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BayVGH: Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung rechtswidrig

BayVGH
Beschluss vom 15.02.2023
4 CE 23.2267


Der BayVGH hat entschieden, dass die Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung rechtswidrig ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
BayVGH: Drohnenbefliegung eines Wohngrundstücks zur Beitragserhebung ist rechtswidrig

Mit Beschluss vom 15. Februar 2024 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) die Beschwerde der Stadt Neumarkt-Sankt Veit im Landkreis Mühldorf am Inn zurückgewiesen und die geplante Drohnenbefliegung eines Wohngrundstücks zur Ermittlung der Geschossfläche als rechtswidrig eingestuft.

Die Stadt Neumarkt-Sankt Veit plante ursprünglich für Oktober 2023 eine Drohnenbefliegung verschiedener Wohngrundstücke, um die Geschossfläche der dort vorhandenen Gebäude zu bestimmen. Die dadurch erlangten Daten sollten zur Berechnung des sog. Herstellungsbeitrags dienen, der für den Anschluss von Grundstücken an die gemeindliche Abwasserentsorgung erhoben wird. Nachdem der Antragsteller, dem ein Wohngrundstück im Stadtgebiet gehört, über die geplante Drohnenbefliegung informiert worden war, wandte er sich an das Verwaltungsgericht München, das seinem Eilantrag stattgab. Gegen diesen Beschluss legte die Stadt Beschwerde zum BayVGH ein.

Der BayVGH wies die Beschwerde der Stadt zurück. Dem Antragsteller stehe ein Unterlassungsanspruch zu, der eine Drohnenbefliegung seines Grundstücks verbiete. Für die geplante Maßnahme fehle es bereits an einer Rechtsgrundlage. Hierfür könne insbesondere nicht die Generalklausel des bayerischen Datenschutzgesetzes herangezogen werden. Diese lässt eine Verarbeitung personenbezogener Daten durch eine öffentliche Stelle zu, wenn sie zur Erfüllung einer ihr obliegenden Aufgabe erforderlich ist. Die Vorschrift erlaube eine Erhebung personenbezogener Daten jedoch nur dann, wenn es sich um einen geringfügigen Eingriff in die Rechte der betroffenen Person handele. Der Einsatz der Drohne stelle aber einen erheblichen Eingriff in das vom Grundgesetz geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers dar. Auch wenn das Wohngebäude von außen aufgenommen werde, sei die schützenswerte Privatsphäre betroffen. Denn mit der Drohne könnten Aufnahmen von zur Wohnung zählenden Terrassen, Balkonen oder Gartenflächen hergestellt werden. Zudem könnten die sich dort aufhaltenden Personen fotografiert werden. Weiter sei nicht auszuschließen, dass durch Glasflächen auch Innenräume erfasst würden.

Der Beschluss des BayVGH ist unanfechtbar.

(BayVGH, Beschluss vom 15. Februar 2024, Az.: 4 CE 23.2267)



VG München: DSGVO-Verstoß durch Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung

VG München
Beschluss vom 22.11.2023
M 7 E 23.5047


Das VG München hat entschieden, dass die Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung nicht mit der DSGVO vereinbar ist.

Aus den Entscheidungsgründen:
3. Auch aus dem unionalen und nationalen Datenschutzrecht dürfte keine Ermächtigung zur Durchführung der streitgegenständlichen Maßnahmen folgen.

Der Anwendungsbereich der DSGVO ist eröffnet, da es sich bei den Informationen, die durch die streitgegenständlichen Maßnahmen erhoben werden sollen, um personenbezogene Informationen i. S. v. Art. 4 Nrn. 1 und 2 DSGVO handelt. Ein Personenbezug liegt nicht nur dann vor, wenn die Maßnahmen Personen möglicherweise (mit-)aufzeichnen, was hier durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnte (vgl. OVG Saarl, U.v. 14.9.2017 ‒ 2 A 213/16 ‒ juris Rn. 23). Selbst wenn durch die streitgegenständlichen Maßnahmen tatsächlich keine Person mitaufgezeichnet würde, liegt der Personenbezug jedoch gleichwohl vor. Gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO bezeichnen „personenbezogene Daten“ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten etc. identifiziert werden kann. Die Informationen erfüllen die jeweils eigenständig zu prüfenden Merkmale (vgl. Klar/Kühling in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, DSGVO Art. 4 Rn. 11) des Personenbezugs und der Identifizierbarkeit der Person. Bei den bildlichen Aufzeichnungen und ihrer anschließenden Auswertung insbesondere durch Erstellen von Modellen handelt sich nicht um Sachdaten, sondern um Informationen, die sich auf eine natürliche Person beziehen. Wenn in der Information über eine Sache aufgrund individualisierender Identifikationsmerkmale, des Detaillierungsgrads oder der Einzigartigkeit der Sache ein Personenbezug angelegt ist, handelt es sich um ein personenbezogenes Datum (vgl. Klar/Kühling a.a.O. Rn. 13). Der Personenbezug ergibt sich bei den streitgegenständlichen Maßnahmen aus mehreren Erwägungen. Es handelt sich bei den bildlichen Aufzeichnungen von Grundstücken (und daraus erstellten Modellen) nicht lediglich um Sachdaten, sondern um personenbezogene Daten. Der Personenbezug ergibt sich aus der Georeferenziertheit der Daten und der nachträglichen Bearbeitung der Daten durch den Ingenieurdienstleister. Die bildlichen Aufzeichnungen („Rohdaten“) zeigen stets auch die exakten Positionsdaten der Drohne wie die Flughöhe im Augenblick des Bildes, die geographische Lagebestimmung, die Aufnahmerichtung und den Neigungswinkel an. Auch die nachträgliche Verknüpfung der bildlichen Aufzeichnung mit den Informationen wie Name, Anschrift und Flurstücknummer stellt den Personenbezug i. S. v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO her (ausdrücklich für die Anschrift als individualisierendes Identifikationsmerkmal Klar/Kühling a.a.O. Rn. 13). Zudem weisen die beabsichtigten Aufnahmen einen hohen Detailgrad auf und es handelt sich bei den aufzuzeichnenden Informationen um Wohngrundstücke. Die Aufzeichnungen sollen u. a. Terrassen und Balkone erfassen. Durch (leicht) seitliche Aufnahmen werden bei dem beabsichtigten Vorgehen auch Fenster zu (Wohn-)Räumen erfasst. Auch wenn man zu Gunsten der Antragsgegnerin von einem Detailgrad von drei Zentimetern ausgeht, könnten konkrete Details der Wohnverhältnisse erfasst werden. Auf nicht-überdachten Flächen wie Terrassen könnten Gegenstände von einer Größe über drei Zentimeter erfasst werden. Unter überdachten Flächen ist die Aufzeichnung der Wohnverhältnisse nicht ausgeschlossen. Die (leicht) seitliche Perspektive würde auch das Erfassen der Wohnverhältnisse in der Nähe eines Fensters oder einer Glastür ermöglichen. Wie weit durch die seitliche Perspektive der Einblick in Fenster und Glastüren ermöglicht wird, hängt von der konkreten Flugroute, während der Aufzeichnungen angefertigt werden, sowie von der vorhandenen Bebauung, dem Abstand zwischen den Gebäuden und dem Baumbestand ab. Je größer der Abstand zwischen zwei Wohngebäuden und je geringer der Baumbestand wäre, desto umfassender wären die möglichen Aufzeichnungen der Wohnverhältnisse. Ob der Ingenieurdienstleister die Grundstücke einzelnen befliegt oder eine zusammenhängende Befliegung mehrerer benachbarter Grundstücke „am Stück“ bei durchgehender Aufzeichnung vornimmt, kann zumindest im Eilverfahren offenbleiben. Bei lebensnaher Betrachtung ergeben sich die Vorzüge der Drohnenbefliegung gegenüber anderen Möglichkeiten der Geschossflächenermittlung indes daraus, dass in einem oder wenigen einheitlichen Vorgängen eine Vielzahl von Grundstücken erfasst wird. Bei durchgehender Aufzeichnung während der Befliegung wäre eine besonders weitreichende Aufzeichnung der Wohnverhältnisse durch Fenster und Glastüren möglich. Der Antragsteller ist durch die verarbeiteten Informationen auch identifizierbar. Ausgehend von den durch den Ingenieurdienstleister erstellten Modellen und Plänen folgt die Identität des Antragstellers unmittelbar aus der Information selbst. Mit Blick auf die Rohdaten wie bspw. „Orthofotos“ ist der Antragsteller zumindest unter Zuhilfenahme weiterer Informationen identifizierbar.

Die Verarbeitung personenbezogener Daten dürfte auch nicht gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO i. V. m. Art. 4 Abs. 1 BayDSG rechtmäßig sein.

Richtet sich die Datenverarbeitung gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO nach dem Recht der Mitgliedstaaten, handelt es sich bei Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO nicht um die Rechtsgrundlage zur Datenverarbeitung, sondern um eine Vorschrift mit Richtliniencharakter. Die eigentliche Legitimationsgrundlage muss im (unionalen oder) nationalen Recht geregelt sein. Für öffentliche Stellen der Länder ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 BDSG der Anwendungsbereich des Bayerischen Landesdatenschutzgesetzes eröffnet, vgl. auch Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayDSG. Die von Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO vorausgesetzte Rechtsgrundlage ist Art. 4 Abs. 1 BayDSG (vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch Datenschutz in Bayern, Stand: Juni 2018, BayDSG Art. 4 Rn. 3; Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, DSGVO Art. 6 Rn. 73).

Die streitgegenständlichen Maßnahmen dürften nicht gemäß Art. 4 Abs. 1 BayDSG zur Erfüllung einer der Antragsgegnerin obliegenden Aufgabe erforderlich sein. Da es sich bei Art. 4 Abs. 1 BayDSG um eine Durchführungsvorschrift handelt, richtet sich die Bestimmung der Begriffe „Aufgabe“ und „Erforderlichkeit“ nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e, Art. 23 Abs. 1 Buchst. a bis Buchst. e DSGVO (vgl. vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch Datenschutz in Bayern, Stand: Juni 2018, BayDSG Art. 4 Rn. 6). Die Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung fällt unter den Auffangtatbestand von Art. 23 Abs. 1 Buchst. e DSGVO (vgl. Bäcker in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 23 Rn. 22) als wichtiges Ziel des allgemeinen öffentlichen Interesses. Wirtschaftliche und finanzielle Interessen werden von Art. 23 Abs. 1 Buchst. e DSGVO explizit aufgeführt.

Die streitgegenständlichen Maßnahmen dürften jedoch nicht zur Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung erforderlich sein. Bei dem Kriterium der Erforderlichkeit handelt es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts (vgl. Albers/Veit in Wolff/Brink/v.Ungern-Sternberg, BeckOK Datenschutzrecht, 45. Edition, DSGVO Art. 6 Rn. 60). Die Voraussetzung der Erforderlichkeit stellt sicher, dass der Verantwortliche ein vorgegebenes Ziel nicht zum Anlass nimmt, überschießend personenbezogene Daten zu verarbeiten (vgl. Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, DSGVO Art. 6 Rn. 118, 81). Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist eine Datenverarbeitung erforderlich, wenn ohne die Verarbeitung die Erreichung des Zwecks nicht, nur unzulänglich, nicht mit angemessenem Aufwand oder nicht in angemessener Zeit erfolgen könnte. Nach Erwägungsgrund 39 zur DSGVO sollten personenbezogene Daten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. Ob Aufwand und Zeit angemessen sind, beurteilt sich nach einer Güterabwägung, in die einerseits die Schutzwürdigkeit der personenbezogenen Daten und andererseits der Verarbeitungszweck einzustellen ist (vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch in Datenschutz in Bayern, Stand Juni 2018, DSGVO Art. 6 Rn. 35).

Die streitgegenständlichen Maßnahmen dürften nicht erforderlich in diesem Sinne sein. Entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin dürften andere Verfahrensmöglichkeiten bestehen, mit denen der Zweck der Datenverarbeitung auch in zumutbarer Weise zu erreichen ist. So hat auch die Antragsgegnerin neben dem Befliegungsverfahren weitere Verfahrensmöglichkeiten zur Ermittlung der Geschossfläche in Betracht gezogen: die Grundstücksbegehung und das Selbstauskunftsverfahren.

Das Selbstauskunftsverfahren dürfte den Zweck hinlänglich, mit angemessenem Aufwand und in der angemessenen Zeit erreichen können. Es ist davon auszugehen, dass bei der letzten Beitragserhebung in 1995 über das Selbstauskunftsverfahren oder ein anderes geeignetes Verfahren ohne Befliegung und Aufzeichnung die Geschossflächenermittlung erfolgreich umgesetzt wurde. Es ist nicht ersichtlich, dass die Berechnung der Geschossfläche deutlich komplizierter wäre als die Berechnung der Wohnfläche. Der Großteil der Grundstückseigentümer dürfte bereits in der Grundsteuererklärung die Berechnung der Grundstücksfläche und ggf. der Wohnfläche vorgenommen haben und mit dem Selbstauskunftsverfahren vertraut sein. Zwar handelt es sich bei der Geschossfläche um einen anderen Wert als den der Wohnfläche, es dürfte sich jedoch bei beiden Flächen um Werte handeln, die ggf. durch händisches Messen der Bebauung unter Berücksichtigung des normativen Rahmens zu ermitteln sind. Die im Internet frei verfügbaren Berechnungshilfen für die Wohnfläche einerseits und die Geschossfläche andererseits dürften mit Blick auf ihre Anforderungen und die Komplexität des Vorhabens vergleichbar sein. Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb bei der Ermittlung der Geschossfläche im Selbstauskunftsverfahren mit erheblichen Unrichtigkeiten und eventuell auch falschen Angaben gerechnet werden müsste. Bei Ermittlung der für die Herstellungsbeiträge erforderlichen Geschossfläche dürfte wie bei Ermittlung der für die Grundsteuer erforderlichen Wohnfläche (und anderen Angaben) davon auszugehen sein, dass die Beitragspflichtigen wie auch die Steuerpflichtigen wahrheitsgemäße Angaben machen, wovon die Antragsgegnerin grundsätzlich ausgehen können dürfte. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragsgegnerin bei Ermittlung der Werte im Selbstauskunftsverfahren in erheblichem Umfang mit bewussten oder unbewussten Falschangaben rechnen müsste. Die Antragsgegnerin hat in diesem Zusammenhang lediglich Vermutungen geäußert, ohne diese durch weiteren Vortrag plausibel zu belegen. Ob bspw. bei der letzten Erhebung des Beitrags und der dabei erfolgenden Geschossflächenermittlung Falschauskünfte zu verzeichnen waren, wurde nicht vorgetragen.

Das Selbstauskunftsverfahren dürfte auch mit angemessenem Aufwand und in der angemessenen Zeit durchführbar sein. Dies indiziert bereits ein der Antragsgegnerin vorliegendes Angebot einer anderen Kommunalberatung zur Kalkulation der Beiträge und Gebühren vom 23. Mai 2023, die ebenfalls mit einem (anderen) Ingenieurdienstleister zur Datenerhebung kooperiert. Nach dem Angebot dieses Ingenieurdienstleisters vom 19. Mai 2023 wurde zur Ermittlung der beitrags- und gebührenrelevanten Flächen vorgeschlagen, entweder auf die kostenpflichtig zu erwerbenden Bilder des Landesvermessungsamts zurückzugreifen und eine (lediglich ergänzende) Selbstauskunft durchzuführen („Alternative 1“) oder auf Grundlage des Amtlichen Liegenschaftskatasters ein reines Selbstauskunftsverfahren („Alternative 2“) durchzuführen. Für das als „Alternative 1“ bezeichnete Verfahren wurde wegen des geringen Baumbestands in der Gemarkung der Antragsgegnerin entgegen der üblichen Vorgehensweise vorgeschlagen, die Luftbilder des Landesvermessungsamtes zu erwerben. Auf dieser Grundlage würden die beitrags- und gebührenrelevanten Flächen ermittelt. Dadurch könnte direkt nach Erwerb der Luftbilder und damit deutlich schneller mit der Datenauswertung begonnen werden. Auch die Vorgehensweise in einem reinen Selbstauskunftsverfahren könnte in angemessener Zeit durchgeführt werden. Um die Rückgabe der Selbstauskunftsformulare zu beschleunigen, stünden der Antragsgegnerin verschiedene Möglichkeiten offen. Sie könnte Fristen setzen, Mahnungen aussprechen, Verspätungszuschläge erheben oder bei Einreichung innerhalb einer genannten Frist eine Reduzierung des Guthabens in Aussicht stellen. Auch der finanzielle Aufwand dürfte sowohl bei dem Rückgriff auf die Bilder des Landesvermessungsamtes als auch bei einem reinen Selbstauskunftsverfahren für die Antragsgegnerin und die Beitragspflichtigen nicht höher, sondern vielmehr niedriger sein.

Gegen die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung durch die streitgegenständlichen Maßnahmen spricht auch der Grundsatz der Speicherbegrenzung. Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. e DSGVO müssen personenbezogene Daten in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der Betroffenen Personen nur solange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für welche diese verarbeitet werden, erforderlich ist. Aus dem Grundsatz der Speicherbegrenzung folgt das Verbot der Datenerhebung und Datenspeicherung auf Vorrat (vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch Datenschutz in Bayern, Stand April 2023, DSGVO Art. 6 Rn. 36). Ist bei der Erhebung nicht absehbar, zu welchem Zweck sie irgendwann einmal benutzt werden könnten, handelt es sich um Datenerhebung und Speicherung auf Vorrat. Sofern die Antragsgegnerin mit der Datenerhebung weitere, zusätzliche Zwecke verfolgt wie die Ermittlung von Gebäudehöhen, Firsthöhen und Dachneigungen, rechtfertigen diese Zwecke die konkrete Datenerhebung und -speicherung nicht.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

EuGH: Zur Bekämpfung schwerer Kriminalität auf Vorrat gesammelte Daten dürfen nicht für andere sachfremde Untersuchungen zur Korruptionsbekämpfung verwendet werden

EuGH
Urteil vom 07.09.2023
C-162/22
Lietuvos Respublikos generalinė prokuratūra


Der EuGH hat entschieden, dass zur Bekämpfung schwerer Kriminalität auf Vorrat gesammelte Daten nicht für andere sachfremde Untersuchungen zur Korruptionsbekämpfung verwendet werden dürfen.

Tenor der Entscheidung:
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass personenbezogene Daten elektronischer Kommunikationsvorgänge, die in Anwendung einer aufgrund dieser Bestimmung erlassenen Rechtsvorschrift von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeichert und in der Folge in Anwendung dieser Rechtsvorschrift den zuständigen Behörden zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zur Verfügung gestellt wurden, im Rahmen von Untersuchungen wegen Dienstvergehen im Zusammenhang mit Korruption genutzt werden dürfen.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation lässt es nicht zu, dass Daten, die zur Bekämpfung schwerer Kriminalität gesammelt wurden, im Rahmen von Verwaltungsuntersuchungen wegen Korruption im öffentlichen Sektor genutzt werden

Die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation betrifft nämlich nur die strafrechtliche Verfolgung.

Ein litauischer Staatsanwalt wurde von der litauischen Generalstaatsanwaltschaft seines Amtes enthoben. Diese Disziplinarstrafe wurde gegen ihn verhängt, weil er im Rahmen von Ermittlungen einem Verdächtigen und seinem Anwalt rechtswidrig Informationen gegeben haben soll. Er wendet sich vor den litauischen Gerichten gegen diese Entscheidung.

Das ihm zur Last gelegte Dienstvergehen wurde mittels Daten nachgewiesen, die von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeichert worden waren. Er macht geltend, die Nutzung von Daten, die es ermöglichten, die Quelle und den Adressaten eines Telefongesprächs zu identifizieren, das vom Festnetz- oder Mobiltelefon eines Verdächtigen aus geführt worden sei, in Verfahren wegen Dienstvergehen stelle einen ungerechtfertigten Eingriff in die im Unionsrecht verankerten Grundrechte dar.

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den in der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation1 vorgesehenen Voraussetzungen für den Zugang zu Daten über elektronische Kommunikationen kann die Bekämpfung schwerer Kriminalität Eingriffe in die in den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundrechte rechtfertigen. In dieser Rechtssache möchte das als Rechtsmittelgericht tätige Oberste Verwaltungsgericht von Litauen im Wesentlichen wissen, ob die Nutzung personenbezogener Daten elektronischer Kommunikationsvorgänge, die von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeichert und in der Folge den zuständigen Behörden zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zur Verfügung gestellt wurden, im Rahmen einer Untersuchung wegen Dienstvergehen im Zusammenhang mit Korruption mit dieser Richtlinie vereinbar ist.

In seinem heutigen Urteil entscheidet der Gerichtshof, dass die Richtlinie der Nutzung personenbezogener Daten elektronischer Kommunikationsvorgänge, die von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste auf Vorrat gespeichert und in der Folge den zuständigen Behörden zur Bekämpfung schwerer Kriminalität zur Verfügung gestellt wurden, im Rahmen von Untersuchungen wegen Dienstvergehen im Zusammenhang mit Korruption im öffentlichen Sektor entgegensteht.

Der Gerichtshof führt hierzu aus, dass Rechtsvorschriften zur Bekämpfung schwerer Kriminalität

- auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen dürfen
- für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen dürfen,
- eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen dürfen und
- vorsehen dürfen, dass den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufgegeben werden kann, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.

Der Gerichtshof weist ferner darauf hin, dass im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nur die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit geeignet sind, die mit der Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten verbundenen schweren Eingriffe in die Grundrechte zu rechtfertigen. Gestützt auf seine Rechtsprechung zu den dem Gemeinwohl dienenden Zielen, die eine Beschränkung der Rechte rechtfertigen können, fügt er hinzu, dass die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit zwar von geringerer Bedeutung als der Schutz der nationalen Sicherheit sind, dass ihre Bedeutung aber die der Bekämpfung von Straftaten im Allgemeinen übersteigt.

Verkehrs- und Standortdaten, die von Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste in Anwendung einer nach Art. 15 Abs. 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation zur Bekämpfung schwerer Kriminalität erlassenen Rechtsvorschrift auf Vorrat gespeichert und den zuständigen Behörden zu diesem Zweck zur Verfügung gestellt wurden, dürfen anschließend nicht an andere Behörden übermittelt und zur Bekämpfung von Dienstvergehen im Zusammenhang mit Korruption, die von geringerer Bedeutung ist als die Bekämpfung schwerer Kriminalität, genutzt werden.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BVerwG: Anlasslose Vorratsdatenspeicherung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 176 TKG unionsrechtswidrig und nicht anzuwenden - Telekommunikationsanbieter sind nicht zur Speicherung verpflichtet

BVerwG
Urteil vom 14.08.2023 - 6 C 6.22
Urteil vom 14.08.2023 - 7 C 6.22


Das BVerwG hat in Umsetzung der EuGH-Rechtsprechung (siehe dazu EuGH: Allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten unionsrechtswidrig - nur bei ernster Bedrohung für nationale Sicherheit zulässig) entschieden, dass die anlasslose Vorratsdatenspeicherung nach § 175 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 176 TKG unionsrechtswidrig ist und die Vorschriften nicht anzuwenden sind. Somit sind Telekommunikationsanbieter nicht zur Speicherung verpflichtet.

Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts:
Gesetzliche Verpflichtung der Telekommunikationsanbieter zur Vorratsspeicherung von Telekommunikations-Verkehrsdaten unionsrechtswidrig

Die in § 175 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 176 TKG (§ 113a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 113b TKG a.F.) geregelte Verpflichtung der Anbieter öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste zur Speicherung der dort genannten Telekommunikations-Verkehrsdaten ist in vollem Umfang unvereinbar mit Art. 15 Abs. 1 der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation (Richtlinie 2002/58/EG) und daher nicht anwendbar. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig in zwei Verfahren entschieden.

Die Klägerinnen, zwei Telekommunikationsunternehmen, wenden sich gegen die ihnen zuerst durch § 113a Abs. 1 i.V.m. § 113b TKG in der Fassung des Gesetzes vom 10. Dezember 2015 auferlegte und nunmehr inhaltlich weitestgehend unverändert in § 175 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 176 TKG geregelte Verpflichtung, Telekommunikationsverkehrsdaten ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern. Die für eine Dauer von zehn Wochen zu speichernden Daten umfassen u.a. die Rufnummern der beteiligten Anschlüsse, Beginn und Ende der Verbindung oder der Internetnutzung bzw. die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs einer Kurznachricht, zugewiesene Internetprotokoll-Adressen und Benutzerkennungen sowie Kennungen der Anschlüsse und Endgeräte. Für eine Dauer von vier Wochen zu speichern sind zudem Standortdaten, d.h. im Wesentlichen die Bezeichnung der bei Beginn der Verbindung genutzten Funkzelle.

Das Verwaltungsgericht Köln hatte auf die Klagen festgestellt, dass die Klägerinnen nicht verpflichtet sind, die im Gesetz genannten Telekommunikations-Verkehrsdaten ihrer Kunden, denen sie den Internetzugang bzw. den Zugang zu öffentlichen Telefondiensten vermitteln, zu speichern. Die Speicherpflicht verstoße gegen Unionsrecht und sei daher in den Fällen der Klägerinnen unanwendbar. Die grundsätzlichen Rechtsfragen des im vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen Unionsrechts seien durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) geklärt. Auf die Sprungrevision der Beklagten, vertreten durch die Bundesnetzagentur, hatte das Bundesverwaltungsgericht die Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des EuGH gemäß Art. 267 AEUV eingeholt (BVerwG, Beschlüsse vom 25. September 2019 - 6 C 12.18 und 6 C 13.18, vgl. Pressemitteilung 66/2019 vom 25. September 2019).

Nachdem der EuGH die Vorlagefragen mit Urteil vom 20. September 2022 (verbundene Rechtssachen C-793/19 und C-794/19, Space Net u.a.), berichtigt durch Beschluss vom 27. Oktober 2022, beantwortet hatte, hat das Bundesverwaltungsgericht die Revisionen der Beklagten zurückgewiesen. Dabei hat es die auf § 113a Abs. 1 i.V.m. § 113b TKG a.F. bezogenen Feststellungsaussprüche des Verwaltungsgerichts an die nunmehr geltenden Vorschriften in § 175 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 176 TKG angepasst.

Unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH ist das Bundesverwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangt, dass die Regelung im Telekommunikationsgesetz eine anlasslose, flächendeckende und personell, zeitlich und geografisch undifferenzierte Vorratsspeicherung eines Großteils der Verkehrs- und Standortdaten vorschreibt. Diese genügt schon deshalb nicht den unionsrechtlichen Anforderungen, weil keine objektiven Kriterien bestimmt werden, die einen Zusammenhang zwischen den zu speichernden Daten und dem verfolgten Ziel herstellen. Da die Vorratsspeicherung der genannten Daten und der Zugang zu ihnen unterschiedliche Eingriffe in die betroffenen Grundrechte darstellen, die eine gesonderte Rechtfertigung erfordern, ist die Begrenzung der Verwendungszwecke in § 177 Abs. 1 TKG (§ 113 c Abs. 1 TKG a.F.) von vornherein nicht geeignet, die unionsrechtliche Anforderung klarer und präziser Regeln für die vorgelagerte Maßnahme der Speicherung der Daten zu erfüllen.

Soweit die gesetzliche Regelung die Erbringung von Telefondiensten und in diesem Zusammenhang insbesondere die Daten betrifft, die erforderlich sind, um die Quelle und den Adressaten einer Nachricht, Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung oder - im Fall der Übermittlung von Kurz-, Multimedia- oder ähnlichen Nachrichten - die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht sowie, im Fall der mobilen Nutzung, die Bezeichnung der Funkzellen, die vom Anrufer und vom Angerufenen bei Beginn der Verbindung genutzt wurden, zu identifizieren, fehlt es außerdem an der vom EuGH geforderten strikten Begrenzung der allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten auf den Zweck des Schutzes der nationalen Sicherheit.

Soweit sich die Pflicht zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung auf die Bereitstellung von Internetzugangsdiensten und in diesem Rahmen u.a. auf die dem Teilnehmer zugewiesene IP-Adresse bezieht, umfassen die unionsrechtlich zulässigen Zwecke nach der Entscheidung des EuGH zwar auch die Bekämpfung schwerer Kriminalität und die Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit. Eine entsprechende Beschränkung der Speicherungszwecke sieht die Regelung im Telekommunikationsgesetz jedoch nicht vor. Die für die Ermittlung der Speicherzwecke maßgebliche Regelung der Verwendungszwecke im Rahmen einer Bestandsdatenauskunft geht deutlich über den unionsrechtlichen Rahmen hinaus. Dies gilt nicht nur für die frühere Rechtslage nach § 113 c Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 113 Abs. 1 Satz 3 TKG a.F., sondern auch für die nunmehr geltende Regelung in § 177 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 174 Abs. 1 Satz 3 TKG, die die Vorgaben aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigen soll.

Da eine unionsrechtskonforme Auslegung wegen des vom EuGH hervorgehobenen Grundsatzes der Bestimmtheit und Normenklarheit nicht in Betracht kommt, darf die Regelung im Telekommunikationsgesetz wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht angewendet werden.

BVerwG 6 C 6.22 - Urteil vom 14. August 2023
Vorinstanz:
VG Köln, VG 9 K 3859/16 - Urteil vom 20. April 2018 -

BVerwG 6 C 7.22 - Urteil vom 14. August 2023
Vorinstanz:
VG Köln, VG 9 K 7417/17 - Urteil vom 20. April 2018 -

Volltext BGH liegt vor: Anspruch auf Löschung von Inhalten aus dem Google-Suchindex nach Art. 17 DSGVO bei Nachweis der offensichtlichen Unrichtigkeit

BGH
Urteil vom 23.05.2023
VI ZR 476/18
DSGVO Art. 17


Wir hatten bereits in dem Beitrag BGH: Anspruch auf Löschung von Inhalten aus dem Google-Suchindex nach Art. 17 DSGVO bei Nachweis der offensichtlichen Unrichtigkeit über die Entscheidung berichtet.

Leitsätze des BGH:
a) Begehrt ein Betroffener von dem Betreiber einer Internet-Suchmaschine wegen der (behaupteten) Unrichtigkeit eines gelisteten Inhalts dessen Auslistung, obliegt ihm grundsätzlich der Nachweis, dass die in diesem Inhalt enthaltenen Informationen offensichtlich unrichtig sind oder dass zumindest ein für diesen gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil dieser Informationen offensichtlich unrichtig ist. Dabei hat der Betroffene die Nachweise beizubringen, die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls von ihm vernünftigerweise verlangt werden können, um diese offensichtliche Unrichtigkeit festzustellen. Der Betroffene ist insoweit nicht verpflichtet, bereits im Vorfeld seines Auslistungsantrags eine gerichtliche Entscheidung gegen den Inhalteanbieter zu erwirken.

b) Vom Betreiber einer Internet-Suchmaschine angezeigte Vorschaubilder einer natürlichen Person sind immer dann zu löschen, wenn dem Auslistungsantrag hinsichtlich des ursprünglichen Kontextes der gelisteten Bilder stattzugeben ist. Im Übrigen ist die Rechtmäßigkeit der Anzeige von Bildern durch die Bildersuche einer Suchmaschine eigenständig zu beurteilen. Dem Informationswert der Fotos ist dann unabhängig vom Kontext ihrer Veröffentlichung auf der Internetseite, der sie entnommen sind, aber unter Berücksichtigung jedes Textelements, das mit der Anzeige dieser Fotos in den Suchergebnissen unmittelbar einhergeht und Aufschluss über den Informationswert dieser Fotos geben kann, Rechnung zu tragen.

BGH, Urteil vom 23. Mai 2023 - VI ZR 476/18 - OLG Köln - LG Köln

BGH: Anspruch auf Löschung von Inhalten aus dem Google-Suchindex nach Art. 17 DSGVO bei Nachweis der offensichtlichen Unrichtigkeit

BGH
Urteil vom 23.05.2023
VI ZR 476/18


Der BGH hat in Umsetzung des Urteils des EuGH (siehe dazu EuGH: Suchmaschinenbetreiber Google muss offensichtlich unrichtige Inhalte nach Art. 17 DSGVO aus Suchindex entfernen - keine gerichtliche Entscheidung gegen Websitebetreiber erforderlich) entschieden, dass ein Anspruch des Betroffenen auf Löschung von Inhalten aus dem Google-Suchindex gemäß Art. 17 DGSVO bei Nachweis der offensichtlichen Unrichtigkeit besteht.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Bundesgerichtshof entscheidet über Auslistungsbegehren gegen den Internet-Suchdienst von Google

Sachverhalt:

Der Kläger ist für verschiedene Gesellschaften, die Finanzdienstleistungen anbieten, in verantwortlicher Position tätig oder an ihnen beteiligt. Die Klägerin war seine Lebensgefährtin und Prokuristin einer dieser Gesellschaften. Auf der Webseite eines US-amerikanischen Unternehmens, dessen Ziel es nach eigenen Angaben ist, "durch aktive Aufklärung und Transparenz nachhaltig zur Betrugsprävention in Wirtschaft und Gesellschaft beizutragen", erschienen im Jahr 2015 mehrere Artikel, die sich kritisch mit dem Anlagemodell einzelner dieser Gesellschaften auseinandersetzten. Einer dieser Artikel war mit Fotos der Kläger bebildert. Über das Geschäftsmodell der Betreiberin der Webseite wurde seinerseits kritisch berichtet, u.a. mit dem Vorwurf, sie versuche, Unternehmen zu erpressen, indem sie zunächst negative Berichte veröffentliche und danach anbiete, gegen ein sog. Schutzgeld die Berichte zu löschen bzw. die negative Berichterstattung zu verhindern. Die Kläger machen geltend, ebenfalls erpresst worden zu sein. Sie begehren von der Beklagten als der Verantwortlichen für die Internetsuchmaschine "Google", es zu unterlassen, die genannten Artikel bei der Suche nach ihren Namen und den Namen verschiedener Gesellschaften in der Ergebnisliste nachzuweisen und die Fotos von ihnen als Vorschaubilder ("thumbnails") anzuzeigen. Die Beklagte hat erklärt, die Wahrheit der in den verlinkten Inhalten aufgestellten Behauptungen nicht beurteilen zu können.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Kläger blieb ohne Erfolg. Der Bundesgerichtshof hat das Verfahren mit Beschluss vom 27. Juli 2020 zunächst ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union zwei Fragen zur Auslegung von Art. 17 Abs. 1 DS-GVO zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat diese Fragen mit Urteil vom 8. Dezember 2022 (C-460/20, NJW 2023, 747 = AfP 2023, 42) beantwortet. Die Auslistung hänge nicht davon ab, dass die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines von dieser Person gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist. Der Betreiber der Suchmaschine sei verpflichtet, einem Auslistungsantrag stattzugeben, wenn die eine Auslistung begehrende Person relevante und hinreichende Nachweise vorlege, die ihren Antrag zu stützen vermögen und belegen, dass die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Informationen offensichtlich unrichtig seien oder zumindest ein für diesen gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil dieser Informationen offensichtlich unrichtig sei. Hinsichtlich der Vorschaubilder sei dem Informationswert dieser Fotos - unabhängig vom Kontext ihrer Veröffentlichung auf der Internetseite, der sie entnommen sind, aber unter Berücksichtigung jedes Textelements, das mit der Anzeige dieser Fotos in den Suchergebnissen unmittelbar einhergeht und Aufschluss über den Informationswert dieser Fotos geben kann - Rechnung zu tragen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof hat daraufhin die mündliche Verhandlung fortgesetzt. Die Revision war teilweise erfolgreich.

Bezüglich der beanstandeten Verweise auf die genannten Artikel hat der Bundesgerichtshof die klagabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt. Bei einem Artikel fehlte es bereits an dem notwendigen Bezug zu der Person des Klägers. Hinsichtlich der beiden anderen Artikel haben es die Kläger versäumt, gegenüber der Beklagten den ihnen obliegenden Nachweis zu führen, dass die dort enthaltenen Informationen offensichtlich unrichtig sind.

Bezüglich der Vorschaubilder hatte die Revision der Kläger hingegen Erfolg und der Bundesgerichtshof hat die Beklagte zur Auslistung der Vorschaubilder in der beanstandeten Form verpflichtet. Eine Anzeige der für sich genommen nicht aussagekräftigen Fotos der Kläger als Vorschaubilder ohne jeden Kontext war nicht gerechtfertigt.

Vorinstanzen:

Oberlandesgericht Köln – Urteil vom 8. November 2018 – 15 U 178/17

Landgericht Köln – Urteil vom 22. November 2017 – 28 O 492/15

Die maßgebliche Vorschrift der Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) lautet:

Art. 17 Recht auf Löschung ("Recht auf Vergessenwerden")

(1) Die betroffene Person hat das Recht, von dem Verantwortlichen zu verlangen, dass sie betreffende personenbezogene Daten unverzüglich gelöscht werden, und der Verantwortliche ist verpflichtet, personenbezogene Daten unverzüglich zu löschen, sofern einer der folgenden Gründe zutrifft:

a) Die personenbezogenen Daten sind für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig. (…)

c) Die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 1 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein und es liegen keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vor, oder die betroffene Person legt gemäß Artikel 21 Absatz 2 Widerspruch gegen die Verarbeitung ein.

d) Die personenbezogenen Daten wurden unrechtmäßig verarbeitet. (…)

(3) Die Absätze 1 und 2 gelten nicht, soweit die Verarbeitung erforderlich ist

a) zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information (…)



Volltext OLG Frankfurt: Kein Anspruch gegen Google auf Unterlassung der Verknüpfung eines Unternehmers mit Wort "bankrott" über die Autocomplete-Funktion

OLG Frankfurt
Urteil vom 20.04.2023
16 U 10/22


Wir hatten bereits in dem Beitrag OLG Frankfurt: Kein Anspruch gegen Google auf Unterlassung der Verknüpfung des Namens eines Unternehmers mit dem Wort "bankrott" über die Autocomplete-Funktion über die Entscheidung berichtet.

Aus den Entscheidungsgründen:
II. Soweit das Landgericht die Klage abgewiesen hat, geschah dies zu Recht.

1. Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch zu, es zu unterlassen, bei einer Suche nach dem Vor- und Zunamen des Klägers in der Suchmaschine der Beklagten das aus der Anlage K3 ersichtliche Suchergebnis aufzuzeigen und dabei auf die Webseite mit der URL www.(...).de zu verlinken (Klageantrag zu 1.).

a) Der geltend gemachte Anspruch auf Auslistung ergibt sich insbesondere nicht aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO.
aa) Der auf die dauerhafte Auslistung der von dem Kläger beanstandeten Suchergebnisse gerichtete Anspruch kann sich grundsätzlich aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO ergeben.
Die Datenschutz-Grundverordnung ist vorliegend zeitlich (1), sachlich (2) und räumlich (3) anwendbar.
(1) Sie gilt seit dem 25.05.2018 (Art. 99 Abs. 2 DS-GVO) unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Union.
(2) Die Tätigkeit einer Suchmaschine, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte und dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, fällt, sofern die Informationen - wie hier - personenbezogene Daten enthalten, in den sachlichen Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung (Art. 2 Abs. 1 DSGVO). Sie ist als automatisierte „Verarbeitung personenbezogener Daten“ im Sinne von Art. 4 Nr. 1 und 2 DSGVO einzustufen.
Ob die hiesige Beklagte datenschutzrechtlich für die streitbefangene Auslistung zumindest mitverantwortlich ist, da sie im Sinne des Art. 26 DSGVO mit der Y LLC jedenfalls eine gemeinsame Verantwortung für die Verarbeitung von Daten trägt, kann vorliegend im Ergebnis offenbleiben, da jedenfalls in der Sache kein Anspruch gegen die Beklagte besteht (s.u.).

Verantwortlicher im Sinne der DSGVO und damit passivlegitimiert für einen Anspruch nach Art. 17 DSGVO ist gemäß der Legaldefinition des Art. 4 Nr. 7 DSGVO die natürliche oder juristische Person, Behörde, Einrichtung oder andere Stelle, die allein oder gemeinsam mit anderen über die Zwecke und Mittel der Verarbeitung von personenbezogenen Daten entscheidet. Nach der Rechtsprechung des BGH wurde die Y LLC mit Sitz in den USA als Betreiberin der Suchmaschine als Verantwortliche i.S.v. Art. 4 Nr. 7 DSGVO angesehen (BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 13). Für eine daneben bestehende Mitverantwortung der Beklagten gem. Art. 26 DSGVO könnte sprechen, dass sie in ihrer Datenschutzerklärung zum Y Suchdienst für Nutzerdaten als zumindest auch Verantwortliche genannt wird. Dies muss jedoch aufgrund des in der Sache nicht bestehenden Anspruchs (s.u.) vorliegend nicht entschieden werden.

Die streitgegenständliche Tätigkeit der Beklagten unterfällt auch nicht der Öffnungsklausel des Art. 85 DSGVO i.V.m. Art. 12 Abs. 1 S. 4 MSTV. Die automatisierte bloße Auflistung von redaktionellen Beiträgen stellt keine eigene journalistisch-redaktionelle Gestaltung dar (so auch BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 14).

(3) Der räumliche Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung auf die in Irland ansässige Beklagte folgt bereits aus Art. 3 Abs. 1 DSGVO. Die Beklagte betreibt eine deutsche Niederlassung und bietet in deutscher Sprache Nutzern in Deutschland die Möglichkeit an, über ihren Suchdienst gezielt nach im Internet vorhandenen Informationen zu suchen und auf sie zuzugreifen, wobei die Nutzer letztlich als "Bezahlung" ihre Daten zur Verfügung stellen, um das Leistungsangebot nutzen zu können (zum Vorstehenden im Ganzen vgl. BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 13 m.w.N.).

bb) Das auf dauerhafte Auslistung des von ihm beanstandeten Suchergebnisses gerichtete Rechtsschutzbegehren des Klägers ist grundsätzlich von Art. 17 Abs. 1 DSGVO erfasst. Der Begriff der Löschung i.S.d. Art. 17 DSGVO ist autonom auszulegen, so dass ihm unabhängig von der technischen Umsetzung auch das Auslistungsrecht der von einer Suchmaschine betroffenen Person unterfällt (so auch BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 17 m.w.N.).

cc) Der Kläger muss sich auch nicht darauf verweisen lassen, vorrangig die für die von der Beklagten verlinkten Artikel verantwortlichen Inhalteanbieter in Anspruch zu nehmen. Die Haftung des Suchmaschinenbetreibers bzw. Verantwortlichen eines Internet-Suchdienstes ist nach der Rechtsprechung des BGH nicht subsidiär, da ein wirksamer und umfassender Schutz der betroffenen Person nicht erreicht werden kann, wenn diese grundsätzlich vorher oder parallel bei den Inhalteanbietern die Löschung der sie betreffenden Informationen erwirken müsste. Die Tätigkeit eines Suchmaschinenbetreibers ist ein für sich stehender Akt der Datenverarbeitung, der folglich auch hinsichtlich der damit einhergehenden Grundrechtsbeschränkungen eigenständig zu beurteilen ist (so auch BGH, NJW 2020 3436, Rn. 18 m.w.N.).

Wie das Landgericht zutreffend hervorgehoben hat, ist der hiesige Fall schon nicht mit der Konstellation vergleichbar, die den BGH in der Sache VI ZR 476/18 (MMR 2021, 239) zur Vorlage der dortigen ersten Frage an den EuGH veranlasst hat. Dies gilt hier insbesondere deshalb, weil der zugrundeliegende Sachverhalt im Kern unstreitig ist und die Frage der Wahrheitsgemäßheit der streitgegenständlichen Tatsachenbehauptungen bzw. auf Tatsachenbehauptungen beruhenden Werturteile ohne weitere Ermittlungen/Aufklärungen beurteilt werden kann. Auch hat der EuGH in seinem Urteil vom 08.12.2022 entschieden, dass ein Anspruch auf Auslistung nicht davon abhängt, dass die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines von dem Kläger gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist (vgl. EuGH, MMR 2023, 105).

dd) Auch hat der Kläger die Beklagte, die ohne vorherige Beanstandung durch einen Betroffenen zu einer proaktiven Prüfung des Inhalts der von ihrer Suchmaschine generierten Nachweise nicht verpflichtet ist, bereits vor Klageerhebung mit dem Schreiben vom 02.02.2021 (Anlage K6, Bl. 25 ff. d.A.) in formeller Hinsicht hinreichend deutlich auf die aus seiner Sicht vorliegende Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung hingewiesen und die Beklagte insoweit zur Auslistung aufgefordert (sog. Notice and Take Down Schreiben). In dem Schreiben vom 02.02.2021 wird der konkret beanstandete Ergebnislink genannt und es erfolgt eine Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts und der rechtlichen Erwägungen.

ee) Anders als der Kläger meint, liegen die materiellen Voraussetzungen für sein Auslistungsbegehren nicht vor.

Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte auf Auslistung der streitgegenständlichen Ergebnislinks aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO, weil die von der Beklagten vorgenommene Datenverarbeitung auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Streitfalls zur Ausübung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Information erforderlich ist (Art. 17 Abs. 3 a i.V.m. Art. 6 Abs. 1 f, Art. 21 Abs. 1 S. 2 DSGVO).

Einschlägige Grundlage des klägerischen Auslistungsbegehrens ist Art. 17 Abs. 1 DSGVO. Danach steht - soweit im Streitfall relevant - der betroffenen Person der Anspruch zu, wenn die personenbezogenen Daten für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig sind (Art. 17 Abs. 1 a DSGVO) oder die betroffene Person Widerspruch gegen die Verarbeitung ihrer Daten eingelegt hat und keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vorliegen (Art. 17 Abs. 1 c DSGVO) oder die personenbezogenen Daten unrechtmäßig verarbeitet wurden (Art. 17 Abs. 1 d DSGVO).

(1) Das Recht auf Schutz personenbezogener Daten ist unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abzuwägen. Diesbezüglich hat der BGH in seinem Urteil vom 27.07.2020 - VI ZR 405/18 (NJW 2020, 3436, Rn. 23 ff.) ausgeführt, dass die Abwägung der allein maßgeblichen Unionsgrundrechte auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalls und unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte des betroffenen Klägers (Art. 7, 8 GRCh) einerseits, der Grundrechte der beklagten Suchmaschinenverantworlichen (Art. 16 GRCh), der Zugangsinteressen der Internetnutzer, des Interesses der breiten Öffentlichkeit am Zugang zu Informationen als Ausdruck des Art 11 GRCh sowie der Grundrechte der Inhalteanbieter (Art. 11 CRCh) andererseits umfassend vorzunehmen ist. Insoweit hat er betont, dass eine einheitliche Gesamtabwägung der widerstreitenden Grundrechte, die alle nach den Umständen des Streitfalls aufgeworfenen Einzelaspekte berücksichtigt, durchzuführen ist und im Hinblick auf diese in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht gebotene umfassende Prüfung die Abwägung jeweils zu demselben Ergebnis führen muss, unabhängig davon, ob der Abwägungsvorgang seinen Ausgangspunkt in der Frage nimmt, ob die Verarbeitung der Daten allgemein zur Wahrung der berechtigten Interessen der Beklagten oder eines Dritten erforderlich war (Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO), ob die Verarbeitung der (Gesundheits-)Daten aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich war (Art. 9 Abs. 2 g) DSGVO) oder ob die Beklagte zwingende schutzwürdige Gründe für die Verarbeitung nachweisen kann, die die Interessen, Rechte und Freiheiten des Klägers als der betroffenen Person überwiegen.

(2) Unter Zugrundelegung der vom Bundesgerichtshof in der vorgenannten Entscheidung aufgestellten Grundsätze, die der Senat im vorliegenden Fall für anwendbar hält, haben die hier betroffenen Grundrechte des Klägers aus Art 7, 8 und 16 GRCh hinter dem Grundrecht der Beklagten aus Art. 16 GRCh und den in deren Waagschale zu legenden Interessen ihrer Nutzer, dem Interesse einer breiten Öffentlichkeit am Zugang zu Information als Ausdruck des in Art. 11 GRCh verbürgten Rechts auf freie Information und dem Grundrecht des für den verlinkten Artikel verantwortlichen Inhalteanbieters auf Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCh) zurückzutreten:

(a) Ein wichtiger, in die Abwägung einzustellender Gesichtspunkt ist insoweit, dass die verlinkte, in der Anlage K2 (Bl. 17 d.A.) ersichtliche Berichterstattung entgegen der Ansicht des Klägers zulässig ist.
(aa) Anders als der Kläger meint, ist die Äußerung „X1 bankrott“ keine unzulässige Tatsachenbehauptung, sondern eine zulässige Meinungsäußerung.
Bei der Frage, ob eine Äußerung ihrem Schwerpunkt nach als Tatsachenbehauptung oder als Meinungsäußerung anzusehen ist, kommt es entscheidend auf den Gesamtkontext der fraglichen Äußerung an (vgl. BVerfG, AfP 2013, 389, Rn. 18). Von einer Tatsachenbehauptung ist auszugehen, wenn der Gehalt der Äußerung entsprechend dem Verständnis des Durchschnittsempfängers der objektiven Klärung zugänglich ist und als etwas Geschehenes grundsätzlich dem Beweis offensteht. Soweit eine Tatsachenbehauptung mit einem Werturteil verbunden ist bzw. beides ineinander übergeht, ist darauf abzustellen, was im Vordergrund steht und damit überwiegt. Wird eine Äußerung in entscheidender Weise durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens geprägt oder ist der tatsächliche Gehalt der Äußerung so substanzarm, dass er gegenüber dem Wertungscharakter in den Hintergrund tritt, liegt eine Meinungsäußerung vor. Vom Überwiegen des tatsächlichen Charakters ist auszugehen, wenn die Wertung sich als zusammenfassender Ausdruck von Tatsachenbehauptungen darstellt (vgl. Wenzel/Burkhardt, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, 6. Aufl. 2018., Kap. 4, Rn. 43, 50 ff.).

Hierbei sind Äußerungen entsprechend dem Verständnis des unbefangenen Durchschnittsempfängers zu interpretieren (Wenzel/Burkhardt, a.a.O., Kap. 4, Rn. 4; Soehring/Hoene, Presserecht, 6. Aufl. 2019, § 14, Rn. 14.16; jew. m.w.N.). Maßgeblich für die Ermittlung des Aussagegehalts ist grundsätzlich nicht der Sinn, den der Äußernde der Äußerung beilegen wollte, sondern der in der Aussage objektivierte Sinngehalt, der durch Auslegung zu ermitteln ist (BVerfGE 82, 43, 51 ff.; BVerfG, NJW 2005, 1341 - vollzugsfeindlich; BGH, NJW 1982, 1805 - Schwarzer Filz; Löffler/Steffen, PresseR, 6. Aufl. 2015, § 6, Rn. 90 m.w.N.), wobei auf das Verständnis des Empfängers abzustellen ist, an den sich die Äußerung unter Berücksichtigung der für ihn wahrnehmbaren, den Sinn der Äußerung mitbestimmenden Umstände richtet (BVerfGE 93, 266, 295 - Soldaten sind Mörder II; BVerfG NJW 2003, 1303 - Benetton-Werbung; Löffler/Steffen, a.a.O., § 6, Rn. 90). Maßgeblich hierfür ist der Durchschnittsleser (Löffler/Steffen, a.a.O., § 6, Rn. 90 m.w.N.).

Nach diesen Grundsätzen ist die angegriffene Aussage als Meinungsäußerung zu qualifizieren. Anders als der Kläger meint, wird der Durchschnittrezipient die Äußerung „X1 bankrott“ unter Berücksichtigung der Gesamtumstände nicht auf den Kläger persönlich beziehen, sondern auf ein Unternehmen, für welches der Kläger Namensgeber war. Aus dem Gesamtkontext der Äußerung geht klar hervor, dass die Äußerung sich auf ein Unternehmen (bzw. umgangssprachlich eine „Firma“ bezieht), nämlich ein solches, das auf dem Gebiet des Innenausbaus von Luxushotels tätig ist und gegen welches das Inkassounternehmen ein Mandat wegen unbezahlter Handwerkerrechnungen hat und im Rahmen der Forderungseintreibung feststellen musste, dass dieses „bankrott“ ist. Insoweit ist zu beachten, dass der Durchschnittrezipient der Äußerung kein juristisch vorgebildetes Fachpublikum ist, welches zwischen einem Einzelkaufmann, einer juristischen Person und einer Personengesellschaft differenziert. Der i.d.R. juristisch nicht vorgebildete Durchschnittsrezipient wird daher nicht davon ausgehen, dass die hinter einem möglichen Einzelkaufmann stehende natürliche Person gleichsam insolvent ist, wenn „die Firma bankrott“ ist. Er wird die Äußerung vielmehr nicht juristisch hinterfragen, sondern sie an dem Wortlaut orientiert dahingehend verstehen, dass das Unternehmen oder die „Firma“ „bankrott“, „pleite“ oder insolvent ist. Zudem wird auch auf der streitgegenständlichen Internetseite (vgl. Anlage K2, Bl. 17 d.A.) zwischen Schuldnern, die Privatpersonen sind, und solchen, die Unternehmen sind, differenziert, indem bei Privatpersonen nur die Namen genannt werden (z.B. B, D, C etc.) und bei Unternehmen die (weiteren) Firmenbestandteile (wenn auch nicht immer vollständig).

Dass das Unternehmen in der angegriffenen Mitteilung nicht mit einem Rechtsformzusatz (z.B. GmbH) genannt wird, steht dem nicht entgegen, denn das Weglassen dessen in der Kommunikation - insbesondere im nichtjuristischen Bereich - ist üblich (zumal auch der Klägervertreter dies in seinen Schriftsätzen und der Kläger dies in seiner eidesstattlichen Versicherung (vgl. Anlage K1, Bl. 16 d.A.) tun).

Ferner wird der unbefangene Durchschnittsempfänger die Äußerung im Gesamtkontext entgegen der Ansicht des Klägers nicht auf alle Unternehmen mit dem Firmenbestandteil „X1“ beziehen und dahingehend verstehen, dass diese alle „bankrott“ seien. Dass sich die Äußerung vielmehr nur auf ein Unternehmen bezieht, geht klar aus der Verwendung des Singulars in den Folgesätzen des Berichtes hervor („ist…tätig“; „die Firma“).

[...]

Die zulässige Meinungsäußerung ist von dem Kläger hinzunehmen.

Sie beruht auf einer zutreffenden Tatsachengrundlage, denn unstreitig hat die X1 Hotel … GmbH einen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt und wurde später aus dem Handelsregister gelöscht. Dass das Unternehmen in der angegriffenen Mitteilung nicht mit sämtlichen Bestandteilen und dem Rechtsformzusatz GmbH genannt wird, ist unerheblich. Zum einen ist das Weglassen einzelner Firmenbestanteile in der täglichen Kommunikation - insbesondere im nichtjuristischen Bereich - üblich. Zum anderen ist weder dargelegt noch ersichtlich, dass es ein weiteres zu der Unternehmensgruppe des Klägers zugehöriges Unternehmen gäbe, welches die Firmenbestandteile „X1 Hotel …“ enthalten würde und auf welches bezogen eine Wertung als „bankrott“ keine zutreffende Tatsachengrundlage hätte.

Auch wird die Grenze zur Schmähkritik trotz der Wortwahl „bankrott“, die nach der Ansicht des Klägers negativ besetzt sein soll, und der Einbettung der Aussage auf der Homepage (…).com, auf welcher nach Meinung des Klägers „finster dreinblickende, gewaltbereite Männer mit Glatze“ abgebildet seien, nicht überschritten. Denn dem Äußernden geht es - wie der Gesamtzusammenhang der Äußerung zeigt - um eine Auseinandersetzung in der Sache und nicht um eine reine Herabsetzung des Klägers bzw. seines Unternehmens (vgl. hierzu auch BVerfG, ZUM 2013, 36).

(bb) Soweit der Kläger sich in der Replik auf Seite 5 (Bl. 149 d.A.) darauf stützt, dass die Aussage in der streitgegenständlichen Mitteilung, dass Handwerkerrechnungen nicht bezahlt worden seien, unwahr sei, so ist dies unbeachtlich. Denn dieser Vortrag ist widersprüchlich zu dem diesbezüglichen Vortrag auf Seite 4 der Klageschrift, in dem der Kläger nur betont, dass die Forderung nicht endgültig verweigert oder abgelehnt worden und die A GmbH auf den ordentlichen Rechtsweg verwiesen worden sei.

Selbst wenn man den Vortrag nicht als widersprüchlich ansehen würde, so ließe sich aus dem eigenen Vortrag des Klägers keine offensichtliche Unwahrheit dieser Tatsachenbehauptung herleiten, welche ein Auslistungsbegehren stützen könnte. Nach der neuesten Rechtsprechung des EuGH ist der Betreiber der Suchmaschine, wenn die eine Auslistung begehrende Person relevante und hinreichende Nachweise vorlegt, die ihren Antrag zu stützen vermögen und belegen, dass die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Informationen offensichtlich unrichtig sind oder zumindest ein für diesen gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil dieser Informationen offensichtlich unrichtig ist, verpflichtet, diesem Auslistungsantrag stattzugeben (vgl. MMR 2023, 105, Rn. 72).

Vorliegend hat der Kläger nur ausgeführt, dass die Forderung der A GmbH nicht beglichen und diese auf den ordentlichen Rechtsweg verwiesen worden sei, da der Kläger die Forderung nicht als begründet angesehen habe. Der Kläger hat demnach schon keine Tatsachen vorgetragen, aus denen hervorgeht, warum die Forderung seiner Ansicht nach offensichtlich unbegründet sei.

Darüber hinaus wird in der streitgegenständlichen Mitteilung gerade nicht behauptet, dass der Kläger die Zahlung der Forderung endgültig abgelehnt hätte.

(b) Soweit der Kläger sich auf die negativen Auswirkungen der verlinkten Berichterstattung für ihn bzw. seine Unternehmen beruft, so ist dies vor dem Hintergrund der Zulässigkeit der angegriffenen Berichterstattung unbeachtlich. Denn weder das Datenschutzrecht noch das allgemeine Persönlichkeitsrecht verleihen einen Anspruch, in der Öffentlichkeit so dargestellt zu werden, wie es einem genehm ist (st. Rspr. des BVerfG zum Äußerungsrecht, vgl. 1 BvR 3487/14, Rn. 14).

(c) Wenn sich Betroffene - wie hier - nicht schon gegen die Ermöglichung namensbezogener Suchabfragen überhaupt, sondern gegen deren Wirkung hinsichtlich einzelner sie nachteilig betreffender Beiträge wenden, kommt es für die Gewichtung ihrer Grundrechtseinschränkung maßgeblich auf die Wirkung ihrer Verbreitung an. Bezugspunkte sind dabei die Wirkungen der Verbreitung des streitbefangenen Beitrags für die Persönlichkeitsentfaltung, wie sie sich spezifisch aus den Suchnachweisen ergeben, insbesondere auch unter Berücksichtigung der Möglichkeit namensbezogener Suchabfragen. Hierfür reicht nicht eine Würdigung der Berichterstattung in ihrem ursprünglichen Kontext, sondern auch die leichte und fortdauernde Zugänglichkeit der Informationen durch die Suchmaschine ist in Rechnung zu stellen. Insbesondere ist auch der Bedeutung der Zeit zwischen der ursprünglichen Veröffentlichung und deren späterem Nachweis Rechnung zu tragen (BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 42; BVerfG, NJW 2020, 314, Rn. 122 m.w.N. - Recht auf Vergessen II).

Dass die X1 Hotel … GmbH nach dem unbestrittenen Vortrag der Beklagten im Jahre 2020 gelöscht wurde, ist demnach ebenfalls in die Abwägung einzustellen. Dies wirkt sich - anders als der Kläger meint - jedoch nicht zu seinen Gunsten aus. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass auf Seiten der Nutzer der Beklagten weiterhin ein öffentliches Interesse an der Verbreitung der wahren Aussage - nämlich der Insolvenz bzw. des Bankrotts der Firma des Klägers - besteht. Der Senat hat insoweit auch den Zeitfaktor in seine Abwägung eingestellt und abgewogen, ob die Weiterverbreitung des Beitrags auch unter Namensnennung angesichts der inzwischen verstrichenen Zeit noch gerechtfertigt ist. Wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat, kann der Zeitablauf sowohl das Gewicht des öffentlichen Interesses als auch das der Grundrechtsbeeinträchtigung modifizieren (vgl. auch BVerfG, NJW 2020, 314, Rn. 131 - Recht auf Vergessen II). So kann durch Zeitablauf die identifizierende Verbreitung solcher Beiträge durch Suchmaschinen unzumutbar und damit unzulässig werden, denn die belastende Wirkung der Verbreitung kritischer Beiträge zum Verhalten einzelner Personen kann im Laufe der Zeit - insbesondere wenn die Beiträge auf namensbezogene Abfrage hin auch viele Jahre später noch prioritär kommuniziert werden - für die Betroffenen erheblich wachsen und immer weniger gerechtfertigt sein (vgl. hierzu BVerfG, NJW 2020, 314, Rn. 132 f. - Recht auf Vergessen II).

Dies führt im vorliegenden Fall im Rahmen der Interessenabwägung jedoch nicht dazu, dass es der Beklagten zu untersagen wäre, den Suchtreffer zu der Namenssuche des Klägers, der zu einer für sich genommen zulässigen Berichterstattung führt, heute nicht mehr anzuzeigen und auszulisten. In die Abwägung einzustellen ist, dass die Löschung der Gesellschaft erst im Jahre 2020 erfolgte und somit erst wenige Jahre zurückliegt. Die seit den berichteten Ereignissen vergangene Zeitspanne von rund drei Jahren ist noch nicht derart groß, als dass sie das Interesse an der niedrigschwelligen Erreichbarkeit der Informationen - auch über die namensbezogene Suche mittels einer Suchmaschine - in den Hintergrund treten ließe. Auch ist zu beachten, dass die Nutzer der Suchmaschine trotz der Löschung des Unternehmens weiterhin ein erhebliches Informationsinteresse haben. Dies ergibt sich daraus, dass neben dem gelöschten Unternehmen eine Vielzahl weiterhin aktiver Unternehmen zu der Unternehmensgruppe des Klägers zählen, die zudem dessen Namen in der Firmierung tragen. Für (potentielle) Kunden und Geschäftspartner ist es weiterhin von erheblichem Interesse, ob ein Unternehmen des Klägers (kürzlich) „bankrott“ gewesen ist bzw. ob eine Handwerkerrechnung nicht beglichen wurde. Denn dies ist ein wichtiger Aspekt für die Gestaltung künftiger Geschäfte mit den anderen Unternehmen des Klägers, z.B. hinsichtlich der Frage, ob seitens der Kunden Vorkasse geleistet wird oder seitens der Geschäftspartner Vorkasse für Projekte von dem Kläger bzw. seinen Unternehmen gefordert wird. Die Insolvenz eines Unternehmens kann - auch wenn dies freilich nicht zwingend ist - nämlich auch etwas über die Solvenz der restlichen Unternehmensgruppe aussagen bzw. über den Umgang dieser mit Zahlungsschwierigkeiten einzelner Unternehmen innerhalb der Gruppe.

Das berechtigte Berichterstattungsinteresse erstreckt sich unter den Umständen des Streitfalls ohne Weiteres auch auf die namentliche Nennung des Klägers. Der Name des Klägers ist Teil der Firmierung des gelöschten Unternehmens und einer Vielzahl weiterer Unternehmen. Insoweit verkennt der Senat nicht, dass dies negativ für den Kläger und seine weiteren Unternehmen mit entsprechendem Namensbestandteil ist. Jedoch kann in diesem Zusammenhang nicht außer Betracht gelassen werden, dass der Kläger dadurch, dass er seinen Namen zum Firmenbestandteil einer Vielzahl von Unternehmen gemacht hat, das Risiko in Kauf genommen hat, dass er mit dem bzw. den Unternehmen in Verbindung gebracht wird. Das muss er auch im Falle einer aus seiner Sicht negativen Berichterstattung gegen sich gelten lassen.

Ferner hat der Senat im Rahmen seiner Abwägung berücksichtigt, dass der streitgegenständliche Bericht nicht von privatem, bewusst nicht vor anderen gezeigtem Verhalten oder Fehlverhalten handelt, sondern die berufliche Tätigkeit und mithin die Sozialsphäre des Klägers betrifft, so dass der langfristigeren Zugänglichkeit des Berichtes höheres Gewicht zukommt.

Auch hat der Senat in die Interessenabwägung zu Gunsten der Beklagten, des Inhalteanbieters, der Nutzer und der Öffentlichkeit eingestellt, dass die Berichterstattung nicht reißerisch oder skandalös, sondern eher kurz und sachlich ist; wobei nicht unbeachtet geblieben ist, dass der letzte Absatz des Berichtes auf die Kundenakquise des Inkassounternehmens zielt.

Die Grundrechtsbeeinträchtigung des Klägers erhält auch im Streitverhältnis zur Beklagten kein entscheidend anderes Gewicht. Denn die Beklagte weist den fraglichen Artikel auf eine entsprechende Suchanfrage unkommentiert in ihren Ergebnislisten nach (so auch BVerfG, NJW 2020, 300, Rn. 124 - Recht auf Vergessen I). Schließlich wird der angegriffene Ergebnislink durch den Nachweis zahlreicher weiterer, teilweise vorrangig platzierter, im Netz befindlicher Informationen relativiert (vgl. Anlage K3, Bl. 18 d.A.; so auch BVerfG NJW 2020, 314, Rn. 125 m.w.N. - Recht auf Vergessen II).

b) Im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des vorliegend unionsweit abschließend vereinheitlichten Datenschutzrechts (vgl. BVerfG, NJW 2020, 314 Rn. 34, 41 - Recht auf Vergessen II) und die bei Prüfung eines Auslistungsbegehrens nach Art. 17 DS-GVO vorzunehmende umfassende Grundrechtsabwägung kann der Kläger seinen Anspruch auch nicht auf Vorschriften des nationalen deutschen Rechts stützen (so auch BGH, NJW 2020, 3436 Rn. 64), insbesondere nicht auf §§ 823, 1004 Abs. 1 BGB, Art. 1 Abs. 1 Art. 2 Abs. 1 GG.

2. Mangels eines Anspruchs auf Auslistung steht dem Kläger auch kein diesbezüglicher Anspruch auf Androhung eines Ordnungsgeldes aus § 890 ZPO zu (Klageantrag zu 3.).

C) Die statthafte Berufung der Beklagten ist zulässig; sie wurde form- und fristgerecht eingelegt (§§ 520, 517 ZPO).

D) Die Berufung der Beklagten ist auch begründet.

I. Soweit der Klage stattgegeben wurde, war diese zulässig.

1. Das angerufene Gericht ist international und örtlich zuständig. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen verwiesen werden.

2. Unter Zugrundelegung der obenstehend dargestellten Grundsätze ist der Klageantrag zu 2. hinreichend bestimmt. Aus der Klagebegründung wird deutlich, dass sich der Klageantrag zu 2. ebenfalls auf die Suchmaschine der Beklagten unter www.(y).de bezieht (vgl. Anlage K5).

II. Die Klage ist im Umfang der von der Beklagten eingelegten Berufung unbegründet.

1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Unterlassung der Suchwortvervollständigung „bankrott“ bei der namensbasierten Suche nach seinem Vor- und Zunamen in der Suchmaschine der Beklagten.

a) Ein solcher Anspruch ergibt sich insbesondere auch nicht aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO.

aa) Der geltend gemachte Anspruch kann sich grundsätzlich aus Art. 17 Abs. 1 DSGVO ergeben.

(1) Die Datenschutz-Grundverordnung ist auch im Hinblick auf den mit dem Klageantrag zu 2. verfolgten Unterlassungsanspruch gegen die Suchwortergänzungsfunktion von Suchmaschinen nach den zuvor im Abschnitt B. dargestellten Grundsätzen zeitlich und räumlich anwendbar.

(2) Gleiches gilt in Bezug auf die sachliche Anwendbarkeit. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung fällt die Tätigkeit einer Suchmaschine, die darin besteht, von Dritten ins Internet gestellte und dort veröffentlichte Informationen zu finden, automatisch zu indexieren, vorübergehend zu speichern und schließlich den Internetnutzern in einer bestimmten Rangfolge zur Verfügung zu stellen, in den sachlichen Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung (Art. 2 Abs. 1 DSGVO), sofern die Informationen personenbezogene Daten enthalten (vgl. zum Auslistungsanspruch BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 13) . Dies gilt nach Ansicht des Senates auch, soweit aufgrund der Integration der „Autocomplete“-Funktion in der Suchmaschine dem Nutzer während der Eingabe seiner Suchbegriffe variierend mit der Reihenfolge der eingegebenen Buchstaben in einem sich daraufhin öffnenden Fenster automatisch verschiedene Suchvorschläge („predictions“) in Form von Wortkombinationen angezeigt werden, sofern diese - wie hier - personenbezogene Daten erhalten. Denn die im Rahmen dieser Suchergänzungsfunktion angezeigten Suchvorschläge mit personenbezogenen Daten werden auf der Basis eines Algorithmus ermittelt, der die suchwortgesteuerten Suchanfragen einbezieht und dem Internetnutzer als Ergänzungsvorschläge die Wortkombinationen präsentiert, die zum fraglichen Suchbegriff am häufigsten eingegeben worden waren (vgl. hierzu BGH, GRUR 2013, 751, Rn. 16, 22 - Autocomplete-Funktion). Die Autocomplete-Funktion ist damit als automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 1 und 2 DSGVO einzustufen.

Ob die Beklagte nach den vorstehend in Bezug auf die Auslistung dargelegten Grundsätzen, welche auf die Autocomplete-Funktion übertragen werden können, datenschutzrechtlich für die streitbefangene Autocomplete-Funktion zumindest mitverantwortlich im Sinne des Art. 26 DSGVO ist, kann auch insoweit mangels eines Anspruchs in der Sache (s.u.) offenbleiben.

Die streitgegenständliche Tätigkeit der Beklagten unterfällt auch nicht der Öffnungsklausel des Art. 85 DSGVO i.V.m. Art. 12 Abs. 1 S. 4 MSTV. Die automatisierte bloße Auflistung von Suchergebnissen stellt keine eigene journalistisch-redaktionelle Gestaltung dar.

bb) Auch wird der in Rede stehende Anspruch, der auf Unterlassung der Suchwortvervollständigung gerichtet ist, ist aus den obenstehenden Erwägungen (vgl. Abschnitt B II. 1. a) bb)) grundsätzlich von Art. 17 Abs. 1 DSGVO erfasst.

cc) Ferner hat der Kläger die Beklagte, die ohne vorherige Beanstandung durch einen Betroffenen zu einer proaktiven Prüfung der von ihrer Suchmaschine generierten Suchwortvervollständigungen nicht verpflichtet ist (vgl. BGH, GRUR 2013, 751, Rn 30 - Autocomplete-Funktion), bereits vor Klageerhebung mit dem Schreiben vom 02.02.2021 (Anlage K6, Bl. 25 ff. d.A.) in formeller Hinsicht hinreichend deutlich auf die aus seiner Sicht vorliegende Rechtswidrigkeit der Datenverarbeitung hingewiesen und die Beklagte insoweit zur Unterlassung der konkret benannten Autocomplete-Funktion aufgefordert (sog. sog. Notice an Take Down Schreiben). In dem Schreiben vom 02.02.2021 wird die konkret beanstandete Autocomplete-Funktion, nämlich „bankrott“ in Verbindung mit der namensbasierten Suche des Klägers, genannt und es erfolgt eine Darstellung des zugrundeliegenden Sachverhalts und der rechtlichen Erwägungen.

dd) Anders als das Landgericht angenommen hat, liegen nach Ansicht des Senates jedoch die materiellen Voraussetzungen für den streitgegenständlichen Anspruch auf Unterlassung der Suchwortvervollständigung gem. Art 17 Abs. 1 DSGVO nicht vor.

Nach Art. 17 Abs. 1 DSGVO steht - soweit hier relevant - der betroffenen Person ein Anspruch auf Löschung zu, wenn die personenbezogenen Daten für die Zwecke, für die sie erhoben oder auf sonstige Weise verarbeitet wurden, nicht mehr notwendig sind (Art. 17 Abs. 1 a DSGVO) oder die betroffene Person Widerspruch gegen die Verarbeitung ihrer Daten eingelegt hat und keine vorrangigen berechtigten Gründe für die Verarbeitung vorliegen (Art. 17 Abs. 1 c DSGVO) oder die personenbezogenen Daten unrechtmäßig verarbeitet wurden (Art. 17 Abs. 1 Buchst. d DSGVO).

(1) Auch im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen dieses Löschungsanspruches ist eine umfassende Grundrechtsabwägung auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen, und zwar unter Berücksichtigung der Schwere des Eingriffs in die Grundrechte des Klägers als betroffene Person einerseits und der Grundrechte der Beklagten, der Interessen ihrer Nutzer und der Öffentlichkeit andererseits. Auch hier finden die von BGH in dem Urteil vom 27.07.2020, Az. VI ZR 405/18 (NJW 2020, 3464, Rn. 23 ff.) dargestellten Abwägungsgrundsätze (s.o.) im Ausgangspunkt Anwendung, wobei allerdings zu beachten ist, dass - anders als bei einer begehrten Entfernung von Links aus Suchergebnissen - bei dem hier in Rede stehenden Anspruch auf Unterlassung der Anzeige der Suchwortvervollständigung keine Rechte der Inhalteanbieter auf Meinungsfreiheit (Art. 11 GRCh) betroffen sind, da sich der Autocomplete-Vorgang im Vorfeld der Anzeige konkreter Suchergebnisse abspielt und sich der Kläger hier nicht gegen den Inhalt von Suchergebnissen wendet.

Im Rahmen der anzustellenden Abwägung sind auf Seiten des Klägers demnach die Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh, das Recht auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh und das Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh einzustellen.

Auf Seiten der Beklagten sind ihr Recht auf unternehmerische Freiheit aus Art. 16 GRCh sowie ihr Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung gem. Art. 11 GRCh zu berücksichtigen (vgl. BGH, GRUR 2013, 751, Rn. 22 - Autocomplete-Funktion zu der Rechtslage nach deutschem Recht; anders in Bezug auf die Anzeige von Ergebnislinks BGH, NJW 2020, 3436, Rn. 31).

In die Abwägung sind ferner die Zugangsinteressen der Internetnutzer einzustellen und das Interesse einer breiten Öffentlichkeit am Zugang zu Information als Ausdruck des in Art. 11 GRCh verbürgten Rechts auf freie Information.

(2) Nach diesen Grundsätzen haben die Interessen des Klägers hinter den Grundrechten der Beklagten und den in deren Waagschale zu legenden Interessen ihrer Nutzer und der Öffentlichkeit zurückzutreten:

Nach Ansicht des Senates ist der hier in Rede stehenden Suchoption „X bankrott“ nach dem maßgeblichen Verständnis des Durchschnittsrezipienten zwar eine inhaltliche Aussage zu entnehmen. Diese ist jedoch in einem Maße vieldeutig, dass sie nicht als eigenständige Behauptung eines bestimmten Sachverhalts verstanden werden kann, sondern sich für den Rezipienten als schlagwortartige Äußerung darstellt.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Gen-Milch-Entscheidung vom 08.09.2010 (Az. 1 BvR 1890/08; ZUR 2011, 252, Rn. 21 ff.) im Hinblick auf die Unterlassung schlagwortartiger Äußerungen folgendes ausgeführt:

„[21] Auch nach diesem Maßstab begegnet das angegriffene Urteil indes keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Insbesondere durfte der Bundesgerichtshof den auf die Produkte der Beschwerdeführerin bezogenen Begriff »Gen-Milch« als substanzarme Äußerung ansehen und seine Verwendung hiervon ausgehend als zulässig beurteilen. Entgegen der Auffassung der Verfassungsbeschwerde steht dies nicht in Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu mehrdeutigen Tatsachenbehauptungen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass einer auf die künftige Unterlassung einer Behauptung gerichteten Klage bereits dann stattzugeben ist, wenn die fragliche Tatsachenbehauptung einen mehrdeutigen Gehalt aufweist und in einer der nicht fernliegenden Deutungsvarianten das allgemeine Persönlichkeitsrecht des von ihr Betroffenen verletzt, weil dieses die Meinungsfreiheit des Äußernden im konkreten Fall überwiegt (vgl. BVerfGE 114, 339 <350> - Stolpe -). [22] Dies ändert aber nichts daran, dass es den Fachgerichten obliegt, zunächst zu ermitteln, ob ein derartiger Fall der Mehrdeutigkeit im zu entscheidenden Fall gegeben ist oder ob der Äußerung durch die gebotenen Auslegungsbemühungen ein eindeutiger Aussagegehalt beigemessen werden kann, weil theoretisch mögliche Deutungsalternativen sich am Maßstab des unvoreingenommenen und verständigen Durchschnittsrezipienten als fernliegend erweisen. Hinsichtlich der Deutung der Aussage lassen sich der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine von der bisherigen Rechtsprechung abweichenden Maßgaben entnehmen. Von daher besteht insbesondere auch kein Anlass, in größerem Umfang als bisher zu der Annahme eines im Rechtssinne mehrdeutigen Aussagegehalts zu gelangen.

[23] Angesichts dessen ist die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Deutung des Begriffs »Gen-Milch« verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Zwar ist - wie das angegriffene Urteil auch nicht verkennt - die Formulierung für sich genommen nicht eindeutig, sondern lässt eine Vielzahl von Verständnismöglichkeiten zu. Zu Recht hat der Bundesgerichtshof hieraus aber nicht die von der Verfassungsbeschwerde geforderte Konsequenz gezogen, der weiteren rechtlichen Prüfung diejenige Deutungsvariante zugrunde zu legen, die die intensivste Beeinträchtigung der Rechte der Beschwerdeführerin darstellen würde. Dieses Vorgehen ist nämlich nur bei solchen Äußerungen verfassungsrechtlich geboten, die von dem maßgeblichen Durchschnittspublikum überhaupt als eine geschlossene, aus sich heraus aussagekräftige Tatsachenbehauptung wahrgenommen werden (und insoweit dann aber mehrdeutig sind). Anders liegt es hingegen bei Äußerungen, die in einem Maße vieldeutig erscheinen, dass sie gar nicht als eigenständige Behauptung eines bestimmten Sachverhalts verstanden, sondern ohne Weiteres als in tatsächlicher Hinsicht unvollständig und ergänzungsbedürftig erkannt werden, wie dies häufig bei Slogans und schlagwortartigen Äußerungen der Fall sein wird (vgl. BVerfGE 61, 1 <9 f.>), die lediglich die Aufmerksamkeit des Publikums erregen und Anreiz zu Nachfragen oder zu der Rezeption weiterer Informationsquellen bieten sollen. In einem solchen Fall fehlt es an einer konkreten Tatsachenbehauptung, die geeignet wäre, zu auf falsche Sachaussagen gestützten Fehlvorstellungen der Rezipienten beizutragen. Die Meinungsfreiheit, die auch das Recht aufmerksamkeitserregender Zuspitzungen und polemisierender Pointierungen umfasst, steht hier einer Untersagung der Äußerung wegen ihrer Mehrdeutigkeit vielmehr entgegen.“

Die hier automatisch erstellte Suchwortvervollständigung der Beklagten kombiniert zwei Wörter, nämlich den Namen des Klägers und das Wort „bankrott“, die dem unvoreingenommenen, die Suchmaschine der Beklagten nutzenden Durchschnittsrezipienten verschiedene Möglichkeiten eröffnen, inhaltliche Zusammenhänge herzustellen oder ein Verständnis zu entwickeln.

Der mittels der Suchmaschine der Beklagten nach Informationen forschende Internetnutzer erwartet von den ihm nach der Eingabe des Suchbegriffs angezeigten ergänzenden Suchvorschlägen durchaus einen inhaltlichen Bezug zu dem von ihm verwandten Suchbegriff, hält diesen jedenfalls für möglich. Denn aus dem „Ozean von Daten“ werden dem suchenden Internetnutzer von der Suchmaschine der Beklagten nicht x-beliebige ergänzende Suchvorschläge präsentiert, die nur zufällig „Treffer“ liefern. Die Suchmaschine ist, um für Internetnutzer möglichst attraktiv zu sein - und damit den gewerblichen Kunden der Beklagten ein möglichst großes Publikum zu eröffnen - vielmehr auf inhaltlich weiterführende ergänzende Suchvorschläge angelegt (zum Vorstehenden im Ganzen vgl. BGH, GRUR 2013, 751, Rn. 16 - Autocomplete-Funktion). Dies führt im Streitfall dazu, dass dem bei Eingabe von Vor- und Zuname des Klägers angezeigten Ergänzungssuchvorschlag „bankrott“ die Aussage zu entnehmen ist, zwischen dem namentlich Genannten und dem Begriff „bankrott“ bestehe ein sachlicher Zusammenhang bzw. eine Verbindung (so auch BGH, GRUR 2013, 751, Rn. 13, 16 - Autocomplete-Funktion).

Es bleibt für den maßgeblichen Durchschnittsrezipienten aber erkennbar offen und unbestimmt, welcher Zusammenhang bestehen könnte. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass sich ein verständiger Internetnutzer darüber bewusst ist, dass die vorgeschlagenen Suchoptionen das Ergebnis eines automatischen, technischen Vorgangs sind. Wesentlich bei der Beurteilung ist jedoch, dass ein Nutzer der Suchmaschine mit der angezeigten Kombination der Begriffe zunächst nichts anfangen kann. Er kann nicht beurteilen, ob der vorgeschlagene Begriff in Verbindung mit der Person steht, zu der er recherchiert hat, denn es ist denkbar, dass es mehrere Personen mit dem von dem Nutzer eingegebenen Namen gibt. Um sich hierüber Sicherheit zu verschaffen, muss er sich mit den zu der Kombination angezeigten Ergebnissen beschäftigen oder die Suchbegriffe ändern.

Dies zeigt bereits, dass der vorliegend angezeigten Suchoption keine eigenständige Behauptung zu entnehmen ist, sondern diese vielmehr Anlass für weitere Recherchen bietet. Selbst wenn der Nutzer davon ausgeht, dass die Person, zu der er die Suchanfrage gestattet hat, mit der ergänzenden Suchoptionen „bankrott“ grundsätzlich in Verbindung zu bringen ist, erhält er erkennbar keine Informationen, die über die Mitteilung der beiden Begriffe hinausgehen. Vielmehr stellt es sich für ihn als eine Art schlagwortartige Äußerung dar, die ihm wiederum Anlass geben kann, sich mit möglichen Suchergebnissen zu der Begriffskombination auseinanderzusetzen. Ob der Kläger direkt oder indirekt von einem „bankrott“ betroffen ist, ob er persönlich oder eines oder alle seiner Unternehmen „bankrott“ ist/sind, ob er zu diesem Themenkreis Informationen oder Leistungen anbietet oder publiziert, bleibt gänzlich offen, wobei die hier dargestellten Verständnismöglichkeiten der Begriffskombination nicht abschließend sind. Sie belegen jedoch, dass es sich um eine zwar vieldeutige, jedoch substanzarme Wortkombination handelt. Auf diese ist nach den zuvor dargestellten Grundsätzen der Gen-Milch-Entscheidung die Stolpe-Rechtsprechung (vgl. BVerfGE 114, 339) nicht anzuwenden (so auch LG Hamburg, Urteil v. 18.01.2013 - 324 O 766/11 (vgl. Anlagenkonvolut B10, Bl. 104 ff. d.A.); in diese Richtung weisend auch OLG Hamburg, Protokoll v. 29.03.2016 - 7 U 13/13 (vgl. Anlagenkonvolut B10, Bl. 101 ff. d.A.); a.A. OLG Köln, Urteil vom 08.02.2014 - I-15 U 199/11 -, Rn. 43, juris).

Bei der vorzunehmenden Abwägung zwischen den Grundrechten des Klägers aus Art. 7, 8 und 16 GRCh und den Grundrechten der Beklagten aus Art. 11 und 16 GRCh sowie der Nutzer der Suchmaschine und der Öffentlichkeit (Art. 11 GRCh) ist zu Lasten des Klägers berücksichtigen, dass es für die Verbindung des Klägers mit einem „bankrott“ tatsächliche Anknüpfungstatsachen gibt und damit auch für die Kombination der beiden Begriffe.
[...]
Ferner ist im Rahmen der Abwägung zu Lasten des Klägers zu beachten, dass in dem in den Suchergebnissen der Beklagten angezeigten Beitrag gemäß der Anlage K2 (Bl. 17 d.A.) zulässig (s.o.) darüber berichtet wird, dass „X1 bankrott“ sei.

Auf Seiten der Nutzer der Beklagten und für die Öffentlichkeit besteht - wie obenstehend dargestellt - trotz der Löschung der Unternehmen weiterhin ein erhebliches diesbezügliches Informationsinteresse. Dies ergibt sich daraus, dass neben dem gelöschten Unternehmen eine Vielzahl weiterhin aktiver Unternehmen zu der Unternehmensgruppe des Klägers zählen und dessen Namen in der Firmierung tragen. Für (potentielle) Kunden und Geschäftspartner ist es weiterhin von erheblichem Interesse, ob ein Unternehmen des Klägers (kürzlich) „bankrott“ bzw. insolvent gewesen ist. Denn dies ist - wie obenstehend dargestellt - ein wichtiger Aspekt für die Gestaltung künftiger Geschäfte mit den Unternehmen des Klägers.

Ebenfalls in die Abwägung ist einzustellen, dass der Name des Klägers ein Namensbestandteil vieler Unternehmen ist. Durch eine derartige Firmierungspraxis hat der Kläger das Risiko in Kauf genommen, dass er mit den Unternehmen in Verbindung gebracht wird und somit auch im Falle von möglichen Insolvenzen.

Auch bei der Beurteilung der Suchergänzungsfunktion der Beklagten ist im Rahmen der Abwägung zu deren Gunsten berücksichtigen, dass das Internet ohne die Hilfestellung einer Suchmaschine aufgrund der nicht mehr überschaubaren Flut von Daten für den Einzelnen nicht sinnvoll nutzbar wäre (BGH, Urteil vom 27. Juli 2020 - VI ZR 405/18, Rn. 40) und insoweit auch die Suchergänzungsfunktion einen nützlichen Beitrag zur Recherche leistet.

b) Im Hinblick auf den Anwendungsvorrang des vorliegend unionsweit abschließend vereinheitlichten Datenschutzrechts (vgl. BVerfG, NJW 2020, 314 Rn. 34, 41 - Recht auf Vergessen II) und die bei Prüfung eines Auslistungsbegehrens nach Art. 17 DS-GVO vorzunehmende umfassende Grundrechtsabwägung kann der Kläger seinen Anspruch auch nicht auf Vorschriften des nationalen deutschen Rechts stützen (so auch BGH, NJW 2020, 3436 Rn. 64), insbesondere nicht auf §§ 823, 1004 Abs. 1 BGB, Art. 1 Abs. 1 Art. 2 Abs. 1 GG.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Im Zivilverfahren können grundsätzlich auch Ermittlungs- und Strafakten beigezogen werden wobei des Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen zu beachten ist

BGH
Urteil vom 16.03.2023
III ZR 104/21
Zivilprozess, Beiziehung von Ermittlungs-/Strafakten
ZPO § 429 Satz 1 HS. 1; § 432 Abs. 1, Abs. 3; StPO § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4


Der BGH hat entschieden, dass im Zivilverfahren grundsätzlich auch Ermittlungs- und Strafakten beigezogen werden können, wobei des Recht auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen zu beachten ist.

Leitsätze des BGH:
a) Gemäß § 432 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 474 Abs. 1, § 479 Abs. 4 Sätze 2 und 3 StPO steht einer Partei grundsätzlich die Möglichkeit zur Verfügung, in einem anhängigen Zivilprozess (Teile von) Ermittlungs- beziehungsweise Strafakten beiziehen zu lassen.

b) Nach § 474 Abs. 1 StPO ist den Gerichten grundsätzlich Akteneinsicht zu gewähren.

c) Grundrechten der anderen Partei oder Dritter, insbesondere deren Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, kann dadurch Rechnung getragen werden, dass das Gericht nach Erhalt der angeforderten Akte unter Berücksichtigung von deren schutzwürdigen Interessen abwägt und so prüft, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Informationen aus ihr im Zivilverfahren verwertet werden können; der Zugang zu den Informationen aus der beigezogenen Akte ist gegebenenfalls angemessen zu beschränken

d) Maßgeblich für die Vorlagepflicht Dritter gemäß § 429 Satz 1 HS. 1, § 432 Abs. 3 ZPO ist, ob die beweisführungsbelastete Partei im Verhältnis zu ihnen einen Vorlegungsanspruch hat. Ob die Gegenpartei in Ermangelung der Voraussetzungen der §§ 422 f ZPO nicht zur Vorlage einer Urkunde verpflichtet ist, ist demgegenüber in Bezug auf Dritte nicht von Bedeutung.

BGH, Urteil vom 16. März 2023 - III ZR 104/21 - OLG Nürnberg - LG Regensburg

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Frankfurt: Kein Anspruch gegen Google auf Unterlassung der Verknüpfung des Namens eines Unternehmers mit dem Wort "bankrott" über die Autocomplete-Funktion

OLG Frankfurt
Urteil vom 20.04.2023
16 U 10/22


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass kein Anspruch gegen Google auf Unterlassung der Verknüpfung des Namens eines Unternehmers mit dem Wort "bankrott" über die Autocomplete-Funktion besteht.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Autocomplete-Funktion - Klage gegen Google zurückgewiesen

Es besteht kein Anspruch eines Unternehmers gegen Google auf Unterlassung der Verknüpfung seines Namens mit dem Begriff „bankrott“ über die Autocomplete-Funktion.

Die Verknüpfung des Namens eines Unternehmers mit dem Begriff „bankrott“ über die Autocomplete-Funktion im Rahmen der Google-Suche kann nach den Einzelfallumständen zulässig sein. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) hat mit heute verkündeter Entscheidung einen Unterlassungsanspruch des Klägers zurückgewiesen. Das Ergebnis der Autocomplete-Funktion sei erkennbar unbestimmt und enthalte keine eigenständige Behauptung. Der Nutzer wisse, dass es automatisch generiert werde. Konkrete Bedeutung erlange die Kombination erst nach weiteren Recherchen, begründete das OLG seine Entscheidung.

Der Kläger ist Inhaber einer Unternehmensgruppe, die auf dem Gebiet des Innendesigns von Hotels tätig ist. Die Beklagte betreibt u.a. die Internetsuchmaschine Google. Bei Eingabe von Vor- und Nachnamen des Klägers erscheint über die Autocomplete-Funktion als Suchergänzungsvorschlag „bankrott“. Hintergrund ist, dass zwei zur Unternehmensgruppe des Klägers gehörende Unternehmen vor rund zehn Jahren im Zusammenhang mit Ermittlungen deutscher Steuerbehörden insolvent und später wegen Vermögenslosigkeit aus dem Handelsregister gelöscht wurden. Ein konkret auf den Kläger bezugnehmender Webseiteneintrag stammt von einem Inkassounternehmen, welches ein Geschäftspartner der Unternehmensgruppe mit dem Einzug einer Forderung beauftragt hatte.

Der Kläger wendet sich sowohl gegen die Anzeige des Suchergänzungsvorschlags „bankrott“ als auch gegen die Anzeige und Verlinkung auf die Webseite mit der URL, die sich auf die Zahlungsfähigkeit bezieht. Das Landgericht hatte die Beklagte verpflichtet, den über die Autocomplete-Funktion generierten Sucherergänzungsvorschlag nicht mehr anzuzeigen und die Klage im Übrigen abgewiesen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das OLG das Urteil abgeändert und die Klage auch insoweit abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Unterlassung der Suchwortvervollständigung „bankrott“ bei namensbasierter Suche nach seinem Vor- und Zunamen. Dieser Anspruch ergebe sich insbesondere nicht aus der Datenschutzgrundverordnung (i.F.: DS-GVO). Die Autocomplete-Funktion sei zwar als automatische Verarbeitung personenbezogener Daten einzustufen. Hier hätten die Interessen des Klägers an der Löschung aber hinter die Interessen der Nutzer und der Öffentlichkeit zurückzutreten.

Ob ein Löschungsanspruch bestehe, sei grundsätzlich auf Basis einer umfassenden Grundrechtsabwägung auf der Grundlage aller relevanten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Abzuwägen seien auf Seiten des Klägers die Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens, des Schutzes personenbezogener Daten und der unternehmerischen Freiheit; auf Seiten der Beklagten das Recht auf unternehmerische Freiheit und freie Meinungsäußerung. Zu berücksichtigen seien auch die Zugangsinteressen der Internetnutzer und das Interesse einer breiten Öffentlichkeit am Zugang zu Informationen.

Gewicht erlange hier, dass die Bedeutung des nach Eingabe des Namens erscheinenden Suchvorschlags „bankrott“ erkennbar offenbleibe und unbestimmt sei. Einem verständigen Internetnutzer sei bewusst, dass der Suchvorschlag Ergebnis eines automatischen Vorgangs sei. Der Nutzer könne mit der angezeigten Kombination zunächst „nichts anfangen“. Der angezeigten Kombination selbst sei keine eigenständige Behauptung zu entnehmen. Sie sei allein Anlass für weitere Recherchen. Selbst wenn der Nutzer eine Verbindung zwischen dem Kläger und dem Begriff „bankrott“ herstellen würde, wäre offen, wie diese Verbindung inhaltlich auszugestalten wäre. Zu berücksichtigen sei dabei auch, dass es tatsächliche Anknüpfungstatsachen für die Verbindung des Namens mit dem Begriff „bankrott“ gebe.

Entgegen der Ansicht des Klägers beschränke sich der Begriff „bankrott“ auch nicht auf den strafbewehrten Vorwurf des § 283 StGB. Er finde vielmehr im allgemeinen Sprachgebrauch im Sinne einer Zahlungsunfähigkeit bzw. Insolvenz Verwendung.

Die Berufung des Klägers, mit welcher er weiterhin auch die Auslistung des Suchergebnisses in Form der konkreten URL begehrte, hatte dagegen keinen Erfolg. Die betroffenen Grundrechte des Klägers hätten hinter das Recht der Beklagten und das Interesse aller Nutzer am freien Informationszugang zurückzutreten, bestätigte das OLG die Entscheidung des Landgerichts.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Zulassung der Revision beim BGH begehrt werden.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 20.4.2023, Az. 16 U 10/22
(vorausgehend Landgericht Frankfurt Main, Urteil vom 1.12.2021, Az. 2-34 O 37/21)



BVerfG: Regelungen zur automatisierten Datenanalyse für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten in Hessen und Hamburg verfassungswidrig

BVerfG
Urteil vom 16.02.2023
1 BvR 1547/19 und 1 BvR 2634/20


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Regelungen zur automatisierten Datenanalyse für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten in Hessen und Hamburg verfassungswidrig sind. Es liegt ein rechtswidriger Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) vor.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Regelungen in Hessen und Hamburg zur automatisierten Datenanalyse für die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten sind verfassungswidrig

Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass § 25a Abs. 1 Alt. 1 des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) und § 49 Abs. 1 Alt. 1 des Hamburgischen Gesetzes über die Datenverarbeitung der Polizei (HmbPolDVG) verfassungswidrig sind. Sie ermächtigen die Polizei, gespeicherte personenbezogene Daten mittels automatisierter Anwendung im Rahmen einer Datenanalyse (Hessen) oder einer Datenauswertung (Hamburg) weiter zu verarbeiten.

Die Vorschriften verstoßen gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in seiner Ausprägung als informationelle Selbstbestimmung, weil sie keine ausreichende Eingriffsschwelle enthalten. Sie ermöglichen eine Weiterverarbeitung gespeicherter Datenbestände mittels einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung in begründeten Einzelfällen, wenn dies zur vorbeugenden Bekämpfung bestimmter Straftaten erforderlich ist. Dieser Eingriffsanlass bleibt angesichts der besonders daten- und methodenoffen formulierten Befugnisse weit hinter der wegen des konkreten Eingriffsgewichts verfassungsrechtlich gebotenen Schwelle einer konkretisierten Gefahr zurück.

§ 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG gilt bis zu einer Neuregelung, längstens jedoch bis zum 30. September 2023 mit einschränkender Maßgabe fort. § 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG ist nichtig.

Sachverhalt:

Die beiden weitgehend gleichlautenden Regelungen in § 25a Abs. 1 HSOG und in § 49 Abs. 1 HmbPolDVG schaffen eine spezielle Rechtsgrundlage dafür, bisher unverbundene, automatisierte Dateien und Datenquellen in Analyseplattformen zu vernetzen und die vorhandenen Datenbestände durch Suchfunktionen systematisch zu erschließen. Die Vorschriften ermächtigen die Polizei, in begründeten Einzelfällen zur vorbeugenden Bekämpfung schwerer Straftaten im Sinne von § 100a Abs. 2 StPO (Alternative 1) oder zur Abwehr von Gefahren für bestimmte Rechtsgüter (Alternative 2) gespeicherte personenbezogene Daten mittels automatisierter Anwendung im Rahmen einer Datenanalyse (Hessen) oder einer Datenauswertung (Hamburg) weiter zu verarbeiten. Auf diese Weise können nach Absatz 2 der jeweiligen Regelung insbesondere Beziehungen oder Zusammenhänge zwischen Personen, Personengruppierungen, Institutionen, Organisationen, Objekten und Sachen hergestellt, unbedeutende Informationen und Erkenntnisse ausgeschlossen, die eingehenden Erkenntnisse bekannten Sachverhalten zugeordnet sowie gespeicherte Daten statistisch ausgewertet werden.

In Hessen wird von den Befugnissen des § 25a HSOG jährlich tausendfach über die Analyseplattform „hessenDATA“ Gebrauch gemacht. Demgegenüber wird § 49 HmbPolDVG bislang nicht angewendet.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

A. Die Verfassungsbeschwerden sind nur zulässig, soweit sie gegen die Eingriffsschwelle in § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG und § 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG (Datenanalyse oder -auswertung zur vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten) gerichtet sind. Im Übrigen sind sie unzulässig.

B. Soweit sie zulässig sind, sind die Verfassungsbeschwerden auch begründet.

I. Werden gespeicherte Datenbestände mittels einer automatisierten Anwendung zur Datenanalyse oder -auswertung verarbeitet, greift dies in die informationelle Selbstbestimmung aller ein, deren Daten bei diesem Vorgang personenbezogen Verwendung finden. Ein Grundrechtseingriff liegt hier nicht nur in der weiteren Verwendung vormals getrennter Daten, sondern darüber hinaus in der Erlangung besonders grundrechtsrelevanten neuen Wissens, das durch die automatisierte Datenauswertung oder -analyse geschaffen werden kann.

II. Eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung bedarf verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Diese ist grundsätzlich möglich. Sie setzt insbesondere die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit voraus, dessen Anforderungen sich nach der konkreten Reichweite der Befugnis richten. Die angegriffenen Regelungen dienen dem legitimen Zweck, vor dem Hintergrund informationstechnischer Entwicklung die Wirksamkeit der vorbeugenden Bekämpfung schwerer Straftaten zu steigern, indem Anhaltspunkte für bevorstehende schwere Straftaten gewonnen werden, die im Datenbestand der Polizei ansonsten unerkannt blieben. Es wurde hier dargelegt, die Polizeibehörden seien infolge der insbesondere in den Bereichen terroristischer und extremistischer Gewalt sowie der organisierten und schweren Kriminalität zunehmenden Nutzung digitaler Medien und Kommunikationsmittel mit einem ständig anwachsenden und nach Qualität und Format zunehmend heterogenen Datenaufkommen konfrontiert. Die dazu in den polizeilichen Datenbeständen enthaltenen Informationen könnten gerade unter Zeitdruck kaum manuell gewonnen werden; eine automatisierte Datenanalyse sei daher von großer Bedeutung für erfolgreiches polizeiliches Handeln. Zur Steigerung der Wirksamkeit vorbeugender Straftatenbekämpfung sind die Regelungen auch im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet. Sie sind auch erforderlich, weil durch eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung für die Verhütung von Straftaten relevante Erkenntnisse erschlossen werden können, die auf andere, grundrechtsschonendere Weise nicht gleichermaßen zu gewinnen wären.

III. Spezielle Anforderungen an die Rechtfertigung des Grundrechtseingriffs ergeben sich hier aus dem Gebot der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Wie streng diese Anforderungen im Einzelnen sind, bestimmt sich nach dem Eingriffsgewicht der Maßnahme.

1. Das Eingriffsgewicht einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung ergibt sich zunächst aus dem Gewicht der vorausgegangenen Datenerhebungseingriffe; insoweit gelten die Grundsätze der Zweckbindung und Zweckänderung, wie sie bereits im Urteil zum Bundeskriminalamtgesetz näher konturiert wurden.

Danach kann der Gesetzgeber eine Datennutzung über das für die Datenerhebung maßgebende Verfahren hinaus als weitere Nutzung im Rahmen der ursprünglichen Zwecke dieser Daten erlauben (zweckwahrende Weiternutzung). Diese zweckwahrende Weiternutzung kommt seitens derselben Behörde im Rahmen derselben Aufgabe und für den Schutz derselben Rechtsgüter in Betracht, die bereits für die Datenerhebung maßgeblich waren. Grundsätzlich ist dann die weitere Nutzung als bloßer Spurenansatz erlaubt.

Der Gesetzgeber kann eine weitere Nutzung der Daten aber auch zu anderen Zwecken als denen der ursprünglichen Datenerhebung erlauben (zweckändernde Weiternutzung). Als Maßstab der Verhältnismäßigkeitsprüfung gilt insoweit das Kriterium der hypothetischen Datenneuerhebung. Danach kann der Gesetzgeber die zweckändernde Weiternutzung von Daten der Polizeibehörden grundsätzlich dann erlauben, wenn es sich um Informationen handelt, aus denen sich im Einzelfall konkrete Ermittlungsansätze zur Aufdeckung von vergleichbar gewichtigen Straftaten oder zur Abwehr von zumindest auf mittlere Sicht drohenden Gefahren für vergleichbar gewichtige Rechtsgüter wie die ergeben, zu deren Schutz bereits die entsprechende Datenerhebung zulässig ist.

In beiden Konstellationen gelten strengere Anforderungen für eine Weiternutzung von Daten aus Wohnraumüberwachungen und Online-Durchsuchungen.

Nach § 25a HSOG und § 49 HmbPolDVG können personenbezogene Daten sowohl zweckwahrend als auch zweckändernd weiterverarbeitet werden. Die beiden Vorschriften erlauben die Verarbeitung sehr großer Datenmengen, im Wesentlichen ohne selbst nach der Herkunft der Daten und den ursprünglichen Erhebungszwecken zu unterscheiden. Zur Wahrung der verfassungsrechtlichen Anforderungen der Zweckbindung müssten darum anderweitig hinreichend normenklare Regelungen getroffen sein, die die Einhaltung des Grundsatzes der Zweckbindung rechtlich und praktisch sichern.

2. Darüber hinaus hat die automatisierte Datenanalyse oder -auswertung ein Eigengewicht, weil die weitere Verarbeitung einmal erhobener und gespeicherter Daten durch eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung eigene Belastungseffekte haben kann, die über das Eingriffsgewicht der ursprünglichen Erhebung hinausgehen; insoweit ergeben sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne weitergehende Rechtfertigungsanforderungen.

a) Die automatisierte Datenanalyse oder -auswertung ist darauf gerichtet, neues Wissen zu erzeugen. Die handelnde Behörde kann aus den zur Verfügung stehenden Daten mit praktisch allen informationstechnisch möglichen Methoden weitreichende Erkenntnisse abschöpfen sowie aus der Auswertung neue Zusammenhänge erschließen. Zwar ist es für sich genommen nicht ungewöhnlich, dass die Polizei ihre einmal gewonnenen Erkenntnisse als Spuren- oder Ermittlungsansätze allein oder in Verknüpfung mit anderen ihr zur Verfügung stehenden Informationen als Ausgangspunkt weiterer Ermittlungen nutzt. Die automatisierte Analyse oder Auswertung geht aber schon deshalb weiter, weil sie die Verarbeitung großer und komplexer Informationsbestände ermöglicht. Je nach der eingesetzten Analysemethode können zudem durch verknüpfende Auswertung vorhandener Daten neue persönlichkeitsrelevante Informationen gewonnen werden, die ansonsten so nicht zugänglich wären. Die Maßnahme erschließt die in den Daten enthaltenen Informationen damit intensiver als zuvor. Sie bringt nicht nur in den Daten angelegte, aber zunächst mangels Verknüpfung verborgene Erkenntnisse über Personen hervor, sondern kann sich bei entsprechendem Einsatz einem „Profiling“ annähern. Denn es können sich softwaregestützt neue Möglichkeiten einer Vervollständigung des Bildes von einer Person ergeben, wenn Daten und algorithmisch errechnete Annahmen über Beziehungen und Zusammenhänge aus dem Umfeld der Betroffenen einbezogen werden. Der Grundsatz der Zweckbindung könnte dem Eingriffsgewicht dann für sich genommen nicht hinreichend Rechnung tragen.

b) Insoweit variieren die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer automatisierten Datenanalyse oder -auswertung, da deren eigene Eingriffsintensität je nach gesetzlicher Ausgestaltung ganz unterschiedlich sein kann.

aa) Generell wird das Gewicht eines Eingriffs in die informationelle Selbstbestimmung vor allem durch Art, Umfang und denkbare Verwendung der Daten sowie die Gefahr ihres Missbrauchs bestimmt. Daneben beeinflusst die zugelassene Methode der Datenanalyse oder -auswertung die Eingriffsintensität. Besonderes Eingriffsgewicht kann der Einsatz komplexer Formen des Datenabgleichs haben. Insgesamt ist die Methode automatisierter Datenanalyse oder -auswertung umso eingriffsintensiver, je breitere und tiefere Erkenntnisse über Personen dadurch erlangt werden können, je höher die Fehler- und Diskriminierungsanfälligkeit ist und je schwerer die softwaregestützten Verknüpfungen nachvollzogen werden können.

bb) Mit der vom Gesetzgeber durch Regelungen zu Art und Umfang der Daten und zur Begrenzung der Auswertungsmethode steuerbaren Eingriffsintensität korrespondieren die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Eingriffsvoraussetzungen. Die dem Eingriffsgewicht entsprechenden Anforderungen des Gebots der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne richten sich sowohl an das mit der Maßnahme zu schützende Rechtsgut als auch an die Eingriffsschwelle, also den Anlass der Maßnahme.

Ermöglicht die automatisierte Anwendung einen schwerwiegenden Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen, ist dies nur unter den engen Voraussetzungen zu rechtfertigen, wie sie allgemein für eingriffsintensive heimliche Überwachungsmaßnahmen gelten. Sie sind nur zum Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter – etwa Leib, Leben oder Freiheit der Person – zulässig. Die verfassungsrechtlich erforderliche Eingriffsschwelle ist hier die hinreichend konkretisierte Gefahr.

Hingegen können, wenneine konkretisierte Gefahr vorliegt, weniger gewichtige Eingriffe bereits dann zu rechtfertigen sein, wenn sie dem Schutz von Rechtsgütern von zumindest erheblichem Gewicht dienen, etwa zur Verhütung von Straftaten von zumindest erheblicher Bedeutung. Umgekehrt kann dann, sofern die Maßnahme dem Schutz hochrangiger, überragend wichtiger oder auch besonders gewichtiger Rechtsgüter dient, eine Eingriffsschwelle genügen, die noch hinter einer konkretisierten Gefahr zurückbleibt.

Sind die einbeziehbaren Daten gesetzlich nach Art und Umfang in einer Weise reduziert und die möglichen Methoden der automatisierten Analyse oder Auswertung von vornherein so eingeschränkt, dass eine auf die Befugnis gestützte Maßnahme nicht zu tieferen Einsichten in die persönliche Lebensgestaltung der Betroffenen führt als sie die Behörde, wenngleich aufwendiger und langsamer, auch ohne automatisierte Anwendung realistisch erlangen könnte, oder zielt die Befugnis von vornherein nur darauf, gefährliche oder gefährdete Orte zu identifizieren, ohne dabei personenbezogene Informationen zu generieren, kann sogar bereits die Einhaltung des Grundsatzes der Zweckbindung ausreichen, um die automatisierte Datenverarbeitung zu rechtfertigen.

cc) Die Schwelle einer wenigstens konkretisierten Gefahr für besonders gewichtige Rechtsgüter ist nur dann verfassungsrechtlich verzichtbar, wenn die zugelassenen Analyse- und Auswertungsmöglichkeiten normenklar und hinreichend bestimmt in der Sache so eng begrenzt sind, dass das Eingriffsgewicht der Maßnahmen erheblich gesenkt ist. Grundsätzlich kann der Gesetzgeber diese Regelungsaufgabe zwischen sich und der Verwaltung aufteilen. Er muss aber sicherstellen, dass unter Wahrung des Gesetzesvorbehalts insgesamt ausreichende Regelungen insbesondere zur Begrenzung von Art und Umfang der Daten und zur Beschränkung der Datenverarbeitungsmethoden getroffen werden. Zur Regelung von Aspekten, die nicht unmittelbar vom Gesetzgeber selbst zu normieren sind, kommt eine Verordnungsermächtigung in Betracht. Darüber hinaus kann der Gesetzgeber hier die Verwaltung verpflichten, die im Gesetz oder in Rechtsverordnungen geregelten Vorgaben in abstrakt-genereller Form weiter zu konkretisieren. In jedem Fall bedarf die Konkretisierung durch Verwaltungsvorschriften aber einer gesetzlichen Grundlage. Darin hat der Gesetzgeber sicherzustellen, dass die für die Anwendung der Bestimmungen im Einzelfall maßgebliche Konkretisierung und Standardisierung seitens der Behörden nachvollziehbar dokumentiert und veröffentlicht wird.

c) Nach den dargelegten generellen Maßstäben ist das spezifische Eingriffsgewicht der daten- und methodenoffen formulierten Befugnisse zur Datenanalyse oder -auswertung nach § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG und § 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG potentiell sehr hoch, so dass diese Regelungen von Verfassungs wegen strengen Eingriffsvoraussetzungen genügen müssen. Die Befugnisse lassen die automatisierte Verarbeitung unbegrenzter Datenbestände mittels rechtlich unbegrenzter Methoden zu. Sie erlauben der Polizei so, mit einem Klick umfassende Profile von Personen, Gruppen und Milieus zu erstellen und auch zahlreiche rechtlich unbeteiligte Personen weiteren polizeilichen Maßnahmen zu unterziehen, die in irgendeinem Zusammenhang Daten hinterlassen haben, deren automatisierte Auswertung die Polizei auf die falsche Spur zu ihnen gebracht hat. Daher gilt das Erfordernis einer konkretisierten Gefahr für besonders gewichtige Rechtsgüter.

aa) Die beiden Vorschriften begrenzen die Art und die Menge der bei einer Datenanalyse oder
-auswertung einsetzbaren Daten kaum. Sie regeln nicht, welche Arten von Daten und welche Datenbestände für eine automatisierte Datenanalyse oder -auswertung genutzt werden dürfen. Die Vorschriften unterscheiden insbesondere nicht nach Daten von Personen, die einen Anlass für die Annahme geben, sie könnten eine Straftat begehen oder in besonderer Verbindung zu solchen Personen stehen, und anderen Personen. Sie lassen eine breite Einbeziehung von Daten Unbeteiligter zu, die deshalb polizeilichen Ermittlungsmaßnahmen unterzogen werden könnten.

bb) Dem Wortlaut nach lassen sie zudem sehr weitreichende Methoden der automatisierten Datenanalyse und -auswertung zu. Der Gesetzgeber hat nicht eingegrenzt, welche Methoden der Analyse und Auswertung erlaubt sind. Die angegriffenen Vorschriften ermöglichen auch ein „Data-Mining“ bis hin zur Verwendung selbstlernender Systeme (KI). Dabei sind insbesondere auch offene Suchvorgänge zulässig. Die Datenauswertung oder -analyse darf darauf zielen, allein statistische Auffälligkeiten in den Datenmengen zu entdecken, aus denen dann, möglicherweise auch mit Hilfe weiterer automatisierter Anwendungen, weitere Schlüsse gezogen werden. Die Vorschriften schließen auch bezüglich der erzielbaren Suchergebnisse nichts aus. Nach dem Wortlaut könnte das
Suchergebnis in maschinellen Sachverhaltsbewertungen bestehen – bis hin zu Gefährlichkeitsaussagen über Personen im Sinne eines „predictive policing“.Es könnten also mittels Datenanalyse oder -auswertung neue persönlichkeitsrelevante Informationen erzeugt werden, auf die ansonsten kein Zugriff bestünde. Diese potenzielle Weite erzielbaren neuen Wissens wird auch nicht durch eingriffsmildernde Regelungen zu dessen Verwendung flankiert.

In Hamburg hat der Gesetzgeber den Versuch unternommen, so weitgehende Anwendungen auszuschließen, indem er anstelle des Wortes „Datenanalyse“ das Wort „Datenauswertung“ verwendet hat. Eine verfassungsrechtlich ausreichende Klarstellung, dass durch die automatisierte Anwendung lediglich mittels bestimmter Suchkriterien Übereinstimmungen ausgewiesen werden, nicht jedoch die polizeiliche Aus- und Bewertung der Daten ersetzt werden sollten, ist damit jedoch nicht gelungen.

cc) Die angegriffenen Befugnisse sind auch nicht dadurch verfassungsrechtlich relevant eingegrenzt, dass Techniken einer unbegrenzten Datenauswertung aktuell nicht zur Verfügung stünden. Selbst wenn Funktionsweiterungen erst infolge weiterer technischer Entwicklungen möglich sind, richten sich die verfassungsrechtlichen Anforderungen grundsätzlich nach den rechtlich schon jetzt geschaffenen Eingriffsmöglichkeiten.

IV. § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG und § 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG genügen danach nicht den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, weil sie keine hinreichende Eingriffsschwelle enthalten.

1. Soweit die angegriffenen Vorschriften zur Datenanalyse oder -auswertung zwecks Verhütung der in § 100a Abs. 2 StPO genannten Straftaten ermächtigen, ist der Eingriffsanlass angesichts des beschriebenen Eingriffsgewichts unverhältnismäßig weit und damit verfassungswidrig geregelt. Auch die weitere Maßgabe beider Regelungen, es müsse ein begründeter Einzelfall vorliegen, enthält hier kaum nähere inhaltliche Festlegungen. In der mündlichen Verhandlung wurde zwar ein engeres Konzept beschrieben, nach dem die Voraussetzung des „Einzelfalls“ in der hessischen Polizeipraxis verstanden und angewendet werde. Es werde durchgehend an eine bereits begangene Straftat oder wenigstens den durch Tatsachen belegten Verdacht einer bereits begangenen Straftat angeknüpft und daraus eine Prognose für die Zukunft hergeleitet: Zum einen müsse für die Vergangenheit davon ausgegangen werden können, dass bereits eine Straftat nach § 100a Abs. 2 StPO begangen wurde. Zum anderen müsse aufgrund dieser Situation für die Zukunft mit weiteren, gleichgelagerten Straftaten zu rechnen sein.

Ungeachtet der näheren Ausgestaltung der hessischen Anwendungspraxis sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen derzeit aber schon deshalb nicht erfüllt, weil das Konzept der hessischen Praxis von vornherein nicht auf die Identifizierung einer wenigstens konkretisierten Gefahr und der zu deren Abwehr geeigneten Daten zielt. Das ist aber wegen der daten- und methodenoffenen Ausgestaltung der Befugnis in § 25a HSOG und § 49 HmbPolDVG erforderlich.

Die angegriffenen Vorschriften regeln auch deshalb keine hinreichende Eingriffsschwelle, weil über den Katalog des § 100a Abs. 2 StPO auch Gefährdungstatbestände erfasst sind. Zwar ist dem Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht verwehrt, zur Bestimmung der Eingriffsvoraussetzungen auch an die Gefahr der Begehung von Vorfeldtatbeständen anzuknüpfen. Er muss dann aber eigens sicherstellen, dass in jedem Einzelfall eine konkrete oder konkretisierte Gefahr für die durch den Straftatbestand geschützten Rechtsgüter vorliegt. Daran fehlt es hier.

2. Die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im Sinne von § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG und § 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG umfasst nach der gesetzlichen Definition nicht nur die Verhütung von Straftaten, sondern auch die Vorsorge zur Verfolgung künftiger Straftaten. Polizeiliche Datenbestände sollen im Wege der automatischen Datenauswertung genutzt werden, um Erkenntnisse für die zukünftige Aufklärungsarbeit und Ermittlungsverfahren zu gewinnen. Dass bereits eine Sachlage gegeben sein müsste, bei der eine konkrete oder eine konkretisierte Gefahr besteht, ist dem nicht zu entnehmen. Damit fehlt es auch hier an jeder eingrenzenden Konkretisierung des Eingriffsanlasses.

C. § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG gilt bis zu einer Neuregelung, längstens bis zum 30. September 2023 fort. Angesichts der Bedeutung, die der Gesetzgeber der Befugnis für die staatliche Aufgabenwahrnehmung beimessen darf, und wegen ihrer Bedeutung für die hessische Polizeipraxis ist eine befristete Fortgeltung eher hinzunehmen als eine Nichtigerklärung.

Die befristete Anordnung der Fortgeltung bedarf mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch einschränkender Maßgaben, die eine Neuregelung durch den Gesetzgeber aber nicht präjudizieren. Unter Zugrundelegung des in der hessischen Praxis gewählten Konzepts wird angeordnet, dass von der Befugnis des § 25a Abs. 1 Alt. 1 HSOG nur Gebrauch gemacht werden darf, wenn bestimmte, genügend konkretisierte Tatsachen den Verdacht begründen, dass eine besonders schwere Straftat im Sinne von § 100b Absatz 2 StPO begangen wurde und aufgrund der konkreten Umstände eines solchen im Einzelfall bestehenden Tatverdachts für die Zukunft mit weiteren, gleichgelagerten Straftaten zu rechnen ist, die Leib, Leben oder den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes gefährden, wenn das Vorliegen dieser Voraussetzungen und die konkrete Eignung der verwendeten Daten zur Verhütung der zu erwartenden Straftat durch eigenständig auszuformulierende Erläuterung begründet wird und wenn sichergestellt ist, dass keine Informationen in die Datenanalyse einbezogen werden, die aus Wohnraumüberwachung, Online-Durchsuchung, Telekommunikationsüberwachung, Verkehrsdatenabfrage, länger andauernder Observation, unter Einsatz von verdeckt ermittelnden Personen oder Vertrauenspersonen oder aus vergleichbar schwerwiegenden Eingriffen in die informationelle Selbstbestimmung gewonnen wurden.

§ 49 Abs. 1 Alt. 1 HmbPolDVG ist nichtig. Es sind keine Umstände ersichtlich, die eine befristete Fortgeltungsanordnung erforderten und rechtfertigten.



EuGH: Suchmaschinenbetreiber Google muss offensichtlich unrichtige Inhalte nach Art. 17 DSGVO aus Suchindex entfernen - keine gerichtliche Entscheidung gegen Websitebetreiber erforderlich

EuGH
Urteil vom 08.12.2022
C-460/20
TU, RE gegen Google LLC


Der EuGH hat entschieden, dass der Suchmaschinenbetreiber Google offensichtlich unrichtige Inhalte nach Art. 17 DSGVO (Recht auf Vergessenwerden) aus dem Suchindex entfernen muss. Dabei muss der Betroffene zum Nachweis der Unrichtigkeit keine gerichtliche Entscheidung gegen den eigentlichen Websitebetreiber, auf dessen Website der gerügte Inhalt veröffentlicht wird, erwirken.

Tenor der Entscheidung:
1. Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung)

ist dahin auszulegen, dass

im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und den Rechten aus Art. 11 der Charta der Grundrechte vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in der Übersicht der Ergebnisse einer Suche der Link zu einem Inhalt, der Behauptungen enthält, die von der die Auslistung begehrenden Person für unrichtig gehalten werden, gelöscht wird, diese Auslistung nicht davon abhängt, dass die Frage der Richtigkeit des aufgelisteten Inhalts im Rahmen eines von dieser Person gegen den Inhalteanbieter eingelegten Rechtsbehelfs einer zumindest vorläufigen Klärung zugeführt worden ist.

2. Art. 12 Buchst. b und Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr und Art. 17 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung 2016/679

sind dahin auszulegen, dass

im Rahmen der Abwägung, die zwischen den Rechten aus den Art. 7 und 8 der Charta der Grundrechte und den Rechten aus Art. 11 der Charta der Grundrechte vorzunehmen ist, um einen an den Betreiber einer Suchmaschine gerichteten Auslistungsantrag zu prüfen, der darauf abzielt, dass in den Ergebnissen einer anhand des Namens einer natürlichen Person durchgeführten Bildersuche Fotos, die in Gestalt von Vorschaubildern angezeigt werden und diese Person darstellen, gelöscht werden, dem Informationswert dieser Fotos – unabhängig vom Kontext ihrer Veröffentlichung auf der Internetseite, der sie entnommen sind, aber unter Berücksichtigung jedes Textelements, das mit der Anzeige dieser Fotos in den Suchergebnissen unmittelbar einhergeht und Aufschluss über den Informationswert dieser Fotos geben kann – Rechnung zu tragen ist.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Google (Auslistung eines angeblich unrichtigen Inhalts) - Recht auf Löschung („Recht auf Vergessenwerden“): Der Betreiber einer Suchmaschine muss die in dem aufgelisteten Inhalt enthaltenen Informationen auslisten, wenn der Antragsteller nachweist, dass sie offensichtlich unrichtig sind

Allerdings ist es nicht erforderlich, dass sich dieser Nachweis aus einer gerichtlichen Entscheidung ergibt, die gegen den Herausgeber der Website erwirkt wurde.

Zwei Geschäftsführer einer Gruppe von Investmentgesellschaften forderten Google auf, aus den Ergebnissen einer anhand ihrer Namen durchgeführten Suche die Links zu bestimmten Artikeln auszulisten, die das Anlagemodell dieser Gruppe kritisch darstellten. Sie machen geltend, dass diese Artikel unrichtige Behauptungen enthielten. Ferner forderten sie Google auf, dass Fotos von ihnen, die in Gestalt von Vorschaubildern („thumbnails“) angezeigt werden, in der Übersicht der Ergebnisse einer anhand ihrer Namen durchgeführten Bildersuche gelöscht werden. In dieser Übersicht wurden nur die Vorschaubilder als solche angezeigt, ohne die Elemente des Kontexts der Veröffentlichung der Fotos auf der verlinkten Internetseite wiederzugeben.

Anders ausgedrückt, wurde bei der Anzeige des Vorschaubildes der ursprüngliche Kontext der Veröffentlichung der Bilder nicht benannt und war auch im Übrigen nicht erkennbar.

Google lehnte es ab, diesen Aufforderungen Folge zu leisten, und zwar unter Hinweis auf den beruflichen Kontext dieser Artikel und Fotos sowie unter Berufung darauf, nicht gewusst zu haben, ob die in diesen Artikeln enthaltenen Informationen unrichtig seien.

Der mit diesem Rechtsstreit befasste deutsche Bundesgerichtshof hat den Gerichtshof darum ersucht, die Datenschutz- Grundverordnung, die u. a. das Recht auf Löschung („Recht auf Vergessenwerden“) regelt, und die Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr unter Berücksichtigung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auszulegen.

In seinem heutigen Urteil erinnert der Gerichtshof daran, dass das Recht auf Schutz personenbezogener Daten kein uneingeschränktes Recht ist, sondern im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen und unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsprinzips gegen andere Grundrechte abgewogen werden muss. So sieht die Datenschutz-Grundverordnung ausdrücklich vor, dass das Recht auf Löschung ausgeschlossen ist, wenn die Verarbeitung u. a. für die Ausübung des Rechts auf freie Information erforderlich ist.

Die Rechte der betroffenen Person auf Schutz der Privatsphäre und auf Schutz personenbezogener Daten überwiegen im Allgemeinen gegenüber dem berechtigten Interesse der Internetnutzer, die potenziell Interesse an einem Zugang zu der fraglichen Information haben. Der Ausgleich kann aber von den relevanten Umständen des Einzelfalls abhängen, insbesondere von der Art dieser Information, von deren Sensibilität für das Privatleben der betroffenen Person und vom Interesse der Öffentlichkeit am Zugang zu der Information, das u. a. je nach der Rolle, die die Person im öffentlichen Leben spielt, variieren kann.

Allerdings kann das Recht auf freie Meinungsäußerung und Information dann nicht berücksichtigt werden, wenn zumindest ein für den gesamten Inhalt nicht unbedeutender Teil der in dem aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen unrichtig ist.

Was zum einen die Verpflichtungen der Person, die wegen eines unrichtigen Inhalts die Auslistung begehrt, anbelangt, betont der Gerichtshof, dass dieser Person der Nachweis obliegt, dass die Informationen offensichtlich unrichtig sind oder zumindest ein für diese Informationen nicht unbedeutender Teil dieser Informationen offensichtlich unrichtig ist. Damit dieser Person jedoch keine übermäßige Belastung auferlegt wird, die die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Auslistung beeinträchtigen könnte, hat sie lediglich die Beweise beizubringen, die von ihr vernünftigerweise verlangt werden können. Insoweit kann diese Person grundsätzlich nicht dazu verpflichtet werden, bereits im vorgerichtlichen Stadium eine – auch in Form einer im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes ergangene – gerichtliche Entscheidung vorzulegen, die gegen den Herausgeber der betreffenden Website erwirkt wurde.

Was zum anderen die Verpflichtungen und den Verantwortungsbereich des Betreibers der Suchmaschine anbelangt, führt der Gerichtshof aus, dass sich dieser Betreiber infolge eines Auslistungsbegehrens auf alle betroffenen Rechte und Interessen sowie auf alle Umstände des Einzelfalls zu stützen hat, um zu prüfen, ob ein Inhalt in der Ergebnisübersicht der über seine Suchmaschine durchgeführten Suche verbleiben kann. Gleichwohl ist dieser Betreiber nicht verpflichtet, bei der Suche nach Tatsachen, die von dem Auslistungsantrag nicht gestützt werden, aktiv mitzuwirken, um festzustellen, ob dieser Antrag stichhaltig ist.

Folglich ist der Betreiber der Suchmaschine dann, wenn die eine Auslistung begehrende Person relevante und hinreichende Nachweise vorlegt, die ihr Begehren stützen können und belegen, dass die in dem aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen offensichtlich unrichtig sind, verpflichtet, diesem Auslistungsantrag nachzukommen. Dies gilt umso mehr, wenn diese Person eine gerichtliche Entscheidung vorlegt, die das feststellt.

Dagegen ist bei Nichtvorliegen einer solchen gerichtlichen Entscheidung dieser Betreiber, wenn sich aus den von der betroffenen Person vorgelegten Nachweisen nicht offensichtlich ergibt, dass die in dem aufgelisteten Inhalt stehenden Informationen unrichtig sind, nicht verpflichtet, einem solchen Auslistungsantrag stattzugeben.

Allerdings muss sich die Person, die in einem solchen Fall die Auslistung begehrt, an die Kontrollstelle oder das Gericht wenden können, damit diese die erforderlichen Überprüfungen vornehmen und den Verantwortlichen anweisen, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen. Ferner verlangt der Gerichtshof von dem Betreiber der Suchmaschine, dass er die Internetnutzer über ein Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren informiert, in dem die Frage geklärt werden soll, ob in einem Inhalt enthaltene Informationen unrichtig sind, sofern dem Betreiber dieses Verfahren zur Kenntnis gebracht worden ist.

In Bezug auf die Anzeige der Fotos in Gestalt von Vorschaubildern („thumbnails“) betont der Gerichtshof, dass die nach einer namensbezogenen Suche erfolgende Anzeige von Fotos der betroffenen Person in Gestalt von Vorschaubildern einen besonders starken Eingriff in die Rechte dieser Person auf Schutz des Privatlebens und der personenbezogenen Daten dieser Person darstellen kann.

Der Gerichtshof stellt fest, dass der Betreiber einer Suchmaschine, wenn er in Bezug auf in Gestalt von Vorschaubildern angezeigte Fotos mit einem Auslistungsantrag befasst wird, prüfen muss, ob die Anzeige der fraglichen Fotos erforderlich ist, um das Recht auf freie Information auszuüben, das den Internetnutzern zusteht, die potenziell Interesse an einem Zugang zu diesen Fotos haben. Insoweit stellt der Beitrag zu einer Debatte von allgemeinem Interesse einen entscheidenden Gesichtspunkt dar, der bei der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte zu berücksichtigen ist.

Der Gerichtshof stellt klar, dass eine unterschiedliche Abwägung der widerstreitenden Rechte und Interesse vorzunehmen ist: Einerseits dann, wenn es sich um Artikel handelt, die mit Fotos versehen sind, die in ihrem ursprünglichen Kontext die in diesen Artikeln enthaltenen Informationen und die dort zum Ausdruck gebrachten Meinungen veranschaulichen, und andererseits dann, wenn es sich um Fotos handelt, die in Gestalt von Vorschaubildern in der Ergebnisübersicht außerhalb des Kontexts angezeigt werden, in dem sie auf der ursprünglichen Internetseite veröffentlicht worden sind. Im Rahmen der Abwägung hinsichtlich der in Gestalt von Vorschaubildern angezeigten Fotos kommt der Gerichtshof zu dem Schluss, dass ihrem Informationswert unabhängig vom Kontext ihrer Veröffentlichung auf der Internetseite, der sie entnommen sind, Rechnung zu tragen ist. Allerdings ist jedes Textelement zu berücksichtigen, das mit der Anzeige dieser Fotos in den Suchergebnissen unmittelbar einhergeht und Aufschluss über den Informationswert dieser Fotos geben kann.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



Neuer Versuch des BMJ zur Vorratsdatenspeicherung: Entwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten in der Strafprozessordnung

Das Bundesministeriums der Justiz (BMJ) versucht sich abermals an einer unionsrechtskonformen Regelung zur Vorratsdatenspeicherung und hat den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung einer Sicherungsanordnung für Verkehrsdaten in der Strafprozessordnung vorgelegt.

Aus dem Entwurf:
A. Problem und Ziel
Mit Urteil vom 20. September 2022 – C-793/19 und C-794/19 – hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entschieden, dass die Vorschriften des deutschen Rechts zur sogenannten Vorratsdatenspeicherung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar sind. Diese Entscheidung fügt sich in die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs seit dem Jahr 2014 ein, wonach eine generelle und unterschiedslose Vorratsspeicherung sämtlicher Verkehrs- und Standortdaten aller Nutzer auch zur Bekämpfung schwerer Kriminalität nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Schon zuvor liefen die im Jahr 2015 eingeführten Regelungen zur „Vorratsdatenspeicherung“ in den §§ 175 bis 181 des Telekommunikationsgesetzes (TKG) und in § 100g Absatz 2 der Strafprozessordnung (StPO) weitgehend leer. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Juni 2017 im Eilverfahren die Speicherpflicht gegenüber den klagenden Telekommunikationsdienste-Anbietern einstweilig ausgesetzt hatte, verzichtete die Bundesnetzagentur nämlich bis zur endgültigen Klärung, ob diese Vorschriften europarechtskonform sind, auf jegliche Maßnahmen zur Durchsetzung der gesetzlich nach wie vor bestehenden Speicherpflicht.

Diese Klärung hat der EuGH nunmehr vorgenommen. Aus seinem Urteil folgt, dass der Versuch einer unionsrechtskonformen Ausgestaltung einer anlasslosen „Vorratsdatenspeicherung“ zu Strafverfolgungszwecken im nationalen Recht gescheitert ist; eine Neuauflage der allgemeinen und unterschiedslosen „Vorratsdatenspeicherung“ aller Verkehrsdaten ist aufgrund der höchstrichterlichen Vorgaben nicht möglich.

Zur effektiven Erlangung von digitalen Beweismitteln steht aber eine Alternative zur Verfügung. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 20. September 2022 ausdrücklich ausgeführt, dass mit einer anlassbezogenen Sicherung von Verkehrsdaten für einen festgelegten Zeitraum, die einer wirksamen richterlichen Kontrolle unterliegt, ein grundrechtsschonenderes und effektives Ermittlungsinstrument vorhanden ist, welches einer unionsrechtskonformen Regelung im Strafverfahrensrecht zugänglich ist. Diese Vorgaben des Gerichtshofs zu einer unionsrechtskonformen, anlassbezogenen Verkehrsdatenspeicherung sollen mit diesem Gesetz umgesetzt werden.

B. Lösung
Mit diesem Gesetz werden zum einen als zwingende Folge des Urteils des EuGH vom 20. September 2022 – C-793/19 und C-794/19 – die gegen das Unionsrecht verstoßenden Regelungen der „Vorratsdatenspeicherung“ in § 100g Absatz 2 StPO und in den §§ 175 bis 181 TKG aufgehoben.

Zugleich wird in einem neu gefassten § 100g Absatz 5 StPO das Ermittlungsinstrument einer Sicherungsanordnung bereits vorhandener und künftig anfallender Verkehrsdaten eingeführt. Deren Sicherung soll anlassbezogen zur Verfolgung von erheblichen Straftaten zulässig sein, soweit die Verkehrsdaten für die Erforschung des Sachverhalts oder zur Ermittlung des Aufenthaltsorts eines Beschuldigten von Bedeutung sein können. Die Maßnahme soll im Grundsatz nur auf Anordnung eines Richters zulässig sein. Damit wird die Menge der zu speichernden Daten auf das notwendige Maß begrenzt, da nur die bei den Anbietern von Telekommunikationsdiensten aus geschäftlichen Gründen ohnehin bereits vorhandenen und künftig anfallenden Verkehrsdaten gesichert werden dürfen („Einfrieren“). Diese Daten stehen den Strafverfolgungsbehörden für eine begrenzte Zeit für eine spätere Erhebung und Auswertung zur Verfügung, die freilich einer erneuten richterlichen Anordnung bedarf („Auftauen“).

Die vorgeschlagene Regelung – auch „Quick-Freeze-Regelung“ genannt – steht im Einklang mit den Anforderungen, die der EuGH in seiner Rechtsprechung zur „Vorratsdatenspeicherung“ seit 2014 formuliert hat. Auch das von der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnete und ratifizierte Übereinkommen des Europarats über Computerkriminalität, die sogenannte Budapest-Konvention, enthält in Artikel 16 eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, die zuständigen Behörden zu ermächtigen, die umgehende Sicherung von Verkehrsdaten anzuordnen.

Es handelt sich also um eine neue Ausgestaltung der verpflichtenden Verkehrsdatenspeicherung, die einerseits den Grundrechtsschutz der Nutzer von Telekommunikationsdiensten gewährleistet. Andererseits wird den Strafverfolgungsbehörden ein rechtssicheres und effektives Ermittlungsinstrument zur Bekämpfung schwerer Kriminalität im digitalen Raum an die Hand gegeben. Damit trägt der Entwurf zur Erreichung von Ziel 16 „Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen“ der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung bei. Die Folgeänderungen im TKG und in der Telekommunikations-Überwachungsverordnung (TKÜV) dienen dazu, auch die dortigen Vorschriften zur „Vorratsdatenspeicherung“ aufzuheben und die aus der neuen Sicherungsanordnung folgenden Speicherungs-, Abfragungs- , Übermittlungs- und Löschungspflichten für die Telekommunikationsdienste-Anbieter zu regeln. Neben weiteren Folgeänderungen im Bundespolizeigesetz (BPolG), BSI-Gesetz, Bundeskriminalamtgesetz (BKAG), Zollfahndungsdienstgesetz (ZFdG) und im Einführungsgesetz zur Strafprozessordnung (EGStPO) soll durch Änderungen im Justizvergütungsund -entschädigungsgesetz (JVEG) sichergestellt werden, dass die verpflichteten Unternehmen auch für ihren im Einzelfall im Rahmen der Sicherungsanordnung nach § 100g Absatz 5 StPO-E anfallenden Aufwand angemessen entschädigt werden.


Sie finden den Entwurf hier:

LAG Niedersachsen: Beweisverwertungsverbot im Kündigungsschutzprozess für datenschutzwidrige Aufzeichnungen einer Videoüberwachungsanlage

LAG Niedersachsen
Urteil vom 06.07.2022
8 Sa 1150/20


Das LAG Niedersachsen hat entschieden, dass ein Beweisverwertungsverbot in einem Kündigungsschutzprozess für datenschutzwidrige Aufzeichnungen einer Videoüberwachungsanlage besteht.

Aus den Entscheidungsgründen:
Zu Gunsten des Klägers greift zudem ein Beweisverwertungsverbot ein. Hierauf stützt die Kammer ihre Erwägungen im Verhältnis zu den Ausführungen unter aaa) selbstständig und tragend.

Auf die hier streitgegenständliche behauptete Pflichtwidrigkeit vom 02.06.2018 – bezüglich der anderen beiden Pflichtwidrigkeiten stützt sich die Beklagte nicht auf Videoaufzeichnungen - ist das Bundesdatenschutzgesetz in der ab dem 25.05.2018 geltenden Fassung (im Folgenden nur: BDSG) sowie die Datenschutzgrundverordnung der Europäischen Union (EU-Verordnung 2016/679) anzuwenden.

Die Datenschutz-Grundverordnung (im Folgenden nur: DSGVO) ist am 24. Mai 2016 in Kraft getreten. Sie beansprucht seit dem 25.05.2018 in der gesamten Europäischen Union (EU) Geltung und hat die bisherige allgemeine Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG ersetzt.

Die hier streitgegenständlichen Vorgänge bezieht sich auf einen Tattag, der zeitlich nach dem 25.05.2018 gelegen ist. Die Beklagte hatte bei dem Einsatz der Videoüberwachungsanlage an den betreffenden Tagen die Bestimmungen der DSGVO und des BDSG in der ab dem 25.05.2018 geltenden Fassung zu beachten.

ccc) Für ein Beweisverwertungsverbot kommt es auf die Frage an, ob ein Eingriff in das Recht des Klägers auf informationelle Selbstbestimmung vorliegt und ob dieser Eingriff zulässig ist. Sofern die Datenerhebung und -verwertung nach den Bestimmungen des BDSG erfolgen durfte, kommt ein Beweisverwertungsverbot nicht in Betracht. Ist dies nicht der Fall, muss im Einzelfall geprüft werden, ob die Verwertung der so gewonnenen Beweismittel durch das Gericht im Einzelfall einen Grundrechtsverstoß darstellt. Dies entspricht der Rechtsprechung des Zweiten Senats des Bundesarbeitsgerichts (vgl. BAG 23. August 2018 - 2 AZR 133/18 - BAGE 163, 239), der das erkennende Gericht sich anschließt.

(1) Weder die Zivilprozessordnung noch das Arbeitsgerichtsgesetz enthalten Bestimmungen, die die Verwertbarkeit von Erkenntnissen oder Beweismitteln einschränken, die eine Arbeitsvertragspartei rechtswidrig erlangt hat. Ein Verwertungsverbot kann sich allerdings aus einer verfassungskonformen Auslegung des Verfahrensrechts ergeben. Da der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG aber grundsätzlich gebietet, den Sachvortrag der Parteien und die von ihnen angebotenen Beweise zu berücksichtigen, kommt ein „verfassungsrechtliches Verwertungsverbot“ dann in Betracht, wenn dies wegen einer grundrechtlich geschützten Position einer Prozesspartei zwingend geboten ist (BAG 23. August 2018 - 2 AZR 133/18 - Rn. 14 mwN, BAGE 163, 239). Dies setzt in aller Regel voraus, dass die betroffenen Schutzzwecke des verletzten Grundrechts der Verwertung der Erkenntnis oder des Beweismittels im Rechtsstreit entgegenstehen. Die prozessuale Verwertung muss selbst einen Grundrechtsverstoß darstellen. Das ist der Fall, wenn das nach Art. 1 Abs. 3 GG unmittelbar an die Grundrechte gebundene Gericht ohne Rechtfertigung in eine verfassungsrechtlich geschützte Position einer Prozesspartei eingriffe, indem es eine Persönlichkeitsrechtsverletzung durch einen Privaten perpetuierte oder vertiefte. Insofern kommt die Funktion der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat zum Tragen. Auf eine nicht gerechtfertigte Beeinträchtigung des Persönlichkeitsrechts durch einen Privaten darf kein verfassungswidriger Grundrechtseingriff durch ein Staatsorgan „aufgesattelt“ werden.

(2) Obgleich die Vorschriften des BDSG nicht die Zulässigkeit von Parteivorbringen und seine Verwertung im Verfahren vor den Gerichten für Arbeitssachen begrenzen, und obwohl es für das Eingreifen eines Verwertungsverbots darauf ankommt, ob bei der Erkenntnis- oder Beweisgewinnung das allgemeine Persönlichkeitsrecht verletzt worden ist, sind die einfachrechtlichen Vorgaben insofern nicht ohne Bedeutung. Die Bestimmungen des BDSG über die Anforderungen an eine zulässige Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung konkretisieren und aktualisieren für den Einzelnen den Schutz seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und am eigenen Bild (vgl. vor allem die in §§ 32 ff. BDSG n.F. geregelten Rechte der betroffenen Person). Sie regeln, in welchem Umfang im Anwendungsbereich des Gesetzes Eingriffe durch öffentliche oder nicht-öffentliche Stellen in diese Rechtspositionen erlaubt sind (BAG 23. August 2018 - 2 AZR 133/18 - Rn. 15 mwN, BAGE 163, 239 zum BDSG a.F.).

(3) § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG stellt für die Verarbeitung und Nutzung von personenbezogenen Daten eines Beschäftigten, die der Arbeitgeber durch eine Videoüberwachung öffentlich zugänglicher Räume erlangt hat, eine eigenständige, von den Voraussetzungen des § 4 BDSG unabhängige Erlaubnisnorm dar. Ist danach eine bestimmte Datenverarbeitung oder -nutzung rechtmäßig, kommt es im Verhältnis zu den betroffenen Arbeitnehmern nicht darauf an, ob die Anforderungen gemäß § 4 BDSG erfüllt sind. Die für die Überwachung im öffentlichen Raum geltende Bestimmung schließt eine eigenständige Rechtfertigung der Datenverarbeitung nach § 26 BDSG nicht aus. Diese Vorschrift dient speziell dem Ausgleich der Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in Bezug auf den Beschäftigtendatenschutz (BT-Drs. 16/13657 S. 20 f.). Dagegen soll § 4 BDSG - unabhängig von den aufgrund der engeren schuldrechtlichen Bindungen im Rahmen eines Dauerschuldverhältnisses bestehenden Interessen - den Schutz der Allgemeinheit vor einem Ausufern der Videoüberwachung im öffentlichen Raum gewährleisten. Für die Eigenständigkeit der Erlaubnistatbestände des § 26 BDSG spricht auch, dass die Videoüberwachung nicht öffentlich zugänglicher (Arbeits-)Räume im BDSG nicht gesondert geregelt ist. Ihre Zulässigkeit richtet sich daher, soweit Arbeitnehmer betroffen sind, allein nach § 26 BDSG. Es erschiene aber wenig plausibel, wenn bezogen auf den Beschäftigtendatenschutz von Arbeitnehmern, die in öffentlich zugänglichen Räumen arbeiten, andere Maßstäbe gelten sollten als für Arbeitnehmer, die dies nicht tun (vgl. zu alledem - noch zum BDSG a.F. - BAG 23. August 2018 – 2 AZR 133/18 –, BAGE 163, 239; BAG 22. September 2016 - 2 AZR 848/15 - Rn. 43, BAGE 156, 370).

(4) Die Verarbeitung und Nutzung von rechtmäßig erhobenen personenbezogenen Daten nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BDSG muss „erforderlich“ sein. Es hat eine „volle“ Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen (vgl. BAG 17. November 2016 - 2 AZR 730/15 - Rn. 30). Die Verarbeitung und die Nutzung der personenbezogenen Daten müssen geeignet, erforderlich und unter Berücksichtigung der gewährleisteten Freiheitsrechte angemessen sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen. Es dürfen keine anderen, zur Zielerreichung gleich wirksamen und das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen weniger einschränkenden Mittel zur Verfügung stehen. Die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Angemessenheit) ist gewahrt, wenn die Schwere des Eingriffs bei einer Gesamtabwägung nicht außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe steht. Die Datenverarbeitung und -nutzung darf keine übermäßige Belastung für die Betroffenen darstellen und muss der Bedeutung des Informationsinteresses des Arbeitgebers entsprechen (BAG 27. Juli 2017 - 2 AZR 681/16 - Rn. 30, BAGE 159, 380). Dies beurteilt sich ggf. für jedes personenbezogene Datum gesondert.

(5) War die betreffende Maßnahme nach den Vorschriften des BDSG zulässig, liegt insoweit keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in Gestalt des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung und am eigenen Bild vor. Ein Verwertungsverbot scheidet von vornherein aus. So liegt es namentlich, wenn die umfassende Abwägung der widerstreitenden Interessen und Grundrechtspositionen im Rahmen der Generalklauseln des § 32 Abs. 1 BDSG aF (jetzt: § 26 Abs. 1 BDSG) zugunsten des Arbeitgebers ausfällt (BAG 23. August 2018 - 2 AZR 133/18 - Rn. 15, BAGE 163, 239).

(6) War die fragliche Maßnahme nach den Bestimmungen des BDSG nicht erlaubt, muss gesondert geprüft werden, ob die Verwertung von im Zuge dieser Maßnahme gewonnenen Erkenntnissen oder Beweismitteln durch das Gericht einen Grundrechtsverstoß darstellen würde. Daran kann es zum einen fehlen, wenn die Unzulässigkeit der vom Arbeitgeber durchgeführten Maßnahme allein aus der (Grund-)Rechtswidrigkeit der Datenerhebung(en) gegenüber anderen Beschäftigten resultiert oder die verletzte einfachrechtliche Norm keinen eigenen „Grundrechtsgehalt“ hat. Zum anderen kann es sein, dass die gerichtliche Verwertung weder einen ungerechtfertigten Grundrechtseingriff darstellt noch aufgrund einer verfassungsrechtlichen Schutzpflicht zu unterlassen ist, weil durch sie die ungerechtfertigte „vorprozessuale“ Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts einer Prozesspartei nicht perpetuiert oder vertieft würde und der Verwertung auch Gründe der Generalprävention nicht entgegenstehen (BAG 23. August 2018 - 2 AZR 133/18 - Rn. 15 mwN, BAGE 163, 239).

(7) Sofern danach ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht besteht, erfasst dieses nicht allein das unrechtmäßig erlangte Beweismittel selbst, sondern steht auch einer mittelbaren Verwertung, wie der Vernehmung von Zeugen über den Inhalt des Beweismittels, entgegen (vgl. BVerfG 31. Juli 2001 - 1 BvR 304/01 - zu II 1 b bb der Gründe; BAG 20. Oktober 2016 - 2 AZR 395/15 - Rn. 19, BAGE 157, 69). In solchen Fällen darf folgerichtig weder eine Inaugenscheinnahme der Videoaufnahmen erfolgen, noch darf das Gericht dem weiteren Beweisangebot der Beklagten auf Vernehmung der mit der Auswertung der Aufnahmen betrauten Personen als Zeugen nachgehen.

ddd) Die Heranziehung, Betrachtung und Auswertung der Videoaufzeichnungen der an den Toreingängen zum Betriebsgelände der Beklagten installierten Kameras zum Zwecke der Prüfung, ob der Kläger am 02.06.2018 das Betriebsgelände betreten und verlassen hat, stellt eine Verarbeitung personenbezogener Daten von Beschäftigten iSd. § 26 Abs. 1 BDSG dar. Sie ist vorliegend weder für die Durchführung noch für die Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses (Satz 1) noch für die Aufdeckung einer Straftat (Satz 2) erforderlich.

(1) Es fehlt bereits an der grundsätzlichen – abstrakten - Geeignetheit des eingesetzten Mittels der Videoüberwachung, um den hier von der Beklagten erstrebten Zweck der Überprüfung eines vertragsgemäßen Verhaltens sowie des Nachweises eines Arbeitszeitbetruges zu führen. Die Aufzeichnungen der Videokameras dokumentieren lediglich den Zutritt der Arbeitnehmer auf das Werksgelände sowie das Verlassen desselben. Die Arbeitszeit beginnt nach der bei der Beklagten geltenden Arbeitsordnung nicht mit dem Betreten des Werksgeländes und endet nicht mit dessen Verlassen. Sie beginnt erst und endet schon mit dem Erreichen bzw. Verlassen des auf dem weitläufigen Betriebsgelände befindlichen Arbeitsplatzes. Aus der Videoaufzeichnung kann nur auf eine Anwesenheit des Arbeitnehmers auf dem Betriebsgelände, nicht aber auf seine Anwesenheit am Arbeitsplatz geschlossen werden. Zudem ist fraglich, ob Arbeitnehmer, die das Werksgelände mit Schutzkleidung oder – beispielsweise im Winter – mit Kopfbedeckung betreten, stets hinreichend klar identifiziert werden können. Angesichts des Umstandes, dass der Zugang zum Werksgelände durch zahlreiche Eingänge möglich ist, wären Schlüsse auf die An- oder Abwesenheit von Arbeitnehmern auf dem Werksgelände zudem grundsätzlich nur dann mit hinreichender Sicherheit zu ziehen, wenn die Aufzeichnungen sämtlicher Videokameras für den betreffenden Zeitraum lückenlos, also ohne zeitliche Unterbrechungen, gefertigt und auch ausgewertet würden, da ansonsten nicht sicher davon ausgegangen werden kann, dass sämtliche Zutritte, auch z.B. solche, die im Anschluss an das Verlassen des Werksgeländes (z.B. nach einer Pause) erneut erfolgen, auch erkannt werden.

(2) Das Mittel der Videoüberwachung und -aufzeichnung ist darüber hinaus zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat auch nicht erforderlich, da hierzu andere Mittel zur Verfügung stehen, die die Ableistung von Arbeitszeiten verlässlicher dokumentieren. So kann an dem Ort, an dem die Arbeitsleistung nach der Arbeitsordnung der Beklagten beginnt und endet – d.h., der Betriebsabteilung auf dem Gelände, in der sich der Arbeitsplatz befindet – eine Anwesenheitserfassung der Beschäftigten durch Vorgesetzte oder auch durch technische Einrichtungen wie eine Stempelkarte erfolgen. Soll die Dokumentation der An- und Abwesenheit bereits beim Zu- und Abgang auf bzw. vom Werksgelände erfolgen, kann auch im Zusammenhang damit eine elektronische Anwesenheitserfassung in Form von Karten und Kartenlesegeräten an den Werkstoren Verwendung finden, wobei dann die Befugnisse der Beklagten zur Auswertung dieser Daten nicht – wie vorliegend geschehen – durch Betriebsvereinbarung dahingehend eingeschränkt werden dürften, dass eine personenbezogene Auswertung nicht stattfinde. Weiß der Arbeitnehmer, dass er sich mit der Verwendung einer Karte nicht nur den Zugang freischaltet, sondern seine Anwesenheitszeiten zum Zwecke des Nachweises der Erbringung von Arbeitsleistung erfasst, und ist die Befugnis der Auswertung der gewonnenen Daten zu diesem Zweck auch klar geregelt, stünde deren Verwertung – auch im Rahmen einer gerichtlichen Auseinandersetzung über die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses – nichts entgegen.

(3) Das Mittel der Videoüberwachung ist schließlich vorliegend zur Kontrolle geleisteter Arbeitszeiten und zur Aufdeckung einer damit im Zusammenhang stehenden Straftat auch nicht angemessen. Sowohl die sachliche als auch die zeitliche Intensität des Eingriffs sind erheblich und stehen vorliegend außer Verhältnis zu dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe. Die Videokameras erfassen sämtliche Zu- und Abgänge von Arbeitnehmern an sämtlichen Eingängen zum Betriebsgelände durch Bildaufzeichnungen. Aus ihnen lassen sich auch Schlüsse darauf ziehen, mit welchem zeitlichen Vorlauf zum Beginn der Arbeitszeit der Arbeitnehmer das Gelände betritt, wie er gekleidet ist, ob und von wem er ggf. begleitet wird u.a.m. Vor allem aber hat die Beklagte bei ihren Untersuchungen von Unregelmäßigkeiten auf Videoaufzeichnungen zurückgegriffen, die erhebliche Zeit zurücklagen. Der Untersuchungsbericht der Konzern Sicherheit Forensik führt als Datum den „07.06.2019“ auf. Da der Bericht zeitlich nachgelagerte Ereignisse enthält, so etwa die sämtlich am 26.08.2019 durchgeführten Befragungen des Klägers und seiner Kollegen, kann der Bericht nicht am 07.06.2019 abgeschlossen worden sein. Ob es sich um den Beginn der Ermittlungen handelt, ist nicht vollständig klar. Jedenfalls liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Beginn der Ermittlungen eine maßgebliche Zeit vor dem 07.06.2019 lag. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die Beklagte sich zur Aufklärung der anonym erhobenen Vorwürfe der Sichtung von Videoaufzeichnungen bedient hat, die seinerzeit bereits (teilweise) ein Jahr lang zurücklagen. Diese Vorgehensweise widerspricht eklatant den Grundsätzen der Datenminimierung und Speicherbegrenzung, die in Art. 5 DSGVO als dem maßgeblichen und nicht durch Art. 88 DSGVO verdrängten europäischen Recht ihren Niederschlag gefunden haben, wobei angesichts des zeitlichen Ausmaßes des Rückgriffs unentschieden bleiben kann, ob die – auch aus Sicht der Kammer recht weitgehende - Ansicht der Datenschutzaufsichtsbehörden (DSK, Kurzpapier Nr. 15) zutrifft, dass Videoaufzeichnungen regelmäßig binnen 48 Stunden zu löschen sind.

(4) Die Sachlage ändert sich auch nicht dadurch, dass die Beklagte mit der Einrichtung der Videoüberwachung primär die Verhinderung des Zutritts Unbefugter auf das Betriebsgelände sowie die Unterbindung bzw. den Nachweis von Eigentumsdelikten verfolgt bzw. verfolgen mag. Auch wenn man davon ausgeht, dass diese Zwecke eine präventive, offene Videoaufzeichnung und ggf. auch die Speicherung der Aufzeichnungen für längere Zeiträume rechtfertigen könnten, ist es der Beklagten verwehrt, diese Aufzeichnungen zum Zweck der Aufklärung des Verdachts eines Arbeitszeitbetruges heranzuziehen. Das gilt jedenfalls im vorliegenden Fall, in dem die Beklagte die bei ihr vorgehaltenen Aufzeichnungen gezielt im Hinblick auf den Verdacht eines Arbeitszeitbetruges gesichtet hat. Es handelt sich damit nicht um einen ggf. verwertbaren „Zufallsfund“, der aus Anlass einer zulässigen, anders gearteten Verwertung der Videoaufzeichnungen entstanden ist.

eee) Die Verwertung der im Zuge der Videoüberwachung gewonnenen Erkenntnisse und Beweismittel der Beklagten durch das Gericht würde vorliegend auch einen Grundrechtsverstoß darstellen. Die seitens der Beklagten durchgeführte Maßnahme ist nicht allein deshalb unzulässig, weil ihre Datenerhebung gegenüber anderen Beschäftigten rechtswidrig wäre, sie ist vielmehr gerade deshalb unzulässig, weil sie sachlich und zeitlich in erheblicher Weise in das Persönlichkeitsrecht (Art. 1 GG) des Klägers eingreift. Würde eine gerichtliche Verwertung erfolgen, stellte dies einen erneuten ungerechtfertigten Grundrechtseingriff dar und wäre aufgrund der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht des Gerichts zu unterlassen, weil hierdurch die ungerechtfertigte „vorprozessuale“ Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers in erheblichem Maße perpetuiert und vertieft würde. Schließlich gebieten auch Gründe der Generalprävention, die Videoaufzeichnungen der Beklagten nicht zum Zweck des Nachweises eines behaupteten, lange Zeit zurückliegenden Arbeitszeitbetruges zu verwerten.

cc) Das Gericht hatte auch keinen Zeugenbeweis zu erheben.

Aus dem oben Ausgeführten folgt, dass das Beweisverwertungsverbot hinsichtlich der Videoaufzeichnungen sich auf die Vernehmung der Zeugen erstreckt, die nach dem Beweisangebot der Beklagten über die bei Sichtung des Videos gemachten Beobachtungen berichten sollen.


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EuGH: Französische Regelung zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs und Insidergeschäften unionsrechtswidrig

EuGH
Urteil vom 21.09.2022
in den verbundenen Rechtssachen C-339/20 | VD und C-397/20 | SR


Der EuGH hat entschieden, dass die französische Regelung zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs und von Insidergeschäften unionsrechtswidrig ist.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Es ist nicht zulässig, dass die Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation die Verkehrsdaten ab dem Zeitpunkt der Speicherung zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs, u. a. von Insidergeschäften, präventiv ein Jahr lang allgemein und unterschiedslos auf Vorrat speichern

Ein nationales Gericht kann die Feststellung, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine solche Vorratsspeicherung der Verkehrsdaten vorsehen, ungültig sind, nicht in ihren zeitlichen Wirkungen beschränken.

Gegen VD und SR laufen in Frankreich Strafverfahren wegen Insiderhandels, Hehlerei im Zusammenhang mit Insiderhandel, Beihilfe, Bestechung und Geldwäsche. Ausgangspunkt der Ermittlungen waren im Rahmen der Bereitstellung von Diensten der elektronischen Kommunikation generierte personenbezogene Daten betreffend Telefongespräche von VD und SR, die dem Ermittlungsrichter von der Finanzaufsichtsbehörde (Autorité des marchés financiers, AMF) nach entsprechenden Ermittlungen zur Verfügung gestellt worden waren. VD und SR haben bei der Cour de cassation (Kassationsgerichtshof, Frankreich) gegen zwei Urteile der Cour d’appel de Paris (Berufungsgericht Paris) Kassationsbeschwerden eingelegt. Sie wenden sich dagegen, dass sich die AMF bei der Erhebung der Daten auf innerstaatliche Rechtsvorschriften gestützt habe, die, soweit sie eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der Verbindungsdaten vorsähen, unionsrechtswidrig seien und in denen die Befugnis der Ermittler der AMF zur Anforderung gespeicherter Daten nicht begrenzt werde. Sie berufen sich insoweit auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs.

Die Vorlagefragen der Cour de cassation betreffen innerstaatliche Rechtsvorschriften, nach denen die Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation die Verkehrsdaten ab dem Zeitpunkt der Speicherung zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs, u. a. von Insidergeschäften, präventiv ein Jahr lang allgemein und unterschiedslos auf Vorrat speichern. Es geht im Wesentlichen um das Zusammenspiel der einschlägigen Vorschriften der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation im Lichte der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden Charta) und der einschlägigen Vorschriften der Marktmissbrauchsrichtlinie und der Marktmissbrauchsverordnung. Für den Fall, dass die betreffenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften unionsrechtswidrig sein sollten, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ihre Wirkungen vorläufig aufrechterhalten werden können, um Rechtsunsicherheit zu vermeiden und es zu ermöglichen, dass die auf ihrer Grundlage auf Vorrat gespeicherten Daten zur Aufdeckung und Verfolgung von Insidergeschäften verwendet werden.

Mit seinem heutigen Urteil stellt der Gerichtshof als Erstes fest, dass weder die Marktmissbrauchsrichtlinie noch die Marktmissbrauchsverordnung im Hinblick auf die Ausübung der den zuständigen Finanzaufsichtsbehörden durch sie übertragenen Befugnisse eine Rechtsgrundlage für eine allgemeine Verpflichtung zur Aufbewahrung der Datenverkehrsaufzeichnungen im Besitz der Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation bilden können.

Als Zweites weist der Gerichtshof darauf hin, dass es sich bei der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation um den Referenzrechtsakt im Bereich der Speicherung und allgemein der Verarbeitung personenbezogener Daten in der elektronischen Kommunikation handelt. Die Datenschutzrichtlinie ist daher auch für die Datenverkehrsaufzeichnungen im Besitz der Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation maßgeblich, die die zuständigen Finanzaufsichtsbehörden im Sinne der Marktmissbrauchsrichtlinie und der Marktmissbrauchsverordnung bei Letzteren anfordern können. Für die Beurteilung der Frage, ob die Verarbeitung der Aufzeichnungen im Besitz der Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation zulässig ist, sind mithin die Voraussetzungen gemäß der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation in der Auslegung durch den Gerichtshof maßgeblich.

Der Gerichtshof gelangt deshalb zu dem Schluss, dass es nach der Marktmissbrauchsrichtlinie und der Marktmissbrauchsverordnung in Verbindung mit der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation und im Lichte der Charta nicht zulässig ist, dass die Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation die Verkehrsdaten ab dem Zeitpunkt der Speicherung zur Bekämpfung von Straftaten des Marktmissbrauchs, u. a. von Insidergeschäften, ein Jahr lang allgemein und unterschiedslos auf Vorrat speichern.

Als Drittes hält der Gerichtshof an seiner Rechtsprechung fest, wonach das Unionsrecht dem entgegensteht, dass ein nationales Gericht die nach nationalem Recht zu treffende Feststellung, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften, mit denen die Anbieter von Diensten der elektronischen Kommunikation zur allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung der Verkehrs- und Standortdaten verpflichtet werden, wegen ihrer Unvereinbarkeit mit der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation ungültig sind, in ihren zeitlichen Wirkungen beschränkt. Der Gerichtshof stellt jedoch klar, dass die Verwertbarkeit von Beweismitteln, die aufgrund einer solchen Vorratsspeicherung von Daten erlangt wurden, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten dem nationalen Recht unterliegt – vorbehaltlich der Beachtung u. a. der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Letzterer verpflichtet ein nationales Strafgericht dazu, Informationen und Beweise, die durch eine mit dem Unionsrecht unvereinbare allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung erlangt wurden, auszuschließen, sofern die betreffenden Personen nicht in der Lage sind, sachgerecht zu den Informationen und Beweisen Stellung zu nehmen, die einem Bereich entstammen, in dem das Gericht nicht über Sachkenntnis verfügt, und geeignet sind, die Würdigung der Tatsachen maßgeblich zu beeinflussen.

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EuGH: Allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten unionsrechtswidrig - nur bei ernster Bedrohung für nationale Sicherheit zulässig

EuGH
Urteil vom 20.09.2022
in den verbundenen Rechtssachen
C-793/19 SpaceNet und C-794/19 Telekom Deutschland


Der EuGH hat wie erwartet entschieden, dass die allgemeine und unterschiedslose Vorratsdatenspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten unionsrechtswidrig und nur bei ernster Bedrohung für nationale Sicherheit zulässig ist.

Tenor der Entscheidung:
Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2002/58/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Juli 2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation) in der durch die Richtlinie 2009/136/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 geänderten Fassung ist im Licht der Art. 7, 8 und 11 sowie von Art. 52 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

dahin auszulegen, dass

er nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;

er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die

– es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht, sofern diese Anordnung Gegenstand einer wirksamen, zur Prüfung des Vorliegens einer solchen Situation sowie der Beachtung der vorzusehenden Bedingungen und Garantien dienenden Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle sein kann, deren Entscheidung bindend ist, und sofern die Anordnung nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum ergeht;

– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;

– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit für einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP‑Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;

– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;

– es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste mittels einer Entscheidung der zuständigen Behörde, die einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle unterliegt, aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.

Diese Rechtsvorschriften müssen durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen.

Die Pressemitteilung des EuGH:
Der Gerichtshof bestätigt, dass das Unionsrecht einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten entgegensteht, es sei denn, es liegt eine ernste Bedrohung für die nationale Sicherheit vor

Zur Bekämpfung schwerer Kriminalität können die Mitgliedstaaten jedoch unter strikter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit insbesondere eine gezielte Vorratsspeicherung und/oder umgehende Sicherung solcher Daten sowie eine allgemeine und unterschiedslose Speicherung von IP-Adressen vorsehen SpaceNet und Telekom Deutschland erbringen in Deutschland öffentlich zugängliche Internetzugangsdienste; Telekom Deutschland erbringt darüber hinaus öffentlich zugängliche Telefondienste. Beide fochten vor den deutschen Gerichten die ihnen durch das deutsche Telekommunikationsgesetz (TKG) auferlegte Pflicht an, ab dem 1. Juli 2017 Verkehrs- und Standortdaten betreffend die Telekommunikation ihrer Kunden auf Vorrat zu speichern.

Abgesehen von bestimmten Ausnahmen verpflichtet das TKG die Betreiber öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste – insbesondere zur Verfolgung schwerer Straftaten oder zur Abwehr einer konkreten Gefahr für die nationale Sicherheit – zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung eines Großteils der Verkehrs- und Standortdaten der Endnutzer dieser Dienste für eine Dauer von mehreren Wochen. Das Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) möchte wissen, ob das Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof1 solchen nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht.

Seine Zweifel beruhen insbesondere darauf, dass die nach dem TKG vorgesehene Speicherpflicht weniger Daten und eine kürzere Speicherungsfrist (vier bzw. zehn Wochen) betrifft, als sie die nationalen Regelungen vorsahen, um die es in den Rechtssachen ging, in denen die vorangegangenen Urteile ergangen sind. Diese Besonderheiten verringern nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts die Möglichkeit, dass aus den gespeicherten Daten sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten auf Vorrat gespeichert worden seien, gezogen würden. Außerdem gewährleiste das TKG, dass die auf Vorrat gespeicherten Daten wirksam vor den Risiken eines Missbrauchs und eines unberechtigten Zugangs geschützt seien.
Mit seinem Urteil von heute bestätigt der Gerichtshof seine bisherige Rechtsprechung.

Er antwortet dem Bundesverwaltungsgericht, dass das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, die präventiv zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen.

Dagegen steht das Unionsrecht nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegen, die

– es zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, Verkehrs- und Standortdaten allgemein und unterschiedslos auf Vorrat zu speichern, wenn sich der betreffende Mitgliedstaat einer als real und aktuell oder vorhersehbar einzustufenden ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit gegenübersieht. Eine solche Anordnung kann durch ein Gericht oder eine unabhängige Verwaltungsstelle kontrolliert werden und darf nur für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber im Fall des Fortbestands der Bedrohung verlängerbaren Zeitraum
ergehen;
– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und zur Verhütung schwerer Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit auf der Grundlage objektiver und nicht diskriminierender Kriterien anhand von Kategorien betroffener Personen oder mittels eines geografischen Kriteriums für einen auf das absolut Notwendige begrenzten, aber verlängerbaren Zeitraum eine gezielte Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten vorsehen;
– für dieselben Zwecke einen auf das absolut Notwendige begrenzten Zeitraum eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der IP-Adressen, die der Quelle einer Verbindung zugewiesen sind, vorsehen;
– zum Schutz der nationalen Sicherheit, zur Bekämpfung der Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eine allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung der die Identität der Nutzer elektronischer Kommunikationsmittel betreffenden Daten vorsehen;
– es zur Bekämpfung schwerer Kriminalität und, a fortiori, zum Schutz der nationalen Sicherheit gestatten, den Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste aufzugeben, während eines festgelegten Zeitraums die ihnen zur Verfügung stehenden Verkehrs- und Standortdaten umgehend zu sichern.

Solche nationalen Rechtsvorschriften müssen außerdem durch klare und präzise Regeln sicherstellen, dass bei der Speicherung der fraglichen Daten die für sie geltenden materiellen und prozeduralen Voraussetzungen eingehalten werden und dass die Betroffenen über wirksame Garantien zum Schutz vor Missbrauchsrisiken verfügen. In Bezug auf das TKG stellt der Gerichtshof fest, dass aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass die durch dieses Gesetz begründete Pflicht zur Vorratsspeicherung insbesondere die Daten betrifft, die erforderlich sind, um die Quelle und den Adressaten einer Nachricht, Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Verbindung oder, im Fall der Übermittlung von Kurz-, Multimedia- oder ähnlichen Nachrichten, die Zeitpunkte der Versendung und des Empfangs der Nachricht sowie, im Fall der mobilen Nutzung, die Bezeichnung der Funkzellen, die vom Anrufer und vom Angerufenen bei Beginn der Verbindung genutzt wurden, zu identifizieren.

Im Rahmen der Bereitstellung von Internetzugangsdiensten bezieht sich die Pflicht zur Vorratsspeicherung u. a. auf die dem Teilnehmer zugewiesene IP-Adresse, Datum und Uhrzeit von Beginn und Ende der Internetnutzung unter der zugewiesenen IP-Adresse und, im Fall der mobilen Nutzung, die Bezeichnung der bei Beginn der Internetverbindung genutzten Funkzelle. Die Daten, aus denen sich die geografische Lage und die Hauptstrahlrichtungen der die jeweilige Funkzelle versorgenden Funkantennen ergeben, werden ebenfalls gespeichert.

Zwar werden die Daten betreffend E-Mail-Dienste nicht von der in der im TKG vorgesehenen Pflicht zur Vorratsspeicherung erfasst, jedoch stellen sie auch nur einen Bruchteil der in Rede stehenden Daten dar. Außerdem werden u. a. Daten von Nutzern gespeichert, die dem Berufsgeheimnis unterliegen, wie beispielsweise Die im TKG vorgesehene Pflicht zur Vorratsspeicherung erstreckt sich somit auf einen umfangreichen Satz von Verkehrs- und Standortdaten, der im Wesentlichen den Datensätzen entspricht, die zu den vorgenannten früheren Urteilen geführt haben.

Ein solcher Satz von Verkehrs- und Standortdaten, die zehn bzw. vier Wochen lang gespeichert werden, kann aber sehr genaue Schlüsse auf das Privatleben der Personen, deren Daten gespeichert wurden – etwa auf Gewohnheiten des täglichen Lebens, ständige oder vorübergehende Aufenthaltsorte, tägliche oder in anderem Rhythmus erfolgende Ortsveränderungen, ausgeübte Tätigkeiten, soziale Beziehungen dieser Personen und das soziale Umfeld, in dem sie verkehren –, und insbesondere die Erstellung eines Profils dieser Personen ermöglichen.

In Bezug auf die im TKG vorgesehenen Garantien, die die gespeicherten Daten gegen Missbrauchsrisiken und vor jedem unberechtigten Zugang schützen sollen, weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Vorratsspeicherung dieser Daten und der Zugang zu ihnen unterschiedliche Eingriffe in Grundrechte der Betroffenen darstellen, die eine gesonderte Rechtfertigung erfordern. Daraus folgt, dass nationale Rechtsvorschriften, die die vollständige Einhaltung der Voraussetzungen gewährleisten, die sich im Bereich des Zugangs zu auf Vorrat gespeicherten Daten aus der Rechtsprechung ergeben, naturgemäß den schwerwiegenden Eingriff in die Rechte der Betroffenen, der sich aus der allgemeinen Vorratsspeicherung dieser Daten ergeben würde, weder beschränken noch beseitigen können.


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