachverhalt:

Der Beschwerdeführer ist Sohn des ehemaligen Oberbürgermeisters einer süddeutschen Großstadt (Amtszeit: Ende der siebziger Jahre bis Mitte der achtziger Jahre) und praktiziert als Partner einer seinen Familiennamen tragenden Anwaltskanzlei. Ein deutschlandweit vertriebenes Nachrichtenmagazin veröffentlichte im Jahr 1978 einen Porträtbeitrag über den damaligen Oberbürgermeister, aus dem sich auch ergibt, dass der Beschwerdeführer dessen Sohn ist. Der Beitrag ist weiterhin im Online-Archiv des Magazins auffindbar. Bei einer Eingabe des Namens des Beschwerdeführers in die Internetsuchmaschine „Google“ erschien ein Nachweis und eine Verlinkung dieses Berichts auf der fünften Seite der Liste dort nachgewiesener Internetseiten. Aus diesem Grund verklagte der Beschwerdeführer, der nicht öffentlich als Sohn mit dem ehemaligen Oberbürgermeister in Verbindung gebracht werden möchte, die Verlegerin des Magazins erfolglos, es zu unterlassen, ihn namentlich in dem online vorgehaltenen Bericht zu nennen.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Soweit der Beschwerdeführer sich auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung stützt, ist der Schutzgehalt dieser Gewährleistung nicht berührt. Wie sich insbesondere aus der jüngsten Senatsrechtsprechung zum sogenannten Recht auf Vergessen ergibt, schützt diese besondere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor den spezifischen Gefährdungen einer intransparenten, von den Betroffenen nicht mehr nachzuvollziehenden oder zu kontrollierenden Sammlung und Verknüpfung personenbezogener Daten, nicht aber vor der Mitteilung personenbezogener Informationen im öffentlichen Kommunikationsprozess.

2. Auch in seiner äußerungsrechtlichen Schutzdimension ist das Allgemeine Persönlichkeitsrecht des Beschwerdeführers nicht verletzt.

Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht schützt die freie Entfaltung der Persönlichkeit und bietet dabei insbesondere Schutz vor einer personenbezogenen Berichterstattung und Verbreitung von Informationen, die geeignet sind, die Persönlichkeitsentfaltung erheblich zu beeinträchtigen. Es gewährleistet jedoch nicht das Recht, öffentlich so wahrgenommen zu werden, wie es den eigenen Wünschen entspricht. Soweit das öffentlich zugängliche Vorhalten eines Berichts, insbesondere in Online-Pressearchiven, in Rede steht, ist dessen Zulässigkeit ausgehend vom Grundsatz der Zulässigkeit wahrer Berichterstattung aus dem Bereich der Sozialsphäre anhand einer Abwägung der im Zeitpunkt des jeweiligen Löschungsverlangens bestehenden gegenläufigen grundrechtlich geschützten Interessen zu beurteilen. Dabei sind insbesondere das Interesse der Presse am unveränderten öffentlichen Vorhalten ihrer zulässig veröffentlichten Berichte und das allgemeine Interesse der Öffentlichkeit an einer fortgesetzten Verfügbarkeit zutreffender Informationen zu berücksichtigen.

Diesen Vorgaben genügen die angegriffenen Entscheidungen. Sie erkennen neben dem weiterhin bestehenden Informationswert des archivierten Artikels, den sie in nachvollziehbarer Weise begründen, auch ein allgemeines Interesse der Presse an, ihre Archive möglichst vollständig und unverändert der Öffentlichkeit verfügbar zu halten. Dabei nehmen sie - grundrechtlich nicht zu beanstanden - an, dass dem Beschwerdeführer aus der öffentlichen Kenntnis um sein Kindschaftsverhältnis zu dem ehemaligen Oberbürgermeister keine erheblichen negativen Folgen drohen. Insofern gehen sie nachvollziehbar davon aus, dass die aus der Verfügbarkeit des Berichts drohenden Persönlichkeitsbeeinträchtigungen nicht ähnlich schwer wiegen wie bei einer Berichterstattung über schwere Straftaten oder allgemein grob missbilligtes Verhalten.

Eine die Löschung oder Verbergung der persönlichen Daten gebietende Wirkung des Berichts ergibt sich insbesondere auch deshalb nicht, weil dessen Nachweis bei einer Namenssuche durch Internetsuchmaschinen nur auf Position 40 bis 50 erscheint und damit nicht prioritär nachgewiesen wird. Es ist daher nicht erkennbar, dass Personen, die nicht intensive Recherchen anstellen, in persönlichkeitsverletzender Weise auf den Bericht und damit auf das Kindschaftsverhältnis zu dem ehemaligen Oberbürgermeister hingelenkt würden.

Auch die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Erschwerungen einer selbstbestimmten Persönlichkeitsentfaltung aufgrund der Kenntnis um die ehemals prominente gesellschaftliche und politische Stellung seines Vaters führen zu keinem anderen Ergebnis. Zwar mag dieser Gesichtspunkt eine selbständige Persönlichkeitsrelevanz für die Kinder prominenter Personen besitzen. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet jedoch auch insoweit keine einseitig durch die Betroffenen bestimmte Selbstdefinition.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


BGH: Zur rechtlichen Bewertung einer ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren begleitenden identifizierenden Verdachtsberichterstattung

BGH
Urteil vom 17.12.2019
VI ZR 249/18
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 1 Ah, § 1004 Abs. 1 Satz 2; KUG § 22, § 23


Leitsatz des BGH:
Zur rechtlichen Bewertung einer ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren begleitenden identifizierenden Verdachtsberichterstattung, wenn der Betroffene im Verlauf des Unterlassungsklageverfahrens wegen der Straftat rechtskräftig verurteilt wird (Fortführung Senatsurteil vom 18. Juni 2019 - VI ZR 80/18, VersR
2019, 1225).

BGH, Urteil vom 17. Dezember 2019 - VI ZR 249/18 - OLG Frankfurt am Main - LG Frankfurt am Main

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Zur Zulässigkeit einer identifizierenden Bildberichterstattung über ein verwaltungsgerichtliches Verfahren bei erheblichem Informationsinteresse der Öffenlichkeit

BGH
Urteil vom 17.12.2019
VI ZR 504/18
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; BGB § 1004 Abs. 1 Satz 2; KUG § 22, § 23


Der BGH hat sich in dieser Entscheidung mit der Zulässigkeit einer identifizierenden Bildberichterstattung über ein verwaltungsgerichtliches Verfahren bei erheblichem Informationsinteresse der Öffenlichkeit befasst.

Leitsätze des BGH

a) Ein nicht mit Strafe bedrohtes rechtswidriges Verhalten einer der Öffentlichkeit nicht bekannten Person kann etwa wegen seiner Art, seines Umfangs und seiner Auswirkungen auf gewichtige Belange der Gesellschaft von so erheblicher Bedeutung für die Öffentlichkeit sein, dass das Recht am eigenen Bild hinter dem Öffentlichkeitsinteresse zurückzutreten hat.

b) Zur Zulässigkeit einer identifizierenden Bildberichterstattung über ein verwaltungsgerichtliches Verfahren, das die rechtswidrige Untervermietung von Wohnraum an
sogenannte Medizintouristen zum Gegenstand hat.

BGH, Urteil vom 17. Dezember 2019 - VI ZR 504/18 - OLG München - LG München I

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Frankfurt: Zulässige Berichterstattung über Plagiatsvorwüfe unter Namensnennung

OLG Frankfurt
Urteil vom 19.12.2019
16 U 210/18


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass die Berichterstattung über Plagiatsvorwüfe unter Namensnennung zulässig sein kann.

Aus den Entscheidungsgründen:

"Der Klägerin steht nach Auffassung des Senats gegen den Beklagten kein Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB analog, 823 Abs. 1 BGB i.V. m. Art. 2 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG wegen Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts zu.

1. Dabei kann dahinstehen, ob die erforderliche Erstbegehungsgefahr besteht. Bei einer vorbeugenden Unterlassungsklage ist Voraussetzung, dass ernsthafte und greifbare tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, der Anspruchsgegner werde sich in naher Zukunft in der näher bezeichneten Weise rechtswidrig verhalten (vgl. Wenzel-Burkhardt, Das Recht der Wort-und Bildberichterstattung, 6. Aufl., Kap. 12, Rz. 33). Der Beklagte hatte sich zwar mit anwaltlichem Schreiben vom 14. Dezember 20XX direkt an die Bevollmächtigten der Klägerin gewandt und mitgeteilt, dass er eine Berichterstattung über die Klägerin und ihren Fall beabsichtige, und zwar unter Nennung ihres Namens und auch im Internet. Keine Anhaltspunkte bestehen indes dafür, dass ein entsprechender Bericht des Beklagten wirklich nahe bevorstand.

Diese Frage kann aber dahingestellt bleiben, da der Erfolg der vorbeugenden Unterlassungsklage aus anderen Gründen zu verneinen ist.

2. Da es sich bei dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht um ein Rahmenrecht handelt, bedarf es einer umfassenden Güterabwägung. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht ist nur dann rechtswidrig, wenn das Schutzinteresse des Betroffenen die schutzwürdigen Belange der anderen Seite überwiegt (vgl. st. Rspr., z.B. BGH NJW 2016, 789).

Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist nach Auffassung des Senats als Ergebnis der vorzunehmenden Güterabwägung dem Beklagten eine namentliche Nennung der Klägerin im Rahmen einer Berichterstattung über die gegen sie erhobenen Plagiatsvorwürfe gestattet.

Hierbei spielt zunächst eine Rolle, dass die Berichterstattung die Sozialsphäre der Klägerin betrifft, also den Bereich des beruflichen und wissenschaftlichen Wirkens. Zwar hat sich die Klägerin aus dem beruflichen Leben vollständig zurückgezogen und auf die Führung der akademischen Bezeichnung „Privatdozentin“ verzichtet. Auch wurde sie auf ihr Verlangen mit Ablauf des XX. August 20XX aus dem Beamtenverhältnis auf Lebenszeit des Bundeslandes1 entlassen. Gleichwohl ist mit den Plagiatsvorwürfen und einem darüber gefertigten Bericht - auch unter Nennung ihres Namens - kein Eingriff in ihre Privatsphäre verbunden, da die Ursache für diesen Bericht aus ihrer Sozialsphäre und früheren beruflichen Tätigkeit stammt. Das gilt selbst vor dem Hintergrund, dass die Klägerin als akademische Amtsbezeichnung1, Amtsbezeichnung2 und zeitweise Amtsbezeichung3 der Universität1 vor allem mit Verwaltungstätigkeiten befasst war und keine Lehrstuhlinhaberin gewesen ist. Auch wenn sie auf die akademische Bezeichnung „Privatdozentin“ verzichtet hat, bleiben ihre beiden wissenschaftlichen Arbeiten, die Doktorarbeit und die Habilitationsschrift in der Welt. Sie sind an den Hochschulen und weiteren Bibliotheken vorhanden und dienen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Dafür - und nicht nur im Interesse eines persönlichen beruflichen Fortkommens - wurden sie geschrieben.

Nach Auffassung des Senats hat die Öffentlichkeit ein berechtigtes Interesse an der Veröffentlichung des Namens der Autorin dieser wissenschaftlichen Schriften, weil gerade hierin ein besonderer zusätzlicher Informationswert liegt, der ohne die namentliche Nennung nicht berücksichtigt würde. Entgegen der Auffassung des Landgerichts kann dem auch nach dem vollständigen Rückzug der Klägerin aus dem Wissenschaftsbetrieb und aus öffentlichen Funktionen verbleibenden Interesse an dem Thema „Plagiatsvorwürfe gegen Hochschulangehörige“ durch eine die Klägerin nicht namentlich bezeichnende Berichterstattung nicht Rechnung getragen werden. Denn ohne die namentliche Nennung würden die Fortwirkungen auf den Wissenschaftsbetrieb nicht angemessen berücksichtigt.

Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Übernahmen aus fremden Texten, die als solche nicht gekennzeichnet sind, führt zu einer Perpetuierung dieser Plagiate, was gegen wissenschaftliche Interessen verstößt. Ferner ist ein wissenschaftliches Buch ohne den Namen des Verfassers wenig aussagekräftig, auch wenn Titel, Verlag und Erscheinungsjahr zusätzlich veröffentlicht sind. Werk und Autor gehören zusammen. Es besteht auch eine Verwechslungsgefahr, da allein der Titel eines Werkes nicht immer aussagekräftig ist. Das gilt gerade für ein Werk, das - wie die Habilitationsschrift der Klägerin - mit einem aktuellen und eher allgemein gehaltenen Titel versehen ist. Das Thema ihres Buches „...“ ist (...) hochaktuell, vor allem auch durch den zweiten Teil des Titels „...“. (...). Das gilt für den wissenschaftlichen Diskurs, aber auch für journalistische Tätigkeiten. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat (...) die Habilitationsschrift der Klägerin zitiert (...).

Ohne Erfolg wendet die Klägerin ein, sie trage für die Handhabung der Bibliotheken mit Plagiaten, die mit keinem Hinweis versehen würden, keine Verantwortung. Denn entscheidend ist, dass die Klägerin es war, die so gearbeitet hat, dass ihre Werke dem Plagiatsvorwurf ausgesetzt wurden. Ein Recht auf „Vergessenwerden“ hat sie nicht, da ihre Habilitationsschrift noch im wissenschaftlichen Diskurs steht und wieder große Aktualität hat.

Es kommt hinzu, dass die Klägerin ja auch ein Thema mit aktuellen Bezügen gewählt hatte.

Entgegen der Auffassung der Klägerin können für die Berichterstattung über den Verdacht von Plagiaten in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung und über deswegen erhobene Vorwürfe nicht dieselben Maßstäbe gelten wie für die Verdachtsberichterstattung über Straftaten. Der Verfasser einer wissenschaftlichen Schrift begibt sich mit dieser in den öffentlichen Diskurs. Ebenso wie über begründete sachliche Einwände gegen seine veröffentlichten Ausführungen unter namentlichem Bezug auf den Autor berichtet werden darf, muss dies auch für den Verdacht nicht gekennzeichneter Übernahmen von anderen Autoren oder den Verstoß gegen die Regeln wissenschaftlichen Zitierens gelten. An der Person des Autors besteht darüber hinaus auch dann zusätzlich ein Interesse, wenn er - wie hier - weitere Werke verfasst hat, die von dem Vorwurf (noch) nicht betroffen sind.

Dem Gesichtspunkt der Resozialisierung kommt darüber hinaus ein geringeres Gewicht zu, weil der Vorwurf keine Straftat betrifft und bei einem allein berufsbezogenen Fehlverhalten in der Regel nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine Rückkehr zu wissenschaftlich redlichem Verhalten eine Wiedereingliederung in die sozialen Strukturen der Gesellschaft erfordert.

Überdies haben sich auch zwischenzeitlich die Fakten verdichtet, dass der Plagiatsvorwurf wohl nicht unberechtigt sein könnte. Die für eine Verdachtsberichterstattung erforderlichen Belegtatsachen liegen damit in ausreichendem Umfang vor.

So hat die Universität2 der Klägerin die Habilitation mit detaillierten Angaben zu vorhandenen Plagiaten aberkannt, ihr Widerspruch wurde zurückgewiesen. Zwar hat das von der Klägerin angerufene Verwaltungsgericht entschieden, dass die Entziehung der akademischen Bezeichnung „Privatdozentin“ rechtswidrig war, weil die Klägerin bereits auf dieses Recht verzichtet hatte. Anders ist es jedoch bezüglich der Aberkennung der Habilitation. Diesbezüglich hat das Verwaltungsgericht den Bescheid der Hochschule als rechtmäßig angesehen, weil die Klägerin darauf nicht verzichten konnte. Auch wenn diese Entscheidung noch nicht rechtskräftig ist, hat sich der Plagiatsvorwurf keineswegs erledigt, sodass der Beklagte als Sachwalter eines fairen und wissenschaftlichen Tugenden verpflichteten Diskurses und Wissenschaftsbetriebes den Namen der Klägerin im Zusammenhang mit den gegen sie erhobenen Plagiatsvorwürfen nennen darf. Das gilt erst recht im Hinblick darauf, dass hier der Vorwurf eines Doppelplagiats im Raum steht.

Etwas Anderes könnte nur dann gelten, wenn eine solche Namensnennung zu schweren gesundheitlichen Folgen bei der Klägerin geführt hat und weiterhin führen könnte. Denn dann könnten ihre Interessen im Rahmen der Güterabwägung überwiegen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat vom 29. August 2019 (Bl. 898 d. A.) ist die Klägerin darauf hingewiesen worden, dass eine andere Beurteilung bei der Gesamtabwägung dann gerechtfertigt sein könnte, wenn sie konkret vorträgt und belegt, dass sie in Folge der Vorwürfe und dann verstärkt durch die Berichterstattungen an einer psychischen Belastung mit echtem medizinischem Krankheitswert leidet. Ihr ist Gelegenheit gegeben worden, hierzu ergänzend schriftsätzlich bis zum 26. September 2019 Stellung zu nehmen.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 26. September 2019 hat sie dargelegt, dass sie seit Februar 20XX und aufgrund der erhobenen Vorwürfe und Presseberichterstattungen psychisch krank sei. Sie sei mit einem erheblichen pathologischen Krankheitswert an einer Depression erkrankt. Sie sei aufgrund dessen über einen langen Zeitraum seit dem Jahr 20XX krankgeschrieben gewesen und habe sich infolgedessen auch vollständig aus der beruflichen Sphäre zurückgezogen. Sie sei suizidgefährdet und es bedürfe fortwährender Anstrengungen, ihr psychisches Gleichgewicht stabil zu halten. Der Lebenseinschnitt, der durch die erhobenen Vorwürfe und die noch andauernde Klärung erfolgte, würde durch eine öffentliche Bloßstellung so verstärkt, dass ein Depressionsschub einschließlich einer stationären Behandlung drohen würde.

Dieser Vortrag ist zwar nicht verspätet, da der Senat der Klägerin Gelegenheit zu ergänzenden Ausführungen gegeben hatte. Die Klägerin hat jedoch nicht die vom Beklagten bestrittene Kausalität zwischen der von ihr geschilderten psychischen Erkrankung und einer namentlichen Berichterstattung bewiesen.

Zwar hat sie das nervenärztliche Attest des sie behandelnden Psychiaters D vom 19. September 2019 (Anlage K 37, Bl. 956 d. A.) vorgelegt. Dieses ist jedoch hinsichtlich der Kausalitätsfrage unergiebig. In dem Attest heißt es allgemein, dass sich die Klägerin seit Februar 20XX in der regelmäßigen nervenärztlichen Behandlung des Psychiaters befinde. Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch noch keine Plagiatsvorwürfe, die öffentlich erst 20XX erhoben wurden.

Die Klägerin hatte mit der Klage vorgetragen, dass der Vorwurf wissenschaftlichen Fehlverhaltens eine Depression ausgelöst habe und die - später erfolgten - namentlichen Berichterstattungen zu einem weiteren depressiven Schub geführt hätten. Einen solchen belegt das Attest nicht. Weiterhin heißt es allgemein, dass es in der Folge einer beruflichen Belastung zu schwer ausgeprägten depressiven Phänomenen gekommen sei. Hinter dieser allgemeinen Formulierung könnten sich zahlreiche Gründe für depressive Phänomene verbergen, z.B. ein Überlastungssyndrom, ein Burnout o.ä. Ein Zusammenhang mit den Plagiatsvorwürfen wird nicht hergestellt, sodass dieser auch nicht als bewiesen anzusehen ist. Noch deutlicher wird die fehlende Kausalität, wenn man auf die namentliche Nennung der Klägerin in Verbindung mit Plagiatsvorwürfen abhebt. Die Dokumentation zu Plagiierungen in der Habilitationsschrift der Klägerin erschien im „C“ erst im (...) 20XX, also erst 1 1/4 Jahre nach Beginn der Behandlung; lediglich die interne Dokumentation - ohne Namensnennung - begann schon am XX.XX.20XX (Anlage B 95, Bl. 985 d. A.). Die Promotionsschrift der Klägerin wurde erst ab dem ... 20XX auf der Plattform „C“ analysiert und der Zeitung1-Artikel über das Doppelplagiat unter voller Namensnennung der Klägerin erschien am XX.XX.20XX.

Zwar schreibt D, dass die öffentliche Berichterstattung unter Nennung ihres Namens die Qualität einer Retraumatisierung habe, doch ist ihr Vortrag, dass jede weitere Veröffentlichung unter namentlicher Nennung eine Retraumatisierung auslösen würde, gleichwohl unbelegt. Denn da die Traumatisierung durch die öffentliche Berichterstattung nicht bewiesen ist, kann denknotwendig auch nicht die Retraumatisierung bewiesen sein.

Dementsprechend ist allenfalls von einer fortwährenden seelischen Belastung der Klägerin in Folge der namentlichen Berichterstattung auszugehen, die nicht ausreichend ist, bei der Güterabwägung zugunsten der Klägerin zu entscheiden. Denn dazu bedürfte es eines bewiesenen kausalen pathologischen Befundes. Dass auch die minderjährige Tochter der Klägerin unter diesen seelischen Belastungen leidet, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung.

Die Klägerin hat außer der Vorlage des Attests auf den Hinweis des Senats auch keine näheren Tatsachen dargelegt, wie sich die Berichterstattung jeweils ausgewirkt hat, und insbesondere, wann sie in zeitlichem Zusammenhang damit ihren Arzt aufgesucht hat."


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerfG: Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter ist bei der Prüfung eines Unterlassungsanspruchs gegen Suchmaschinenbetreiber zu berücksichtigen - Recht auf Vergessen II

BVerfG
Beschluss vom 6. November 2019
1 BvR 276/17
Recht auf Vergessen II


Das BVerfG hat entschieden, dass die Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter bei der Prüfung eines Unterlassungsanspruchs gegen Suchmaschinenbetreiber zu berücksichtigen ist.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:

Bundesverfassungsgericht prüft innerstaatliche Anwendung unionsrechtlich vollvereinheitlichen Rechts am Maßstab der Unionsgrundrechte - Meinungsfreiheit der Inhalteanbieter ist bei der Prüfung eines Unterlassungsanspruchs gegen Suchmaschinenbetreiber zu berücksichtigen

Dem heute veröffentlichten Beschluss „Recht auf Vergessen II“, der ergänzt wird durch den Beschluss vom selben Tag „Recht auf Vergessen I“ (vergleiche PM Nr. 83/2019), liegt ein Rechtsstreit zugrunde, der eine unionsrechtlich vollständig vereinheitlichte Materie betrifft. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat deshalb die Charta der Grundrechte der Europäischen Union angewandt und eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts Celle zurückgewiesen. Dieses hatte eine Klage der Beschwerdeführerin gegen einen Suchmaschinenbetreiber abgewiesen, mit der sie sich dagegen wandte, dass auf Suchabfragen zu ihrem Namen der Link zu einem 2010 in ein Onlinearchiv eingestellten Transkript eines Fernsehbeitrags nachgewiesen wurde, in dem ihr unter namentlicher Nennung ein unfairer Umgang mit einem gekündigten Arbeitnehmer vorgeworfen wurde.

Das Bundesverfassungsgericht hat zunächst festgestellt, dass die anwendbaren Regelungen unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht und deshalb die Grundrechte des Grundgesetzes nicht anwendbar sind. Soweit jedoch die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, kontrolliert das Bundesverfassungsgericht dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte, so dass keine Schutzlücken entstehen. Es nimmt hierdurch seine Integrationsverantwortung im Rahmen des Art. 23 GG wahr.

In der Sache führt der Senat aus, dass die Grundrechte der Charta wie die des Grundgesetzes nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten gewährleisten und hierbei miteinander in Ausgleich zu bringen sind. Das Oberlandesgericht hat in diesem Sinne die Grundrechtspositionen der Parteien sowie die zu berücksichtigenden Grundrechte Dritter, insbesondere die hierbei beachtliche Meinungsfreiheit des für den Beitrag verantwortlichen Norddeutschen Rundfunks, sachgerecht in die Abwägung eingestellt.

Sachverhalt:

1. Am 21. Januar 2010 strahlte der Norddeutsche Rundfunk einen Beitrag des Fernsehmagazins „Panorama“ mit dem Titel „Kündigung: Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ aus. Gegen Ende dieses Beitrags, für den die Beschwerdeführerin zuvor ein Interview gegeben hatte, wurde der Fall eines gekündigten ehemaligen Mitarbeiters des von ihr als Geschäftsführerin geleiteten Unternehmens dargestellt. In Anknüpfung an die geplante Gründung eines Betriebsrats wurde ihr in dem Beitrag ein unfairer Umgang mit dem Mitarbeiter vorgeworfen.

Der Norddeutsche Rundfunk stellte eine Datei mit einem Transkript dieses Beitrags unter dem Titel „Die fiesen Tricks der Arbeitgeber“ auf seiner Internetseite ein. Bei Eingabe des Namens der Beschwerdeführerin in die Suchmaske des Suchmaschinenbetreibers Google wurde als eines der ersten Suchergebnisse die Verlinkung auf diese Datei angezeigt. Nachdem dieser es abgelehnt hatte, die Nachweise dieser Seite zu unterlassen, erhob die Beschwerdeführerin Klage, die vom Oberlandesgericht abgewiesen wurde. Die Beschwerdeführerin könne weder aus § 35 Abs. 2 Satz 2 BDSG a. F. noch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG die Entfernung des Links (im Weiteren auch: Auslistung) beanspruchen.

2. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ihres Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung. Bereits die Überschrift des Suchergebnisses sei verfälschend, da sie niemals „fiese Tricks“ angewandt habe. Das Suchergebnis rufe eine negative Vorstellung über sie als Person hervor, die geeignet sei, sie als Privatperson herabzuwürdigen. Überdies liege der Bericht zeitlich so weit zurück, dass auch in Folge des Zeitablaufs kein berechtigtes öffentliches Interesse mehr an ihm bestehe.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Das Verfahren gibt zunächst Anlass, den verfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab im Kontext des Unionsrechts näher zu bestimmen.

1. Der von der Beschwerdeführerin im Ausgangsverfahren verfolgte Anspruch auf Auslistung richtet sich – sowohl für die damals geltende Datenschutzrichtlinie als auch für die heutige Datenschutz-Grundverordnung – nach Rechtsvorschriften, die unionsrechtlich vollständig vereinheitlicht sind und damit in allen Staaten der Europäischen Union gleichermaßen gelten. Die Frage, welche personenbezogenen Daten eine Suchmaschine auf Suchabfragen nachweisen darf, fällt auch nicht in den Bereich des sogenannten Medienprivilegs, für das den Mitgliedstaaten ein Ausgestaltungsspielraum zusteht (im Unterschied zur Rechtslage in dem Beschluss „Recht auf Vergessen I“ vom selben Tag, PM Nr. 83/2019).

2. Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind grundsätzlich nicht die deutschen Grundrechte, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. Das Unionsrecht hat hier gegenüber den Grundrechten des Grundgesetzes Anwendungsvorrang. Für die Frage, ob vollständig vereinheitlichte Regelungen gegen Grundrechte verstoßen, entspricht das der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Nichts anderes gilt für die Frage, ob das vollvereinheitlichte Fachrecht grundrechtskonform angewendet wird.

a) Die Anwendung der Unionsgrundrechte folgt hier aus der Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf die Europäische Union. Wenn diese Regelungen schafft, die in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten und einheitlich angewendet werden sollen, muss auch der bei der Anwendung dieser Regelungen zu gewährleistende Grundrechtsschutz einheitlich sein. Dem steht eine Heranziehung der jeweiligen mitgliedstaatlichen Grundrechtsstandards von vorneherein entgegen. Denn derzeit kann nicht davon ausgegangen werden, dass diese mitgliedstaatlichen Grundrechtsstandards über das gemeinsame Fundament der Europäischen Menschenrechtskonvention hinaus deckungsgleich sind. In ihnen spiegeln sich vielfältig bedingte tatsächliche Unterschiede in den Mitgliedstaaten wie auch je eigene geschichtliche Erfahrungen. Ebensowenig kann davon ausgegangen werden, dass sich der Grundrechtsschutz der Grundrechtecharta gerade mit demjenigen des Grundgesetzes deckt. Damit ist von einem jeweiligen Eigenstand der unionsrechtlichen und der nationalen Grundrechte auszugehen.

b) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts steht nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vorbehalt, dass der Grundrechtsschutz durch die Unionsgrundrechte hinreichend wirksam ist. Erforderlich ist deshalb, dass deren Schutz dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. Nach dem derzeitigen Stand des Unionsrechts – zumal unter Geltung der Charta – ist dies der Fall.

3. Das Bundesverfassungsgericht hat jetzt erstmals entschieden, dass es die Anwendung des Unionsrechts durch deutsche Stellen selbst am Maßstab der Unionsgrundrechte prüft, soweit diese die deutschen Grundrechte verdrängen.

a) In seiner bisherigen Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht eine Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte nicht ausdrücklich in Erwägung gezogen. Soweit es die grundgesetzlichen Grundrechte nicht angewendet hat, hat es vielmehr auf eine Grundrechtsprüfung ganz verzichtet und die Grundrechtskontrolle den Fachgerichten in Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof überlassen. Diese Rechtsprechung bezog sich auf Fallkonstellationen, in denen, mittelbar oder unmittelbar, die Gültigkeit von Unionsrecht – also nicht dessen Anwendung – in Frage stand.

b) Geht es hingegen wie hier um die Frage, ob deutsche Gerichte oder Behörden bei der Anwendung vollvereinheitlichten Unionsrechts den hierbei zu beachtenden Anforderungen der Unionsgrundrechte im Einzelfall genügt haben, kann sich das Bundesverfassungsgericht nicht aus der Grundrechtsprüfung zurückziehen; vielmehr gehört es dann zu seinen Aufgaben, Grundrechtsschutz am Maßstab der Unionsgrundrechte zu gewährleisten. Die in Art. 23 Abs. 1 GG vorgesehene Öffnung des Grundgesetzes für das Unionsrecht meint nicht einen Rückzug der deutschen Staatsgewalt aus der Verantwortung für die der Union übertragenen Materien; vielmehr sieht sie eine Mitwirkung der deutschen Staatsorgane und damit auch des Bundesverfassungsgerichts an deren Entfaltung vor. Durch die Einbeziehung der Unionsgrundrechte als Prüfungsmaßstab nimmt das Bundesverfassungsgericht im Verfahren der Verfassungsbeschwerde daher seine Integrationsverantwortung wahr.

Maßgeblich ist hierfür vor allem, dass nach dem heutigen Stand des Unionsrechts anderenfalls eine Schutzlücke hinsichtlich der fachgerichtlichen Anwendung der Unionsgrundrechte entstünde. Denn eine Möglichkeit Einzelner, die Verletzung von Unionsgrundrechten durch die mitgliedstaatlichen Fachgerichte unmittelbar vor dem Europäischen Gerichtshof geltend zu machen, besteht nicht. Das Unionsrecht kennt anders als das deutsche Recht keine Verfassungsbeschwerde. Diese Schutzlücke wird auch nicht durch die schon bisher ausgeübte Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts über die Vorlageverpflichtung der Fachgerichte an den Europäischen Gerichtshof hinreichend geschlossen.

4. Soweit das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte der Grundrechtecharta als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof aus. Denn die Zuständigkeit für die letztverbindliche Auslegung des Unionsrechts und damit auch der Grundrechte der Charta liegt bei diesem. Soweit er deren Auslegung nicht bereits geklärt hat oder die anzuwendenden Auslegungsgrundsätze nicht aus sich heraus offenkundig sind – etwa auf der Grundlage einer Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte –, wird das Bundesverfassungsgericht ihm Fragen gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorlegen. Ob die Fachgerichte, soweit sie im fachgerichtlichen Instanzenzug letztinstanzlich entscheiden, insoweit ebenfalls vorlagepflichtig bleiben, bedurfte keiner Entscheidung.

5. Die Frage, ob die Grundrechte des Grundgesetzes oder der Charta anzuwenden sind, hängt, wie sich aus den beiden heute veröffentlichten Senatsbeschlüssen „Recht auf Vergessen I und II“ ergibt, maßgeblich von einer Unterscheidung zwischen vollständig vereinheitlichtem und gestaltungsoffenem Unionsrecht ab. Dies richtet sich nach einer Auslegung des jeweils anzuwendenden unionsrechtlichen Fachrechts und lässt sich nicht entlang der im deutschen Recht bekannten Abgrenzung zwischen unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessen entscheiden, zwischen denen das Unionsrecht nicht in gleicher Weise unterscheidet wie das deutsche Recht. Es ist vielmehr in Bezug auf die jeweilige Norm des Unionsrechts zu untersuchen, ob sie auf die Ermöglichung von Vielfalt und die Geltendmachung verschiedener Wertungen angelegt ist oder nicht.

6. Obwohl der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts damit erstmals entschieden hat, Verfassungsbeschwerden gegebenenfalls am Kontrollmaßstab der Unionsgrundrechte zu prüfen, bedurfte es keiner Entscheidung des Plenums. Diese ist nach § 16 BVerfGG nur geboten, wenn ein Senat von einer für die Entscheidung tragenden Auffassung des anderen Senats abweichen möchte. Eine solche Abweichung liegt nicht vor, insbesondere nicht von der mit der sogenannten Solange II-Entscheidung des Zweiten Senats begründeten Rechtsprechung beider Senate (vgl. BVerfGE 73, 339 <387>). Deren Gegenstand war allein, ob und wieweit Unions- und vollvereinheitlichtes innerstaatliches Recht am Maßstab des Grundgesetzes zu prüfen sind. Demgegenüber zog diese eine Anwendbarkeit der Unionsgrundrechte – und schon gar der erst im Jahr 2009 verbindlich gewordenen Grundrechtecharta – weder explizit noch implizit in Betracht und traf hierzu weder eine positive noch eine negative Aussage. Nichts anderes ergibt sich aus neueren Entscheidungen des Zweiten Senats.

II. In der Sache war die Verfassungsbeschwerde zulässig, hatte aber keinen Erfolg.

1. Die Beschwerdeführerin ist beschwerdebefugt, da sie sich auf die Unionsgrundrechte berufen kann. Indem sie sich auf eine Verletzung ihres Rechts auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit stützt, rügt sie der Sache nach eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens und auf Schutz personenbezogener Daten nach Art. 7 und Art. 8 GRCh. Dass sie insoweit die Grundrechte des Grundgesetzes und nicht die Grundrechte der Charta nennt, ist unschädlich. Wird nur die falsche Norm benannt, aber in der Sache substantiiert vorgetragen, wird hierdurch die Verfassungsbeschwerde nicht unzulässig.

2. Die Verfassungsbeschwerde war aber unbegründet.

Wie bei der Heranziehung der Grundrechte des Grundgesetzes prüft das Bundesverfassungsgericht nicht die richtige Anwendung des einfachen Rechts (hier also die damals geltende Datenschutzrichtlinie und das Bundesdatenschutzgesetz), sondern allein, ob die Fachgerichte den Unionsgrundrechten hinreichend Rechnung getragen und zwischen ihnen im Rahmen der gebotenen Abwägung einen vertretbaren Ausgleich gefunden haben. Das hat das Bundesverfassungsgericht bejaht.

a) Wie die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisten auch die Grundrechte der Charta nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten. Auf Seiten der Beschwerdeführerin sind in die Abwägung die Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh und auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh einzustellen. Eine Entsprechung haben diese Garantien in Art. 8 EMRK.

b) Auf Seiten des beklagten Suchmaschinenbetreibers ist sein Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh einzustellen, während er sich für die Verbreitung von Suchnachweisen nicht auf die Meinungsfreiheit aus Art. 11 GRCh berufen kann. Einzustellen sind jedoch die von einem solchen Rechtsstreit unmittelbar betroffenen Grundrechte Dritter und damit vorliegend – neben den Informationsinteressen der Nutzer – die Meinungsfreiheit des Norddeutschen Rundfunks. Da es darum geht, ob dem Suchmaschinenbetreiber verboten werden kann, die von einem Dritten, hier dem Norddeutschen Rundfunk, bereitgestellten Beiträge zu verbreiten, kann in einem solchen Verbot zugleich eine eigenständige Einschränkung der Meinungsfreiheit des Dritten liegen. Denn diesem wird dadurch ein bereitstehender Dienstleister genommen und so in Teilen zugleich ein wichtiges Medium für die Verbreitung seiner Berichte. Dies ist nicht ein bloßer Reflex einer Anordnung gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber. Vielmehr knüpft die Entscheidung unmittelbar an die Äußerung und an den Gebrauch der Meinungsfreiheit an, da es gezielt darum geht, die Verbreitung des Beitrags wegen seines Inhalts zu beschränken.

c) Grundlage der Abwägung ist die Tätigkeit des Suchmaschinenbetreibers, die hinsichtlich der damit verbundenen Grundrechtseinschränkungen eigenständig zu beurteilen ist. Die Frage, ob er rechtmäßig gehandelt hat, ist nicht identisch mit der Frage, ob die Veröffentlichung des Beitrags durch den Dritten rechtmäßig war, auch wenn es insoweit Wechselwirkungen geben kann. Damit ist ein Vorgehen gegenüber dem Suchmaschinenbetreiber auch nicht subsidiär zu einem solchen gegenüber dem Dritten als Inhalteanbieter.

d) Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist zwar im Rahmen der Abwägung das Gewicht allein der wirtschaftlichen Interessen des Suchmaschinenbetreibers grundsätzlich nicht hinreichend schwer, um den Schutzanspruch Betroffener zu beschränken. Allerdings können das Informationsinteresse der Öffentlichkeit sowie vor allem einzubeziehende Grundrechte Dritter größeres Gewicht haben. Vorliegend ist die Meinungsfreiheit des durch die Entscheidung belasteten, insoweit grundrechtsberechtigten Norddeutschen Rundfunks als unmittelbar mitbetroffenes Grundrecht in die Abwägung einzubeziehen. Daher gilt hier – anders als in einigen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs, die insoweit andere Konstellationen betrafen – keine Vermutung eines Vorrangs des Schutzes des Persönlichkeitsrechts; vielmehr sind die sich gegenüberstehenden Grundrechte gleichberechtigt miteinander abzuwägen. Denn ebensowenig wie Einzelne gegenüber den Medien einseitig darüber bestimmen können, welche Informationen im Rahmen der öffentlichen Kommunikation über sie verbreitet werden, haben sie eine solche Bestimmungsmacht gegenüber den Suchmaschinenbetreibern.

e) Bei der Abwägung kommt es für die Gewichtung der Grundrechtseinschränkung der Betroffenen maßgeblich darauf an, wieweit sie durch die Verbreitung des streitbefangenen Beitrags, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit namensbezogener Suchabfragen, in ihrer Persönlichkeitsentfaltung beeinträchtigt werden. Hierfür reicht nicht eine Würdigung der Berichterstattung in ihrem ursprünglichen Kontext; vielmehr ist auch die leichte und fortdauernde Zugänglichkeit der Informationen durch die Suchmaschine zu berücksichtigen. Dabei ist insbesondere auch der Bedeutung der Zeit zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und deren späterem Nachweis Rechnung zu tragen, wie es nach der aktuellen Rechtslage auch in Art. 17 DSGVO nach dem Leitgedanken eines „Rechts auf Vergessenwerden“ normiert ist.

f) Nach diesen Maßstäben ist die angegriffene Entscheidung im Ergebnis nicht zu beanstanden. Das Oberlandesgericht stellt sowohl den Schutz des Persönlichkeitsrechts auf Seiten der Beschwerdeführerin als auch die unternehmerische Freiheit des Suchmaschinenbetreibers in die Abwägung ein, letztere zu Recht in Verbindung mit der Meinungsfreiheit des Norddeutschen Rundfunks sowie dem Zugangsinteresse der Internetnutzer. Die Abwägung des Oberlandesgerichts hält sich im fachgerichtlichen Wertungsrahmen.

Zu kurz greift es allerdings, wenn es dabei die Beschwerdeführerin nur als in ihrer Sozialsphäre betroffen ansieht. Die Auffindbarkeit und Zusammenführung von Informationen mittels namensbezogener Suchabfragen führt heute dazu, dass für deren Auswirkungen zwischen Privat- und Sozialsphäre kaum mehr zu unterscheiden ist. Als Kriterium für die Gewichtung des Gegenstands des Beitrags, nicht der Auswirkungen auf die Betroffenen, behält diese Unterscheidung aber ihre Aussagekraft. Tragfähig legt das Oberlandesgericht diesbezüglich dar, dass sich der Beitrag auf ein in die Gesellschaft hineinwirkendes berufliches Verhalten der Beschwerdeführerin, nicht aber allein auf ihr Privatleben bezieht und in Hinblick hierauf durch ein noch fortdauerndes, wenn auch mit der Zeit abnehmendes öffentliches Informationsinteresse gerechtfertigt ist. Diesbezüglich muss die Beschwerdeführerin belastende Wirkungen – auch in ihrem privaten Umfeld – weitergehend hinnehmen als gegenüber Beiträgen über ihr privates Verhalten.

Ergänzend konnte das Oberlandesgericht auch darauf abstellen, dass die Beschwerdeführerin zu dem Interview, das Gegenstand des streitigen Beitrags war, ihre Zustimmung gegeben hatte. Zu Recht beurteilt die angegriffene Entscheidung den Bericht und den hierauf verweisenden Link auch nicht als Schmähung, da es nicht ohne Sachbezug allein um die Verunglimpfung der Person geht.

Das Oberlandesgericht hat auch den Zeitfaktor in seine Abwägung eingestellt und geprüft, ob die Weiterverbreitung des Beitrags unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit, die sowohl das Gewicht des öffentlichen Interesses als auch das der Grundrechtsbeeinträchtigung modifizieren kann (vergleiche dazu entsprechend den Beschluss vom selben Tag, PM Nr. 83/2019), noch gerechtfertigt ist. Letztlich sieht es einen Anspruch auf Auslistung im vorliegenden Fall mit verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Begründung als jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gegeben an. Dies trägt den Garantien der Grundrechtecharta hinreichend Rechnung und lässt eine grundsätzlich unrichtige Anschauung von Bedeutung und Tragweite der berührten Unionsgrundrechte nicht erkennen.

III. Eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht geboten. Die Anwendung der Unionsgrundrechte auf den vorliegenden Fall wirft keine Auslegungsfragen auf, die nicht schon aus sich heraus klar oder durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs – unter ergänzender Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh) – hinreichend geklärt sind.


Die Leitsätze des Bundesverfassungsgerichts:

1. Soweit die Grundrechte des Grundgesetzes durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden, kontrolliert das Bundesverfassungsgericht dessen Anwendung durch deutsche Stellen am Maßstab der Unionsgrundrechte. Das Gericht nimmt hierdurch seine Integrationsverantwortung nach Art. 23 Abs. 1 GG wahr.

2. Bei der Anwendung unionsrechtlich vollständig vereinheitlichter Regelungen sind nach dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts in aller Regel nicht die Grundrechte des Grundgesetzes, sondern allein die Unionsgrundrechte maßgeblich. Der Anwendungsvorrang steht unter anderem unter dem Vorbehalt, dass der Schutz des jeweiligen Grundrechts durch die stattdessen zur Anwendung kommenden Grundrechte der Union hinreichend wirksam ist.
Soweit das Bundesverfassungsgericht die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Prüfungsmaßstab anlegt, übt es seine Kontrolle in enger Kooperation mit dem Europäischen Gerichtshof aus. Nach Maßgabe des Art. 267 Abs. 3 AEUV legt es dem Gerichtshof vor.

3. Wie die Grundrechte des Grundgesetzes gewährleisten auch die Grundrechte der Charta nicht nur Schutz im Staat-Bürger-Verhältnis, sondern auch in privatrechtlichen Streitigkeiten. Auf der Basis des maßgeblichen Fachrechts sind daher die Grundrechte der Beteiligten miteinander in Ausgleich zu bringen. Insoweit prüft das Bundesverfassungsgericht – wie bei den Grundrechten des Grundgesetzes – nicht das Fachrecht, sondern allein, ob die Fachgerichte den Grundrechten der Charta hinreichend Rechnung getragen und einen vertretbaren Ausgleich gefunden haben.

4. Soweit Betroffene von einem Suchmaschinenbetreiber verlangen, den Nachweis und die Verlinkung bestimmter Inhalte im Netz zu unterlassen, sind in die danach gebotene Abwägung neben den Persönlichkeitsrechten der Betroffenen (Art. 7 und Art. 8 GRCh) im Rahmen der unternehmerischen Freiheit der Suchmaschinenbetreiber (Art. 16 GRCh) die Grundrechte der jeweiligen Inhalteanbieter sowie die Informationsinteressen der Internetnutzer einzustellen.

5. Soweit das Verbot eines Suchnachweises in Ansehung des konkreten Inhalts der Veröffentlichung ergeht und dem Inhalteanbieter damit ein wichtiges Medium zu dessen Verbreitung entzieht, das ihm anderweitig zur Verfügung stünde, liegt hierin eine Einschränkung seiner Meinungsfreiheit.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier





OLG Thüringen: Keine Geldentschädigung für Verdachtsberichterstattung des MDR über angebliche Mafia-Zugehörigkeit eines Erfurter Gastronomen

OLG Thüringen
Urteil vom 21.02.2018
7 U 471/17


Das OLG Thüringen hat entschieden, dass ein Erfurter Gastronom keinen Anspruch auf Geldentschädigung für Verdachtsberichterstattung des MDR über eine angebliche Mafia-Zugehörigkeit hat. Nach Ansicht des Gerichts war der MDR aufgrund seiner recherchierten Erkenntnisse zur streitgegenstänlichen Verdachtsberichterstattung auch grundsätzlich berechtigt gewesen.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Keine Geldentschädigung für Gastronomen wegen Mafia-Bericht des MDR

In einem im November 2015 ausgestrahlten Fernsehbericht des MDR mit dem Titel „Provinz der Bosse – Die Mafia in Mitteldeutschland“ wurde über Aktivitäten der italienischen Mafia in Mitteldeutschland berichtet. Im Bericht wurde über einen Erfurter Gastronomen, der zwar anonymisiert, aber identifizierbar dargestellt wurde, behauptet, er sei Mitglied der `Ndrangheta. Der Bericht war im Internet in der Mediathek des MDR abrufbar und wurde zeitweise auch durch Dritte auf YouTube verbreitet.

Wegen Verletzung seiner allgemeinen Persönlichkeitsrechte nahm der Gastronom sowohl den MDR als auch beteiligte Journalisten auf Zahlung einer Geldentschädigung gerichtlich in Anspruch. Darüber hinaus forderte er von ihnen Erstattung von Rechtsanwaltskosten, die ihm vorgerichtlich unter anderem wegen der Abmahnung von Dritten wegen des Uploads des Fernsehbeitrages im Internet entstanden waren.

Die Klage hatte vor dem Landgericht Erfurt nur zu einem geringen Teil Erfolg. Das Landgericht verurteilte den MDR im Juli 2017, dem Kläger einen Teil der von ihm geltend gemachten Rechtsanwaltskosten zu zahlen. Im Übrigen hat das Landgericht Erfurt die Klage abgewiesen. Gegen das Urteil hatten der Kläger und der MDR Berufung eingelegt.

Nur die Berufung des MDR hatte Erfolg. Der 7. Zivilsenat des Thüringer Oberlandesgerichts hat mit Urteil vom 21.02.2018 die Klage insgesamt abgewiesen.

Wie schon das Landgericht zuvor sah auch der Senat nach Abwägung der gesamten Umstände des Falles keine Rechtsgrundlage für die Zubilligung einer Geldentschädigung. Zwar habe der MDR durch den Fernsehbeitrag die Persönlichkeitsrechte des Klägers verletzt, die Verletzung sei aber nicht so schwerwiegend, dass die Zahlung einer Geldentschädigung erforderlich wäre.

Hierbei hat der Senat unter anderem berücksichtigt, dass der Kläger zwar anonymisiert, aber dennoch - für einen beschränkten Personenkreis - erkennbar im Fernsehbeitrag dargestellt wurde. Die Behauptung einer Mafiazugehörigkeit des Klägers sei aber durchgängig nicht als bewiesene Tatsache, sondern lediglich als Verdacht dargestellt worden. Zu einer Verdachtsberichterstattung sei der MDR aufgrund seiner recherchierten Erkenntnisse auch grundsätzlich berechtigt gewesen. In seine Abwägung hat der Senat eine Reihe weiterer Gesichtspunkte einbezogen.

Nach Auffassung des Senates steht dem Kläger aus Rechtsgründen auch kein Anspruch auf Ersatz der geltend gemachten Rechtsanwaltskosten zu. Anders als das Landgericht hat der Senat hierzu die Auffassung vertreten, dass der MDR die vom Kläger geltend gemachten Abmahnkosten gegen Dritte nicht zurechenbar verursacht habe. Da diesbezüglich eine höchstrichterliche Rechtsprechung noch nicht ergangen ist, hat der Senat die Revision gegen sein Urteil zu dieser Fragestellung zugelassen.

Thüringer Oberlandesgericht, Urteil vom 21.02.2018, Az. 7 U 471/17
Landgericht Erfurt, Urteil vom 30.06.2017, Az. 3 O 1118/16



BGH: Altmeldung in einem Online-Archiv einer Tageszeitung muss bei ursprünglich unzulässiger identifzierender Berichterstattung gelöscht werden

BGH
Urteil vom 16.02.2016
VI ZR 367/15
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1; BGB § 823 Abs. 1 Ah, § 1004
Abs. 1 Satz 2; KUG § 22, § 23


Der BGH hat entschieden, dass Altmeldungen in einem Online-Archiv einer Tageszeitung jedenfalls bei ursprünglich unzulässiger identifzierender Berichterstattung im Regelfall gelöscht werden müssen. Vorliegend ging es um die Berichtertstattung über ein Strafverfahren, welches später eingestellt wurde. Der BGH betont, dass stets eine umfassende Abwägung des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten mit dem Recht der Presse auf Meinungs- und Medienfreiheit erfolgen muss.

Leitsätze des BGH:

1. Die Frage, ob in dem Online-Archiv einer Tageszeitung nicht mehr aktuelle Beiträge (Altmeldungen) zum Abruf bereitgehalten werden dürfen, in denen über den Verdacht einer Straftat im Zusammenhang mit einem - später nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellten - Ermittlungsverfahren berichtet und in denen der Beschuldigte - durch Namen und/oder Bild - identifizierbar bezeichnet wird, ist aufgrund einer umfassenden Abwägung des Persönlichkeitsrechts des Beschuldigten mit dem Recht der Presse auf Meinungs- und Medienfreiheit zu entscheiden
.
2. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer solchen Berichterstattung ist im Rahmen der Abwägung von erheblicher Bedeutung, ob sie ursprünglich zulässig war. Ist dies nicht der Fall, ist das Bereithalten der Beiträge zum Abruf
in einem Online-Archiv grundsätzlich unzulässig, soweit der Beschuldigte weiterhin identifizierbar bezeichnet bzw. dargestellt ist.

BGH, Urteil vom 16. Februar 2016 - VI ZR 367/15 - OLG Köln - LG Köln

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Regelmäßig kein Anspruch auf Unterlassung einer Presseveröffentlichung im Falle einer identifizierenden Textberichterstattung, wenn berufliche und nicht die Privatsphäre betroffen ist

BGH
Urteil vom 13.01.2015
VI ZR 386/13
BGB § 823


Der BGH hat entschieden, dass regelmäßig kein Anspruch auf Unterlassung einer Presseveröffentlichung im Falle einer identifizierenden Textberichterstattung besteht, wenn die berufliche und nicht die Privatsphäre betroffen ist.

Leitsatz des BGH:
Zum Anspruch auf Unterlassung einer Presseveröffentlichung im Falle einer identifizierenden Textberichterstattung.

BGH, Urteil vom 13. Januar 2015 - VI ZR 386/13 - KG Berlin - LG Berlin

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier: