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Volltext BGH liegt vor: Unwirksame Negativzinsen-Klauseln (Verwahrentgelt für Guthaben) in AGB von Banken und Sparkassen

BGH
Urteil vom 04.02.2025
XI ZR 65/23
BGB § 307 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 und 2


Wir hatten bereits in dem Beitrag BGH: Unwirksame Negativzinsen-Klauseln (Verwahrentgelt für Guthaben) in AGB von Banken und Sparkassen - Klausel zu Entgelt für Ersatz-BankCard und Ersatz-PIN ebenfalls unwirksam über die Entscheidung berichtet.

Leitsätze des BGH:
a) Die von einer Bank für eine Vielzahl von Giroverträgen in dem vorformulierten Preis und Leistungsverzeichnis enthaltene Klausel zu einem "Verwahrentgelt"
"Privatkonten
[…]
Entgelt für die Verwahrung von
Einlagen über 10.000 EUR pro Jahr 0,50 % p.a.
Freibetrag¹⁴

¹⁴ Vom Kunden zu zahlendes Verwahrentgelt bei Neuanlage/Neuvereinbarung ab 01.04.2020 für Einlagen über 10.000 EUR
Freibetrag auf das auf dem Konto verwahrte Guthaben, das den aktuellen Freibetrag übersteigt."

unterliegt keiner richterlichen Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB. Sie verstößt aber gegen das Transparenzgebot und ist im Verkehr mit Verbrauchern gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2, Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB unwirksam.

b) Die Einführung eines Verwahrentgelts für Guthaben auf Girokonten, die im Rahmen bestehender Giroverträge geführt werden, erfordert einen den Erfordernissen der § 305 Abs. 2, § 311 Abs. 1, §§ 145 ff. BGB genügenden Änderungsvertrag (Anschluss an Senatsurteil vom 27. April 2021 - XI ZR 26/20, BGHZ 229, 344 Rn. 38).

BGH, Urteil vom 4. Februar 2025 - XI ZR 65/23 - OLG Düsseldorf - LG Düsseldorf

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: Unwirksame Negativzinsen-Klauseln (Verwahrentgelt für Guthaben) in AGB von Banken und Sparkassen - Klausel zu Entgelt für Ersatz-BankCard und Ersatz-PIN ebenfalls unwirksam

BGH
Urteil vom 04.02.2025 - XI ZR 61/23,
Urteil vom 04.02.2025 - XI ZR 65/23
Urteil vom 04.02.2025 - XI ZR 161/23
Urteil vom 04.02.2025 - XI ZR 183/23


Der BGH hat entschieden, dass diverse Negativzinsen-Klauseln (Verwahrentgelt für Guthaben) in AGB von Banken und Sparkassen unwirksam sind. Ferner hat der BGH entschieden, dass Klausen, die ein Entgelt für eine Ersatz-BankCard oder eine Ersatz-PIN vorsehen, ebenfalls unwirksam sind.

Die Pressemitteilung des BGH:
Unwirksamkeit von Klauseln zu Verwahrentgelten ("Negativzinsen") in Verträgen über Giro-,Tagesgeld- und Sparkonten und von Klauseln zu Entgelten für eine Ersatz-BankCard und eine Ersatz-PIN

Der u.a. für das Bank- und Börsenrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit vier Urteilen vom 4. Februar 2025 entschieden, dass die von verschiedenen Banken und einer Sparkasse gegenüber Verbrauchern verwendeten Klausen zu Entgelten für die Verwahrung von Einlagen auf Giro-, Tagesgeld- und Sparkonten unwirksam sind. Er hat in dem Verfahren XI ZR 161/23 außerdem entschieden, dass die von einer Bank gegenüber Verbrauchern verwendeten Klauseln zu Entgelten für die Ausstellung einer Ersatz-BankCard und einer Ersatz-PIN unwirksam sind.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf:

Die Kläger in den vier Verfahren sind seit über vier Jahren als qualifizierte Einrichtungen in die Liste nach § 4 UKlaG eingetragene Verbraucherschutzverbände.

Die in dem Verfahren XI ZR 61/23 beklagte Sparkasse verwendete im Zeitraum vom 1. bis zum 13. Februar 2020 auf ihrer Internetseite im Zusammenhang mit von ihr angebotenen Giroverträgen folgende Klausel:

"Verzinsung

Zinssatz für Guthaben (täglich fällige Gelder) 0,00 %

Verwahrentgelt für Guthaben ab 5.000,01 € (Freibetrag 5.000 €)*- 0,70 % p.a.

*Das Verwahrentgelt auf allen Privatgirokonten, die ab dem 01.02.2020 neu eröffnet werden, beträgt ab einer Einlagenhöhe von 5.000,01 € 0,70 % p.a. (Freibetrag 5.000,00 €). Die gleiche Regelung gilt für Kontomodellwechsel ab dem 01.02.2020."

Die in dem Verfahren XI ZR 65/23 beklagte Bank verwendet in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis folgende Klausel:

"Privatkonten

[…]

Entgelt für die Verwahrung von

Einlagen über 10.000 EURpro Jahr 0,50 % p.a.

Freibetrag¹4

¹4 Vom Kunden zu zahlendes Verwahrentgelt bei Neuanlage/Neuvereinbarung ab 01.04.2020 für Einlagen über 10.000 EUR Freibetrag auf das auf dem Konto verwahrte Guthaben, das den aktuellen Freibetrag übersteigt."

Die in dem Verfahren XI ZR 161/23 beklagte Bank verwendet in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis für die von ihr angebotenen Girokonten folgende Klausel:

"3.2Entgelt für die Verwahrung von Einlagen

Girokonten […] – Verträge ab 01.08.2020¹6

Einlagen bis25.000,00 EUR0,00 % p.a.

Einlagen über¹7 25.000,00 EUR0,50 % p.a.

[…]

Die Berechnung erfolgt taggenau. Die Belastung der Gebühr erfolgt monatlich nachträglich zulasten des jeweiligen Kontos.

[…]

¹6 Für Verträge mit Abschlussdatum vor dem 01.08.2020 erfolgt die Bepreisung ab Unterzeichnung der individuellen Zusatzvereinbarung.

¹7 Bepreisung erfolgt auf den übersteigenden Betrag."

Sie bietet Verbrauchern unter der Bezeichnung "SpardaCash" und "SpardaCash Online" außerdem Tagesgeldkonten an. In ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis heißt es hierzu wie folgt:

"SpardaCash – Verträge ab 01.08.2020¹6

Ein SpardaCash¹8

Einlagen bis50.000,00 EUR0,00 % p.a.

Einlagen über¹7 50.000,00 EUR0,50 % p.a.

Jedes weitere SpardaCash¹8

Einlagen über¹7 0,00 EUR0,50 % p.a.

SpardaCash Online – Verträge ab 01.08.2020¹6

Ein SpardaCash Online¹8

Einlagen bis50.000,00 EUR0,00 % p.a.

Einlagen über¹7 50.000,00 EUR0,50 % p.a.

Jedes weitere SpardaCash Online¹8

Einlagen über¹7 0,00 EUR0,50 % p.a.

Die Berechnung erfolgt taggenau. Die Belastung der Gebühr erfolgt monatlich nachträglich zulasten des jeweiligen Kontos.

[…]

¹6 Für Verträge mit Abschlussdatum vor dem 01.08.2020 erfolgt die Bepreisung ab Unterzeichnung der individuellen Zusatzvereinbarung.

¹7 Bepreisung erfolgt auf den übersteigenden Betrag.

¹8 Erstes bestehendes Konto gemäß Eröffnungsdatum je Kundenstamm; bei gleichem Eröffnungsdatum ist die niedrigere Kontonummer entscheidend."

In dem Kapitel über die Erbringung von Zahlungsdiensten für Privatkunden ihres Preis- und Leistungsverzeichnisses verwendet die Beklagte außerdem folgende Klauseln:

"4.4Kartengestützter Zahlungsverkehr

4.4.1Debitkarten

4.4.1.1BankCard

[…]

- Ersatzkarte²8 12,00 EUR

- Ersatz-PIN²8 auf Wunsch des Kunden 5,00 EUR

[…]

²8 Wird nur berechnet, wenn der Kunde die Umstände, die zum Ersatz der Karte/PIN geführt haben, zu vertreten hat und die Bank nicht zur Ausstellung einer Ersatzkarte/Ersatz-PIN verpflichtet ist."

Die in dem Verfahren XI ZR 183/23 beklagte Bank verwendete in den Jahren 2020 bis 2022 in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis im Kapitel über den Geschäftsverkehr mit Verbrauchern unter den Überschriften "Sichteinlagen" und "Spareinlagen" jeweils folgende Klausel:

"Verwahrung von Einlagen oberhalb des Freibetrags für alle Einlagen- & Girokonten

Verwahrentgelt 0,5 % p.a."

In einer Fußnote verwies die Klausel auf das Kapitel über die Verwahrung von Einlagen für alle Kunden, in dem für verschiedene Zeiträume Freibeträge in Höhe von 50.000 €, 100.000 € und 250.000 € genannt waren.

Der Preisaushang der Beklagten, in dem die Konditionen für Spar-, Tagesgeld- und Girokonten wiedergegeben sind, enthielt folgende Klauseln:

"Verwahrentgelt für die Verwahrung von Einlagen auf allen

Einlagen- & Girokonten

- für ab dem 01.07.2020 bis einschließlich 30.09.2020

neu eingerichtete Kundennummern oberhalb

Freibetrag von 250.000,00 €

0,5 % p.a.

- für ab dem 01.10.2020 bis einschließlich 09.05.2021

neu eingerichtete Kundennummern oberhalb Freibetrag

von 100.000,00 €

0,5 % p.a.

- für ab dem 10.05.2021 neu eingerichtete Kunden-

nummern oberhalb Freibetrag von 50.000,00 €

0,5 % p.a."

Mit Bestandskunden vereinbarte die Beklagte ab Anfang des Jahres 2021 die Zahlung eines "Guthabenentgelts" für auf Euro lautende Einlagen. In diesen Vereinbarungen hieß es u.a. wie folgt:

"1. Die [Bank] erhebt ab dem […] für die auf Euro lautenden Einlagen (inklusive Spareinlagen) auf den Konten des Kunden, die unter seiner Kundennummer […] gegenwärtig und zukünftig geführt werden (im folgenden "Kundenkonten") ein monatliches Guthabenentgelt.

[…]

3. […] Dieser Kostensatz entspricht dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) für die Einlagenfazilität im jeweiligen Berechnungsmonat festgelegten Zinssatz (aktuell 0,50 % p.a.)."

Die Kläger in den vier Verfahren halten die vorbezeichneten Klauseln für unwirksam, da sie die Verbraucher entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligten. Sie nehmen die Beklagten jeweils darauf in Anspruch, es zu unterlassen, diese oder inhaltsgleiche Klauseln gegenüber Verbrauchern zu verwenden. Die Kläger in den Verfahren XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23 begehren darüber hinaus von der jeweiligen Beklagten als Folgenbeseitigung die Rückzahlung der auf der Grundlage der Verwahrentgeltklauseln vereinnahmten Entgelte an die betroffenen Verbraucher und Auskunft über deren Vornamen, Zunamen und Anschriften. Der Kläger in dem Verfahren XI ZR 183/23 begehrt als Folgenbeseitigung ebenfalls Auskunft über die betroffenen Verbraucher und die Versendung eines von ihm formulierten Berichtigungsschreibens durch die Beklagte an diese Verbraucher.

Die Berufungsgerichte in den Verfahren XI ZR 61/23 und XI ZR 65/23 haben die Klage jeweils abgewiesen, weil die Klauseln über das Verwahrentgelt eine von der Beklagten erbrachte Hauptleistung aus dem Girovertrag bepreisten und daher keiner AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterlägen.

Auch das Berufungsgericht in dem Verfahren XI ZR 161/23 hat die Klage betreffend die Klauseln über das Verwahrentgelt mit der Begründung abgewiesen, mit den Klauseln werde eine von der Beklagten erbrachte Hauptleistung aus dem Girovertrag bzw. aus dem Vertrag über das Tagesgeldkonto bepreist, so dass die Klauseln keiner AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterlägen. Die Klauseln, mit denen die Bank für die Ausstellung einer Ersatz-BankCard bzw. einer Ersatz-PIN ein Entgelt verlange, seien demgegenüber unwirksam, weil sie gegen das Transparenzgebot verstießen.

Das Berufungsgericht in dem Verfahren XI ZR 183/23 hat die Klage ebenfalls abgewiesen. Bei der Vereinbarung über das von Neukunden auf Spareinlagen zu entrichtende Verwahrentgelt handele es sich um eine die Hauptleistung betreffende Preisabrede, die keiner AGB-rechtlichen Kontrolle unterliege. Die Regelungen über das Verwahrentgelt im Preis- und Leistungsverzeichnis sowie im Preisaushang hätten nur für Neukunden, nicht hingegen für Bestandskunden gegolten. Das mit Bestandskunden vereinbarte "Guthabenentgelt" stelle ebenfalls eine Preishaupt-abrede dar und unterliege nicht der Inhaltskontrolle. Es handele sich um ein Entgelt für die einseitige Verpflichtung der Bank, das Sparguthaben sicher zu verwahren und dem Sparer den gleichen Betrag zurückzugewähren.

Die Kläger in den Verfahren XI ZR 61/23, XI ZR 65/23 und XI ZR 183/23 verfolgen mit ihrer jeweils vom Berufungsgericht zugelassenen Revision ihre Klageanträge weiter. In dem Verfahren XI ZR 161/23 verfolgt der Kläger mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision seine Klageanträge weiter, soweit das Berufungsgericht die Klage abgewiesen hat. Die Beklagte verfolgt mit der Revision ihren Klageabweisungs-antrag weiter.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in den Verfahren XI ZR 61/23, XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23 entschieden, dass mit dem Verwahrentgelt eine Hauptleistung aus dem Girovertrag bepreist wird und die in Giroverträgen vereinbarten Klauseln über Verwahrentgelte damit zwar keiner AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle unterliegen, die Klauseln aber gegen das sich gemäß § 307 Abs. 3 Satz 2 BGB auch auf das Hauptleistungsversprechen erstreckende Transparenzgebot des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verstoßen und damit gegenüber Verbrauchern unwirksam sind. Giroverträge sind typengemischte Verträge, bei denen die von der Bank erbrachten Leistungen Elemente des Zahlungsdiensterechts, des Darlehnsrechts und der unregelmäßigen Verwahrung aufweisen können. Eine unregelmäßige Verwahrung nach § 700 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. §§ 488 ff. BGB liegt vor, wenn auf dem Girokonto ein Guthaben vorhanden ist. Die Verwahrung von Guthaben auf Girokonten stellt neben der Erbringung von Zahlungsdiensten eine den Girovertrag prägende Leistung und damit eine Hauptleistung aus dem Girovertrag dar. Wie die in der Vergangenheit nicht unübliche Vertragspraxis der Banken, auf Girokonten bestehende Guthaben geringfügig zu verzinsen, belegt, dient das Guthaben auf Girokonten nach dem übereinstimmenden Willen der Vertragsparteien zudem nicht ausschließlich der Teilnahme am Zahlungsverkehr. Die Kreditwirtschaft kann mit dem sogenannten "Bodensatz" der Guthaben wirtschaften, die sie auf Girokonten verwahrt. 10% dieser Guthaben können von der Bankwirtschaft nach dem Aufsichtsrecht für die Unterlegung von Risiken im Aktivgeschäft verwendet werden. Die Kunden haben ebenfalls ein Interesse an der Nutzung der Girokonten als "Verwahrstelle" für ihr Geld. Sie können ihr Bargeld mithilfe des Girokontos sicher aufbewahren und Guthaben auf Girokonten belassen, ohne sich um eine Weiterverwendung kümmern zu müssen. Darüber hinaus sind Gutschriften auf Girokonten als Sichteinlagen durch die gesetzlichen Einlagensicherungssysteme geschützt und für Kunden jederzeit verfügbar. Diese Gesichtspunkte rechtfertigen es bei einer Gesamtschau, die Verwahrung von Guthaben auf Girokonten als von der Bank im Rahmen des Girovertrags erbrachte Hauptleistung anzusehen. Aus den Regelungen der § 700 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB ergibt sich weiter, dass ein Verwahrentgelt keine gesetzlich nicht vorgesehene Gegenleistung des Kunden darstellt.

Die Verwahrentgeltklauseln in Giroverträgen in den Verfahren XI ZR 61/23, XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23 sind allerdings intransparent und aus diesem Grund unwirksam. Sie sind hinsichtlich der Höhe des Verwahrentgelts nicht bestimmt genug, so dass Verbraucher ihre mit den Klauseln verbundenen wirtschaftlichen Belastungen nicht hinreichend erkennen können. Die Klauseln informieren nicht hinreichend genau darüber, auf welches Guthaben sich das Verwahrentgelt in Höhe von 0,7% p.a. (so im Verfahren XI ZR 61/23) bzw. in Höhe von 0,5% p.a. (so in den Verfahren XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23) bezieht. Die auf Girokonten bestehenden Guthaben können sich infolge der Verbuchung von Gutschriften und Belastungen innerhalb eines Tages mehrfach ändern. Die in den Klauseln verwendeten Formulierungen lassen allerdings offen, welcher konkrete Guthabenstand auf den Girokonten für die Berechnung des Verwahrentgelts jeweils maßgebend sein soll. Unklar ist dabei vor allem, ob die Berechnung des Verwahrentgelts taggenau erfolgen soll und bis zu welchem Zeitpunkt Tagesumsätze auf den Girokonten bei der Berechnung des maßgebenden Guthabensaldos berücksichtigt werden sollen.

Die Klauseln über Verwahrentgelte für Einlagen auf Tagesgeldkonten (XI ZR 161/23) und für Spareinlagen (XI ZR 183/23) unterliegen demgegenüber einer AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle, weil sie die von der Bank geschuldete Hauptleistung abweichend von der nach Treu und Glauben geschuldeten Leistung verändern. Sie halten der Inhaltskontrolle nicht stand, weil sie von wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abweichen und die Verbraucher entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen (§ 307 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB). Einlagen auf Tagesgeldkonten und Sparkonten dienen nicht nur der sicheren Verwahrung von Geldern, sondern darüber hinaus auch Anlage- und Sparzwecken.

Gelder auf Tagesgeldkonten werden in der Regel in Höhe der Marktzinsen am Geldmarkt variabel verzinst. Dementsprechend hat die Beklagte in dem Verfahren XI ZR 161/23 die von ihr angebotenen Tagesgeldkonten unter der Rubrik "Anlegen und Sparen" damit beworben, dass täglich über die Gelder verfügt werden könne und diese mit einer "attraktiven" Rendite angelegt würden. Mit der Erhebung eines laufzeitabhängigen Verwahrentgelts in Höhe von 0,5% p.a. verlieren die Tagesgeldkonten allerdings gänzlich ihren Spar- und Anlagezweck. Denn bei einer gleichzeitigen Verzinsung der Einlage mit 0,001% p.a. reduziert sich das auf den Tagesgeldkonten eingelegte Kapital täglich, bis die Einlage den in den Klauseln genannten Freibetrag von 50.000 € erreicht. Hierdurch wird der Charakter des Vertrags über ein Tagesgeldkonto nach Treu und Glauben verändert.

Zweck von Spareinlagen ist es, das Vermögen von natürlichen Personen mittel- bis langfristig aufzubauen und durch Zinsen vor Inflation zu schützen. Dieser Charakter des Sparvertrags wird durch die Erhebung eines Verwahr- oder eines Guthabenentgelts entgegen den Geboten von Treu und Glauben verändert, da das laufzeitabhängige Verwahr- oder Guthabenentgelt mit dem den Sparvertrag kennzeichnenden Kapitalerhalt nicht zu vereinbaren ist. Denn auch das Verwahr- bzw. Guthabenentgelt in dem Verfahren XI ZR 183/23 führt dazu, dass die Höhe der Spareinlagen fortlaufend bis zu dem vereinbarten Freibetrag sinkt. Die Erhebung des Verwahrentgelts reduziert die auf die Sparverträge eingezahlten Spareinlagen, was von dem Vertragszweck "Kapitalerhalt und Sparen" abweicht, nach dem das eingezahlte Kapital mindestens zu erhalten ist.

Diese Abweichung stellt eine unangemessene Benachteiligung der Verbraucher dar. Soweit Kreditinstitute im Euroraum im Zeitraum vom 11. Juni 2014 bis 26. Juli 2022 auf bestimmte Einlagen, die sie bei ihrer nationalen Zentralbank unterhielten, "negative Zinsen" zu zahlen hatten, rechtfertigt dies nicht, die vertraglich berechtigten Erwartungen von Verbrauchern, ihre auf Tagesgeld- und auf Sparkonten verbuchten Einlagen mindestens zu erhalten, durch die Einführung eines Verwahr- oder Guthabenentgelts zu enttäuschen, das die Einlage bis zu einem Freibetrag fortlaufend reduziert.

Soweit die klagenden Verbraucherschutzverbände in den Verfahren XI ZR 65/23 und XI ZR 161/23 von der jeweiligen Beklagten als Folgenbeseitigung die Rückzahlung der auf der Grundlage der unwirksamen Verwahrentgeltklauseln vereinnahmten Entgelte an die betroffenen Verbraucher und Auskunft über deren Vornamen, Zunamen und Anschriften verlangen, hat der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs die Klage abgewiesen. Wie der I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit Urteil vom 11. September 2024 (I ZR 168/23, Pressemitteilung 180/2024) bereits entschieden hat, ist eine solche Klage hinsichtlich des Zahlungsbegehrens bereits unzulässig, weil der Kläger mit seinem Antrag die Kunden der Beklagten nicht individualisiert, an die die Rückzahlung erfolgen soll, so dass es an der nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO erforderlichen Bestimmtheit des Klageantrags fehlt. Die begehrte Auskunft können die Kläger nicht beanspruchen, weil einem Verbraucherschutzverband im Rahmen eines Klageverfahrens nach dem Unterlassungsklagengesetz kein Beseitigungsanspruch auf Rückzahlung rechtsgrundlos vereinnahmter Entgelte an die betroffenen Verbraucher gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UWG unter dem Gesichtspunkt des Rechtsbruchs gemäß §§ 3, 3a UWG i.V.m. § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB zusteht, so dass auch der insoweit als Hilfsanspruch anzusehende Auskunftsanspruch nicht besteht.

Soweit der Kläger in dem Verfahren XI ZR 183/23 als Folgenbeseitigung Auskunft über die betroffenen Verbraucher und die Versendung eines von ihm formulierten Berichtigungsschreibens durch die Beklagte an die betroffenen Verbraucher verlangt, hat der XI. Zivilsenat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

In dem Verfahren XI ZR 161/23 hat der XI. Zivilsenat schließlich entschieden, dass die Klauseln zu einem Entgelt für die Ausstellung einer Ersatz-BankCard bzw. einer Ersatz-PIN unwirksam sind, da sie gegen das Transparenzgebot nach § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verstoßen. Der Verbraucher kann nicht hinreichend erkennen, in welchen Fällen die Beklagte zur Ausstellung einer Ersatzkarte bzw. einer Ersatz-PIN verpflichtet ist, und damit nicht, ob er das Entgelt von 12 € bzw. 5 € tatsächlich zahlen muss. Der durchschnittliche, rechtlich nicht gebildete, verständige Verbraucher erkennt zwar, dass er nach den Klauseln nur dann zur Zahlung verpflichtet sein soll, wenn weder eine gesetzliche noch eine vertragliche Verpflichtung der Bank zur Ausstellung einer Ersatzkarte bzw. einer Ersatz-PIN besteht. In den Klauseln fehlt aber jegliche Konkretisierung, wann eine solche Verpflichtung der Bank besteht. Ausführungen über die typischen Fälle, in denen der Verbraucher eine Ersatzkarte bzw. eine Ersatz-PIN benötigt (Verlust, Diebstahl und Missbrauch), enthalten die Klauseln nicht. Die Entgeltklauseln versetzen den Verbraucher damit nicht in die Lage, die Reichweite der beabsichtigten Entgeltpflicht in seinem praktischen Geltungsbereich zu bestimmen.

Vorinstanzen:

XI ZR 61/23

Landgericht Leipzig - Urteil vom 8 Juli 2021 - 5 O 640/20

Oberlandesgericht Dresden - Urteil vom 30. März 2023 - 8 U 1389/21

und

XI ZR 65/23

Landgericht Düsseldorf - Urteil vom 22. Dezember 2021 - 12 O 34/21

Oberlandesgericht Düsseldorf - Urteil vom 30. März 2023 - 20 U 16/22

und

XI ZR 161/23

Landgericht Berlin - Urteil vom 28. Oktober 2021 - 16 O 43/21

Kammergericht Berlin - Urteil vom 9. August 2023 - 26 U 129/21

und

XI ZR 183/23

Landgericht Frankfurt am Main - Urteil vom 18. November 2022 - 2-25 O 228/21

Oberlandesgericht Frankfurt am Main - Urteil vom 5. Oktober 2023 - 3 U 286/22

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

§ 307 BGB

(1) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.

(2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung

1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder

[…]

(3) Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein.

§ 488 Abs. 1 Satz 2 BGB

(1) […]. Der Darlehensnehmer ist verpflichtet, einen geschuldeten Zins zu zahlen und bei Fälligkeit das zur Verfügung gestellte Darlehen zurückzuzahlen.

§ 700 Abs. 1 Satz 1 BGB

(1) Werden vertretbare Sachen in der Art hinterlegt, dass das Eigentum auf den Verwahrer übergehen und dieser verpflichtet sein soll, Sachen von gleicher Art, Güte und Menge zurückzugewähren, so finden bei Geld die Vorschriften über den Darlehensvertrag, bei anderen Sachen die Vorschriften über den Sachdarlehensvertrag Anwendung. Gestattet der Hinterleger dem Verwahrer, hinterlegte vertretbare Sachen zu verbrauchen, so finden bei Geld die Vorschriften über den Darlehensvertrag, bei anderen Sachen die Vorschriften über den Sachdarlehensvertrag von dem Zeitpunkt an Anwendung, in welchem der Verwahrer sich die Sachen aneignet. […].

§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO

(2) Die Klageschrift muss enthalten:

1. […]

2. die bestimmte Angabe des Gegenstandes und des Grundes des erhobenen Anspruchs, sowie einen bestimmten Antrag.

§ 3 UWG

(1) Unlautere geschäftliche Handlungen sind unzulässig.

(2) Geschäftliche Handlungen, die sich an Verbraucher richten oder diese erreichen, sind unlauter, wenn sie nicht der unternehmerischen Sorgfalt entsprechen und dazu geeignet sind, das wirtschaftliche Verhalten des Verbrauchers wesentlich zu beeinflussen.

(3) Die im Anhang dieses Gesetzes aufgeführten geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern sind stets unzulässig.

(4) Bei der Beurteilung von geschäftlichen Handlungen gegenüber Verbrauchern ist auf den durchschnittlichen Verbraucher oder, wenn sich die geschäftliche Handlung an eine bestimmte Gruppe von Verbrauchern wendet, auf ein durchschnittliches Mitglied dieser Gruppe abzustellen. Geschäftliche Handlungen, die für den Unternehmer vorhersehbar das wirtschaftliche Verhalten nur einer eindeutig identifizierbaren Gruppe von Verbrauchern wesentlich beeinflussen, die auf Grund von geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen, Alter oder Leichtgläubigkeit im Hinblick auf diese geschäftlichen Handlungen oder die diesen zugrunde liegenden Waren oder Dienstleistungen besonders schutzbedürftig sind, sind aus der Sicht eines durchschnittlichen Mitglieds dieser Gruppe zu beurteilen.

§ 3a UWG

Unlauter handelt, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln, und der Verstoß geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen.

§ 8 Abs. 1 Satz 1 Fall 1 UWG

Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung […] in Anspruch genommen werden.



BVerfG: Bremer Polizeigebühren gegen die DFL zwecks Beteiligung an den Polizeikosten bei Hochrisiko-Spielen verfassungsgemäß - Verfassungsbeschwerde abgewiesen

BVerfG
Urteil vom 14.01.2025
1 BvR 548/22


Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Bremer Polizeigebühren gegen die DFL auf Grundlage von § 4 Abs. 4 des Bremischen Gebühren- und Beitragsgesetzes (BremGebBeitrG) zwecks Beteiligung an den Polizeikosten bei Hochrisiko-Spielen verfassungsgemaß ist. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsbeschwerde daher abgewiesen.

Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen Polizeikosten bei Hochrisikospielen

Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Erhebung einer Gebühr für den polizeilichen Mehraufwand bei „Hochrisikospielen“ der Fußball-Bundesliga in der Freien Hansestadt Bremen mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die Verfassungsbeschwerde der DFL Deutsche Fußball Liga GmbH blieb daher erfolglos.

Nach dem im November 2014 in Kraft getretenen § 4 Abs. 4 des Bremischen Gebühren- und Beitragsgesetzes (BremGebBeitrG) wird bei Veranstalterinnen und Veranstaltern für den polizeilichen Mehraufwand bei gewinnorientierten, erfahrungsgemäß gewaltgeneigten Großveranstaltungen mit mehr als 5.000 Personen eine Gebühr erhoben, welche nach dem Mehraufwand zu berechnen ist, der aufgrund der Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte entsteht.

Diese Regelung greift in die durch Art. 12 Abs. 1 Grundgesetz (GG) geschützte Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und Veranstalter zwar ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt, da die Norm formell und materiell verfassungsgemäß ist. Die Norm genügt als Berufsausübungsregelung insbesondere den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. Die Regelung ist auch mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Sachverhalt:

Gemäß § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG wird bei Veranstalterinnen und Veranstaltern für den polizeilichen Mehraufwand bei gewinnorientierten, erfahrungsgemäß gewaltgeneigten Großveranstaltungen mit mehr als 5.000 Personen eine Gebühr erhoben, welche nach dem Mehraufwand zu berechnen ist, der aufgrund der Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte entsteht.

Im Hinblick auf das am 19. April 2015 angesetzte Spiel der Fußball-Bundesliga zwischen dem SV Werder Bremen und dem Hamburger SV im Bremer Weserstadion unterrichtete die Polizei Bremen die Beschwerdeführerin unter Verweis auf § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG über ihre voraussichtliche Gebührenpflicht als Veranstalterin. Nach den damaligen Erkenntnissen und Informationen sei am Spieltag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Fans der Vereine zu rechnen, wenn dem nicht durch den Einsatz von starken Polizeikräften und durch entsprechende Einsatzmaßnahmen effektiv begegnet werde. Am Spieltag selbst verlief der Gesamteinsatz, bei dem die Bremer Polizei von Einsatzkräften aus Schleswig-Holstein, Hamburg, Hessen und der Bundespolizei unterstützt wurde, nach Bewertung der Polizeiführung insgesamt reibungslos. Die Polizei Bremen erließ gegenüber der Beschwerdeführerin als Veranstalterin des Spiels einen Bescheid über die Erhebung von Gebühren in Höhe eines mittleren sechsstelligen Eurobetrags für den erforderlichen Einsatz zusätzlicher Polizeikräfte.

Nachdem der hiergegen erhobene Widerspruch der Beschwerdeführerin erfolglos geblieben war, hob das Verwaltungsgericht den angefochtenen Gebührenbescheid in Gestalt des Widerspruchsbescheids auf die Klage der Beschwerdeführerin auf.

Auf die Berufung der Freien Hansestadt Bremen hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts aufgehoben und die Klage der Beschwerdeführerin abgewiesen. Die Gebührenregelung des § 4 Abs. 4 Sätze 1 und 2 BremGebBeitrG sei verfassungsgemäß. In der gegen dieses Urteil gerichteten Revision hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil des Oberverwaltungsgerichts zwar aufgehoben, in der Sache aber weitgehend die Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts bestätigt.

Nach der Zurückverweisung hat das Oberverwaltungsgericht das Urteil des Verwaltungsgerichts erneut aufgehoben und die Klage der Beschwerdeführerin abgewiesen.

Mit der Verfassungsbeschwerde wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Entscheidungen des Oberverwaltungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts sowie vorrangig gegen die Gebührenregelung selbst und rügt unter anderem eine Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Die nur teilweise zulässige Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.

I. § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG greift zwar in die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und Veranstalter ein. Der Eingriff ist aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt.

1. Die Norm ist formell verfassungsgemäß, insbesondere steht dem Land insoweit die Gesetzgebungskompetenz nach Art. 70 GG zu. Gebühren fallen in die Kategorie der nichtsteuerlichen Abgaben und weisen als Vorzugslasten Merkmale auf, die sie verfassungsrechtlich notwendig von der Steuer unterscheiden. Als Gebühren lassen sich danach öffentlich-rechtliche Geldleistungen verstehen, die aus Anlass individuell zurechenbarer Leistungen durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder eine sonstige hoheitliche Maßnahme auferlegt werden und insbesondere dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistungen deren Kosten ganz oder teilweise zu decken oder deren Vorteil oder deren Wert auszugleichen. Bei der durch § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG begründeten Geldleistungspflicht handelt es sich um eine nichtsteuerliche Abgabe in Form einer Gebühr, da sie für die öffentliche Leistung der konkreten Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte deren Kosten (also den Mehraufwand) den Veranstalterinnen und Veranstaltern auferlegt.

2. § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG ist auch materiell verfassungsgemäß. Insbesondere genügt die Norm als Berufsausübungsregelung den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit und dem Bestimmtheitsgebot.

a) Die Regelung zielt darauf ab, die durch die Durchführung der näher beschriebenen Veranstaltungen entstandenen Mehrkosten der Polizei auf die Veranstalterinnen und Veranstalter abzuwälzen, wobei die Kosten an die Stelle verlagert werden sollen, an der die Gewinne anfallen. Auf diese Weise sollen die Mehrkosten der Polizeieinsätze nicht durch die Gesamtheit der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler, sondern jedenfalls auch durch die (un)mittelbaren wirtschaftlichen Nutznießerinnen und Nutznießer der Polizeieinsätze geschultert werden. Dies ist ein legitimes Ziel.

Der Legitimität des mit § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG verfolgten Ziels steht kein verfassungsrechtlich verbürgtes generelles Gebührenerhebungsverbot im Polizeirecht entgegen. Die Verfassung kennt keinen allgemeinen Grundsatz, nach dem die polizeiliche Sicherheitsvorsorge durchgängig kostenfrei zur Verfügung gestellt werden muss. Die Gefahrenvorsorge ist keine allgemeine staatliche Tätigkeit, die zwingend ausschließlich aus dem Steueraufkommen zu finanzieren ist.

b) Die Gebührenpflicht ist zur Erreichung des Ziels auch geeignet und erforderlich.

c) Die mit der Gebührenerhebung verbundenen Einschränkungen der nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützten beruflichen Freiheit sind angemessen.

aa) Die Gebühr wird insbesondere als Gegenleistung für eine individuell zurechenbare Leistung erhoben.

(1) Es besteht ein hinreichendes Näheverhältnis der Gebührenpflichtigen zur öffentlichen Leistung, also dem Mehraufwand des Polizeieinsatzes. Die Zurechenbarkeit rechtfertigt sich dabei aus einer Gesamtschau mehrerer Gesichtspunkte, die überwiegend dem Veranlasserprinzip zuzuordnen sind.

(a) Indem sie eine Veranstaltung durchführen, bei der erfahrungsgemäß Gewalthandlungen in erheblichem Maße zu erwarten sind (Hochrisikoveranstaltung), veranlassen die Veranstalterinnen und Veranstalter eine deutlich gesteigerte staatliche Sicherheitsvorsorge, nehmen damit begrenzte öffentliche Ressourcen in deutlich übermäßigem Umfang in Anspruch und begründen so ein Näheverhältnis zu der erbrachten staatlichen Leistung, welche ohne die Hochrisikoveranstaltung nicht notwendig wäre.

Zwischen dem Aufwand und der Verursachung besteht dabei auch bei wertender Betrachtung ein Näheverhältnis. Die Nähe zum gebührenpflichtigen Mehraufwand wird im vorliegenden Fall auch durch den besonderen Umfang des Aufwands begründet, der in abgrenzbarer Weise durch die Veranstaltung und gerade nicht durch die Allgemeinheit verursacht wird.

Die sicherheitsrechtliche Lage in einer Stadt, in der eine Hochrisikoveranstaltung durchgeführt wird, unterscheidet sich von einer Normallage in einer Weise, die bei wertender Betrachtung die Einschätzung des Gesetzgebers, hier liege eine quantitative Sondernutzung der Sicherheitsgewährleistung vor, hinreichend trägt. So wurde bei dem Hochrisikospiel, das dem vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren zugrunde liegt, ein Vielfaches an Polizeikräften im Vergleich zu „Nicht-Hochrisikospielen“ eingesetzt.

Die besondere Nähe zu der kostenverursachenden Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte ist weiter auch deshalb gegeben, weil die Durchführung einer Hochrisikoveranstaltung eine besondere Gefahrträchtigkeit in sich birgt und dadurch übermäßig die begrenzten öffentlichen Ressourcen bindet. Insbesondere bei Hochrisikofußballspielen ist die Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte wegen der besonderen Gefahrträchtigkeit plausibel und wird durch langjährige Erfahrungen gestützt.

(b) Die von § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG erfassten staatlichen Maßnahmen besitzen weiter deshalb einen spezifischen Bezug zu den in der Vorschrift genannten Veranstaltungen, weil sie gerade deren Durchführung ermöglichen. Die Veranstalterinnen und Veranstalter sind objektiv, ohne es beantragt oder ausdrücklich erwünscht zu haben, Nutznießerinnen und Nutznießer dieser Bereitstellung von Polizeikräften. Die hierdurch ermöglichte Risikominimierung kommt ihnen zugute, weil sie ohne diese ihre Veranstaltung nicht oder zumindest nicht in der gewählten Form ausrichten könnten.

(2) Die individuelle Zurechnung setzt auch nicht die polizeiliche Verantwortlichkeit der Veranstalterinnen und Veranstalter voraus. Das Grundgesetz kennt keinen entsprechenden Grundsatz.

(3) Die durch eine gefahrträchtige Großveranstaltung veranlasste erhöhte Sicherheitsvorsorge bleibt den Veranstalterinnen und Veranstaltern zurechenbar, auch wenn die Realisierung der Gefahr von einem – gegebenenfalls rechtswidrigen – Verhalten Dritter abhängt. Ein vorsätzliches Dazwischentreten Dritter führt jedenfalls dann nicht zwingend zu einer Unterbrechung der Zurechnung des Mehraufwandes, wenn die Veranstaltung in Kenntnis ihrer Gefahrträchtigkeit durchgeführt wird.

bb) Die Bremer Veranstaltungsgebühr beeinträchtigt die Berufsfreiheit der Veranstalterinnen und Veranstalter auch in einer Gesamtschau nicht unangemessen. Grundsätzlich steht das Ziel der Gebühr, nicht die Allgemeinheit mit dem der Polizei entstandenen Mehraufwand bei Hochrisikoveranstaltungen zu belasten, sondern deren Veranstalterinnen und Veranstalter, die den Mehraufwand veranlassen und mit der Veranstaltung einen Gewinn erzielen wollen, nicht außer Verhältnis zu der aus der Gebührenpflicht folgenden Beeinträchtigung beruflicher Freiheit. Insbesondere ist eine unangemessene Belastung oder eine erdrosselnde Wirkung durch § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG nicht erkennbar. Bezogen auf die finanzielle Belastungswirkung ist auch zu berücksichtigen, dass § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG nur einen kleinen Teil von kommerziellen Veranstaltungen betrifft.

d) § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG genügt zudem dem Gebot der Bestimmtheit und Normenklarheit. Die in der Verfassungsbeschwerde bezeichneten Merkmale auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite werfen keine Auslegungsprobleme auf, die nicht mit herkömmlichen juristischen Methoden bewältigt werden können. Auch der Umstand, dass die Gebührenhöhe von den Veranstalterinnen und Veranstaltern selbst im Voraus nicht genau berechnet werden konnte, ändert hieran nichts. Das Bestimmtheitsgebot verlangt nicht, dass sich aus den Regelungen zur Bemessung der Gebühr vorab deren exakte Höhe ermitteln lässt.

II. § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG ist auch mit dem allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar.

Indem die Norm die Gebührenlast für die Bereitstellung zusätzlicher Polizeikräfte nicht allen Veranstalterinnen und Veranstaltern, sondern nur denjenigen auferlegt, die die in § 4 Abs. 4 BremGebBeitrG genannten Kriterien erfüllen, differenziert die Norm zwischen verschiedenen Gruppen.

Wegen des vorliegenden Eingriffsgewichts in die Berufsfreiheit nach Art. 12 Abs. 1 GG ist für die hier relevanten Ungleichbehandlungen nicht nur ein sachlicher Grund erforderlich, vielmehr muss das Verhältnis des durch die Ungleichbehandlung beabsichtigten Gemeinwohlgewinns angemessen zu der damit verbundenen Ungleichheit sein. Dies ist der Fall.

1. Die Differenzierungen dienen gerade dazu, den mit dem Eingriff verfolgten Zweck zu realisieren. Der Aufwand soll dorthin verlagert werden, wo die Gewinne hinfließen und wo sie typischerweise auch vorhanden sind. Indem an die Gewinnorientierung angeknüpft wird, wird die Belastung gerade auf den Bereich verlagert, in dem die Schuldnerinnen und Schuldner einen Vorteil erzielen. Der Unterschied im daraus erwachsenden Vorteil zwischen gewinnorientierten, einen monetären Vorteil ziehenden Veranstaltungen und nicht gewinnorientierten Veranstaltungen ist so groß, dass er die Nichteinbeziehung der nicht gewinnorientierten Veranstaltungen rechtfertigt.

2. Die Beschränkung auf Veranstaltungen mit voraussichtlich mehr als 5.000 zeitgleich teilnehmenden Personen verfolgt das Ziel, nur diejenigen Veranstaltungen zu erfassen, die einen deutlichen polizeilichen Mehraufwand hervorrufen. Das Merkmal verfolgt daher partiell das gleiche Ziel wie das der besonderen Gefahrträchtigkeit. Es soll nur die Veranstaltung, die eine administrativ und finanziell erhebliche Sondernutzung der Gefahrenvorsorge bewirkt, erfasst werden. Darüber hinaus unterstützt die Konzentration auf die Größe der Veranstaltung auch das gleiche Ziel wie das Kriterium der Gewinnorientierung. Es ist anzunehmen, dass eine Veranstaltung umso gewinnbringender ist, je größer sie ist. Die Differenzierung soll gerade das Ziel des Eingriffs ermöglichen und steht nicht außer Verhältnis zur bewirkten Belastung.


BayVGH: Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung rechtswidrig

BayVGH
Beschluss vom 15.02.2023
4 CE 23.2267


Der BayVGH hat entschieden, dass die Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung rechtswidrig ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
BayVGH: Drohnenbefliegung eines Wohngrundstücks zur Beitragserhebung ist rechtswidrig

Mit Beschluss vom 15. Februar 2024 hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) die Beschwerde der Stadt Neumarkt-Sankt Veit im Landkreis Mühldorf am Inn zurückgewiesen und die geplante Drohnenbefliegung eines Wohngrundstücks zur Ermittlung der Geschossfläche als rechtswidrig eingestuft.

Die Stadt Neumarkt-Sankt Veit plante ursprünglich für Oktober 2023 eine Drohnenbefliegung verschiedener Wohngrundstücke, um die Geschossfläche der dort vorhandenen Gebäude zu bestimmen. Die dadurch erlangten Daten sollten zur Berechnung des sog. Herstellungsbeitrags dienen, der für den Anschluss von Grundstücken an die gemeindliche Abwasserentsorgung erhoben wird. Nachdem der Antragsteller, dem ein Wohngrundstück im Stadtgebiet gehört, über die geplante Drohnenbefliegung informiert worden war, wandte er sich an das Verwaltungsgericht München, das seinem Eilantrag stattgab. Gegen diesen Beschluss legte die Stadt Beschwerde zum BayVGH ein.

Der BayVGH wies die Beschwerde der Stadt zurück. Dem Antragsteller stehe ein Unterlassungsanspruch zu, der eine Drohnenbefliegung seines Grundstücks verbiete. Für die geplante Maßnahme fehle es bereits an einer Rechtsgrundlage. Hierfür könne insbesondere nicht die Generalklausel des bayerischen Datenschutzgesetzes herangezogen werden. Diese lässt eine Verarbeitung personenbezogener Daten durch eine öffentliche Stelle zu, wenn sie zur Erfüllung einer ihr obliegenden Aufgabe erforderlich ist. Die Vorschrift erlaube eine Erhebung personenbezogener Daten jedoch nur dann, wenn es sich um einen geringfügigen Eingriff in die Rechte der betroffenen Person handele. Der Einsatz der Drohne stelle aber einen erheblichen Eingriff in das vom Grundgesetz geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht des Antragstellers dar. Auch wenn das Wohngebäude von außen aufgenommen werde, sei die schützenswerte Privatsphäre betroffen. Denn mit der Drohne könnten Aufnahmen von zur Wohnung zählenden Terrassen, Balkonen oder Gartenflächen hergestellt werden. Zudem könnten die sich dort aufhaltenden Personen fotografiert werden. Weiter sei nicht auszuschließen, dass durch Glasflächen auch Innenräume erfasst würden.

Der Beschluss des BayVGH ist unanfechtbar.

(BayVGH, Beschluss vom 15. Februar 2024, Az.: 4 CE 23.2267)



VG München: DSGVO-Verstoß durch Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung

VG München
Beschluss vom 22.11.2023
M 7 E 23.5047


Das VG München hat entschieden, dass die Erhebung und Speicherung von Drohnenaufnahmen zu Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung nicht mit der DSGVO vereinbar ist.

Aus den Entscheidungsgründen:
3. Auch aus dem unionalen und nationalen Datenschutzrecht dürfte keine Ermächtigung zur Durchführung der streitgegenständlichen Maßnahmen folgen.

Der Anwendungsbereich der DSGVO ist eröffnet, da es sich bei den Informationen, die durch die streitgegenständlichen Maßnahmen erhoben werden sollen, um personenbezogene Informationen i. S. v. Art. 4 Nrn. 1 und 2 DSGVO handelt. Ein Personenbezug liegt nicht nur dann vor, wenn die Maßnahmen Personen möglicherweise (mit-)aufzeichnen, was hier durchaus im Bereich des Möglichen liegen könnte (vgl. OVG Saarl, U.v. 14.9.2017 ‒ 2 A 213/16 ‒ juris Rn. 23). Selbst wenn durch die streitgegenständlichen Maßnahmen tatsächlich keine Person mitaufgezeichnet würde, liegt der Personenbezug jedoch gleichwohl vor. Gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO bezeichnen „personenbezogene Daten“ alle Informationen, die sich auf eine identifizierte oder identifizierbare natürliche Person beziehen; als identifizierbar wird eine natürliche Person angesehen, die direkt oder indirekt, insbesondere mittels Zuordnung zu einer Kennung wie einem Namen, zu einer Kennnummer, zu Standortdaten etc. identifiziert werden kann. Die Informationen erfüllen die jeweils eigenständig zu prüfenden Merkmale (vgl. Klar/Kühling in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, DSGVO Art. 4 Rn. 11) des Personenbezugs und der Identifizierbarkeit der Person. Bei den bildlichen Aufzeichnungen und ihrer anschließenden Auswertung insbesondere durch Erstellen von Modellen handelt sich nicht um Sachdaten, sondern um Informationen, die sich auf eine natürliche Person beziehen. Wenn in der Information über eine Sache aufgrund individualisierender Identifikationsmerkmale, des Detaillierungsgrads oder der Einzigartigkeit der Sache ein Personenbezug angelegt ist, handelt es sich um ein personenbezogenes Datum (vgl. Klar/Kühling a.a.O. Rn. 13). Der Personenbezug ergibt sich bei den streitgegenständlichen Maßnahmen aus mehreren Erwägungen. Es handelt sich bei den bildlichen Aufzeichnungen von Grundstücken (und daraus erstellten Modellen) nicht lediglich um Sachdaten, sondern um personenbezogene Daten. Der Personenbezug ergibt sich aus der Georeferenziertheit der Daten und der nachträglichen Bearbeitung der Daten durch den Ingenieurdienstleister. Die bildlichen Aufzeichnungen („Rohdaten“) zeigen stets auch die exakten Positionsdaten der Drohne wie die Flughöhe im Augenblick des Bildes, die geographische Lagebestimmung, die Aufnahmerichtung und den Neigungswinkel an. Auch die nachträgliche Verknüpfung der bildlichen Aufzeichnung mit den Informationen wie Name, Anschrift und Flurstücknummer stellt den Personenbezug i. S. v. Art. 4 Nr. 1 DSGVO her (ausdrücklich für die Anschrift als individualisierendes Identifikationsmerkmal Klar/Kühling a.a.O. Rn. 13). Zudem weisen die beabsichtigten Aufnahmen einen hohen Detailgrad auf und es handelt sich bei den aufzuzeichnenden Informationen um Wohngrundstücke. Die Aufzeichnungen sollen u. a. Terrassen und Balkone erfassen. Durch (leicht) seitliche Aufnahmen werden bei dem beabsichtigten Vorgehen auch Fenster zu (Wohn-)Räumen erfasst. Auch wenn man zu Gunsten der Antragsgegnerin von einem Detailgrad von drei Zentimetern ausgeht, könnten konkrete Details der Wohnverhältnisse erfasst werden. Auf nicht-überdachten Flächen wie Terrassen könnten Gegenstände von einer Größe über drei Zentimeter erfasst werden. Unter überdachten Flächen ist die Aufzeichnung der Wohnverhältnisse nicht ausgeschlossen. Die (leicht) seitliche Perspektive würde auch das Erfassen der Wohnverhältnisse in der Nähe eines Fensters oder einer Glastür ermöglichen. Wie weit durch die seitliche Perspektive der Einblick in Fenster und Glastüren ermöglicht wird, hängt von der konkreten Flugroute, während der Aufzeichnungen angefertigt werden, sowie von der vorhandenen Bebauung, dem Abstand zwischen den Gebäuden und dem Baumbestand ab. Je größer der Abstand zwischen zwei Wohngebäuden und je geringer der Baumbestand wäre, desto umfassender wären die möglichen Aufzeichnungen der Wohnverhältnisse. Ob der Ingenieurdienstleister die Grundstücke einzelnen befliegt oder eine zusammenhängende Befliegung mehrerer benachbarter Grundstücke „am Stück“ bei durchgehender Aufzeichnung vornimmt, kann zumindest im Eilverfahren offenbleiben. Bei lebensnaher Betrachtung ergeben sich die Vorzüge der Drohnenbefliegung gegenüber anderen Möglichkeiten der Geschossflächenermittlung indes daraus, dass in einem oder wenigen einheitlichen Vorgängen eine Vielzahl von Grundstücken erfasst wird. Bei durchgehender Aufzeichnung während der Befliegung wäre eine besonders weitreichende Aufzeichnung der Wohnverhältnisse durch Fenster und Glastüren möglich. Der Antragsteller ist durch die verarbeiteten Informationen auch identifizierbar. Ausgehend von den durch den Ingenieurdienstleister erstellten Modellen und Plänen folgt die Identität des Antragstellers unmittelbar aus der Information selbst. Mit Blick auf die Rohdaten wie bspw. „Orthofotos“ ist der Antragsteller zumindest unter Zuhilfenahme weiterer Informationen identifizierbar.

Die Verarbeitung personenbezogener Daten dürfte auch nicht gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO i. V. m. Art. 4 Abs. 1 BayDSG rechtmäßig sein.

Richtet sich die Datenverarbeitung gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e, Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO nach dem Recht der Mitgliedstaaten, handelt es sich bei Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO nicht um die Rechtsgrundlage zur Datenverarbeitung, sondern um eine Vorschrift mit Richtliniencharakter. Die eigentliche Legitimationsgrundlage muss im (unionalen oder) nationalen Recht geregelt sein. Für öffentliche Stellen der Länder ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 BDSG der Anwendungsbereich des Bayerischen Landesdatenschutzgesetzes eröffnet, vgl. auch Art. 1 Abs. 1 Satz 1 BayDSG. Die von Art. 6 Abs. 3 Satz 1 Buchst. b DSGVO vorausgesetzte Rechtsgrundlage ist Art. 4 Abs. 1 BayDSG (vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch Datenschutz in Bayern, Stand: Juni 2018, BayDSG Art. 4 Rn. 3; Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, DSGVO Art. 6 Rn. 73).

Die streitgegenständlichen Maßnahmen dürften nicht gemäß Art. 4 Abs. 1 BayDSG zur Erfüllung einer der Antragsgegnerin obliegenden Aufgabe erforderlich sein. Da es sich bei Art. 4 Abs. 1 BayDSG um eine Durchführungsvorschrift handelt, richtet sich die Bestimmung der Begriffe „Aufgabe“ und „Erforderlichkeit“ nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e, Art. 23 Abs. 1 Buchst. a bis Buchst. e DSGVO (vgl. vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch Datenschutz in Bayern, Stand: Juni 2018, BayDSG Art. 4 Rn. 6). Die Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung fällt unter den Auffangtatbestand von Art. 23 Abs. 1 Buchst. e DSGVO (vgl. Bäcker in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, Art. 23 Rn. 22) als wichtiges Ziel des allgemeinen öffentlichen Interesses. Wirtschaftliche und finanzielle Interessen werden von Art. 23 Abs. 1 Buchst. e DSGVO explizit aufgeführt.

Die streitgegenständlichen Maßnahmen dürften jedoch nicht zur Durchführung der Beitrags- und Gebührenerhebung im Rahmen der Abwasserbeseitigung erforderlich sein. Bei dem Kriterium der Erforderlichkeit handelt es sich um einen autonomen Begriff des Unionsrechts (vgl. Albers/Veit in Wolff/Brink/v.Ungern-Sternberg, BeckOK Datenschutzrecht, 45. Edition, DSGVO Art. 6 Rn. 60). Die Voraussetzung der Erforderlichkeit stellt sicher, dass der Verantwortliche ein vorgegebenes Ziel nicht zum Anlass nimmt, überschießend personenbezogene Daten zu verarbeiten (vgl. Buchner/Petri in Kühling/Buchner, DSGVO-BDSG, 3. Aufl. 2020, DSGVO Art. 6 Rn. 118, 81). Gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e DSGVO ist eine Datenverarbeitung erforderlich, wenn ohne die Verarbeitung die Erreichung des Zwecks nicht, nur unzulänglich, nicht mit angemessenem Aufwand oder nicht in angemessener Zeit erfolgen könnte. Nach Erwägungsgrund 39 zur DSGVO sollten personenbezogene Daten nur verarbeitet werden dürfen, wenn der Zweck der Verarbeitung nicht in zumutbarer Weise durch andere Mittel erreicht werden kann. Ob Aufwand und Zeit angemessen sind, beurteilt sich nach einer Güterabwägung, in die einerseits die Schutzwürdigkeit der personenbezogenen Daten und andererseits der Verarbeitungszweck einzustellen ist (vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch in Datenschutz in Bayern, Stand Juni 2018, DSGVO Art. 6 Rn. 35).

Die streitgegenständlichen Maßnahmen dürften nicht erforderlich in diesem Sinne sein. Entgegen dem Vortrag der Antragsgegnerin dürften andere Verfahrensmöglichkeiten bestehen, mit denen der Zweck der Datenverarbeitung auch in zumutbarer Weise zu erreichen ist. So hat auch die Antragsgegnerin neben dem Befliegungsverfahren weitere Verfahrensmöglichkeiten zur Ermittlung der Geschossfläche in Betracht gezogen: die Grundstücksbegehung und das Selbstauskunftsverfahren.

Das Selbstauskunftsverfahren dürfte den Zweck hinlänglich, mit angemessenem Aufwand und in der angemessenen Zeit erreichen können. Es ist davon auszugehen, dass bei der letzten Beitragserhebung in 1995 über das Selbstauskunftsverfahren oder ein anderes geeignetes Verfahren ohne Befliegung und Aufzeichnung die Geschossflächenermittlung erfolgreich umgesetzt wurde. Es ist nicht ersichtlich, dass die Berechnung der Geschossfläche deutlich komplizierter wäre als die Berechnung der Wohnfläche. Der Großteil der Grundstückseigentümer dürfte bereits in der Grundsteuererklärung die Berechnung der Grundstücksfläche und ggf. der Wohnfläche vorgenommen haben und mit dem Selbstauskunftsverfahren vertraut sein. Zwar handelt es sich bei der Geschossfläche um einen anderen Wert als den der Wohnfläche, es dürfte sich jedoch bei beiden Flächen um Werte handeln, die ggf. durch händisches Messen der Bebauung unter Berücksichtigung des normativen Rahmens zu ermitteln sind. Die im Internet frei verfügbaren Berechnungshilfen für die Wohnfläche einerseits und die Geschossfläche andererseits dürften mit Blick auf ihre Anforderungen und die Komplexität des Vorhabens vergleichbar sein. Es ist auch nicht ersichtlich, weshalb bei der Ermittlung der Geschossfläche im Selbstauskunftsverfahren mit erheblichen Unrichtigkeiten und eventuell auch falschen Angaben gerechnet werden müsste. Bei Ermittlung der für die Herstellungsbeiträge erforderlichen Geschossfläche dürfte wie bei Ermittlung der für die Grundsteuer erforderlichen Wohnfläche (und anderen Angaben) davon auszugehen sein, dass die Beitragspflichtigen wie auch die Steuerpflichtigen wahrheitsgemäße Angaben machen, wovon die Antragsgegnerin grundsätzlich ausgehen können dürfte. Es liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die Antragsgegnerin bei Ermittlung der Werte im Selbstauskunftsverfahren in erheblichem Umfang mit bewussten oder unbewussten Falschangaben rechnen müsste. Die Antragsgegnerin hat in diesem Zusammenhang lediglich Vermutungen geäußert, ohne diese durch weiteren Vortrag plausibel zu belegen. Ob bspw. bei der letzten Erhebung des Beitrags und der dabei erfolgenden Geschossflächenermittlung Falschauskünfte zu verzeichnen waren, wurde nicht vorgetragen.

Das Selbstauskunftsverfahren dürfte auch mit angemessenem Aufwand und in der angemessenen Zeit durchführbar sein. Dies indiziert bereits ein der Antragsgegnerin vorliegendes Angebot einer anderen Kommunalberatung zur Kalkulation der Beiträge und Gebühren vom 23. Mai 2023, die ebenfalls mit einem (anderen) Ingenieurdienstleister zur Datenerhebung kooperiert. Nach dem Angebot dieses Ingenieurdienstleisters vom 19. Mai 2023 wurde zur Ermittlung der beitrags- und gebührenrelevanten Flächen vorgeschlagen, entweder auf die kostenpflichtig zu erwerbenden Bilder des Landesvermessungsamts zurückzugreifen und eine (lediglich ergänzende) Selbstauskunft durchzuführen („Alternative 1“) oder auf Grundlage des Amtlichen Liegenschaftskatasters ein reines Selbstauskunftsverfahren („Alternative 2“) durchzuführen. Für das als „Alternative 1“ bezeichnete Verfahren wurde wegen des geringen Baumbestands in der Gemarkung der Antragsgegnerin entgegen der üblichen Vorgehensweise vorgeschlagen, die Luftbilder des Landesvermessungsamtes zu erwerben. Auf dieser Grundlage würden die beitrags- und gebührenrelevanten Flächen ermittelt. Dadurch könnte direkt nach Erwerb der Luftbilder und damit deutlich schneller mit der Datenauswertung begonnen werden. Auch die Vorgehensweise in einem reinen Selbstauskunftsverfahren könnte in angemessener Zeit durchgeführt werden. Um die Rückgabe der Selbstauskunftsformulare zu beschleunigen, stünden der Antragsgegnerin verschiedene Möglichkeiten offen. Sie könnte Fristen setzen, Mahnungen aussprechen, Verspätungszuschläge erheben oder bei Einreichung innerhalb einer genannten Frist eine Reduzierung des Guthabens in Aussicht stellen. Auch der finanzielle Aufwand dürfte sowohl bei dem Rückgriff auf die Bilder des Landesvermessungsamtes als auch bei einem reinen Selbstauskunftsverfahren für die Antragsgegnerin und die Beitragspflichtigen nicht höher, sondern vielmehr niedriger sein.

Gegen die Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung durch die streitgegenständlichen Maßnahmen spricht auch der Grundsatz der Speicherbegrenzung. Nach Art. 5 Abs. 1 Buchst. e DSGVO müssen personenbezogene Daten in einer Form gespeichert werden, die die Identifizierung der Betroffenen Personen nur solange ermöglicht, wie es für die Zwecke, für welche diese verarbeitet werden, erforderlich ist. Aus dem Grundsatz der Speicherbegrenzung folgt das Verbot der Datenerhebung und Datenspeicherung auf Vorrat (vgl. Wilde/Ehmann/Niese/Knoblauch Datenschutz in Bayern, Stand April 2023, DSGVO Art. 6 Rn. 36). Ist bei der Erhebung nicht absehbar, zu welchem Zweck sie irgendwann einmal benutzt werden könnten, handelt es sich um Datenerhebung und Speicherung auf Vorrat. Sofern die Antragsgegnerin mit der Datenerhebung weitere, zusätzliche Zwecke verfolgt wie die Ermittlung von Gebäudehöhen, Firsthöhen und Dachneigungen, rechtfertigen diese Zwecke die konkrete Datenerhebung und -speicherung nicht.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

BGH: HOAI-Mindestsätze in der Fassung 2013 sind in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen trotz Unionsrechtwidrigkeit weiterhin anwendbar

BGH
Urteil vom 02.06.2022
VII ZR 174/19


Der BGH hat entschieden, dass die HOAI-Mindestsätze in der Fassung 2013 in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen trotz Unionsrechtswidrigkeit weiterhin anwendbar sind.

Die Pressemitteilung des BGH:
Mindestsätze der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) in der Fassung aus dem Jahr 2013 sind in einem laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen weiterhin anwendbar

Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hatte in einem von der Europäischen Kommission betriebenen Vertragsverletzungsverfahren durch Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat. In der Instanzrechtsprechung sowie im Schrifttum war daraufhin ein Meinungsstreit darüber entstanden, ob die betreffenden Vorschriften der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfalten, dass die der Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI), wonach die in dieser Honorarordnung statuierten Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen grundsätzlich verbindlich sind und eine die Mindestsätze unterschreitende Honorarvereinbarung in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren unwirksam ist, nicht mehr anzuwenden sind.

Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Architekten- und Ingenieurverträge zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat daraufhin in dem Revisionsverfahren VII ZR 174/19, dem die HOAI in der Fassung aus dem Jahre 2013 zugrunde liegt, mit Beschluss vom 14. Mai 2020 dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV mehrere Fragen zur Unionsrechtswidrigkeit des verbindlichen Preisrechts der HOAI (2013) vorgelegt (vgl. Pressemitteilung Nr. 59/2020). Der EuGH hat durch Urteil vom 18. Januar 2022 (C-261/20 - Thelen Technopark Berlin) entschieden, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen die in Rede stehenden Bestimmungen der Dienstleistungsrichtlinie Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen, jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung der Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen des Rechts der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei, Ersatz des ihr daraus entstandenen Schadens zu verlangen.

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute in dem zugrundeliegenden Revisionsverfahren VII ZR 174/19 eine abschließende Entscheidung getroffen.

Sachverhalt:

Der Kläger, der ein Ingenieurbüro betreibt, verlangt von der Beklagten die Zahlung restlicher Vergütung aufgrund eines im Jahre 2016 abgeschlossenen Ingenieurvertrages, in dem die Parteien für die vom Kläger zu erbringenden Ingenieurleistungen bei einem Bauvorhaben der Beklagten ein Pauschalhonorar in Höhe von 55.025 € vereinbart hatten.

Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag gekündigt hatte, rechnete er im Juli 2017 seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) in der Fassung aus dem Jahr 2013 ab. Mit der Klage hat er eine noch offene Restforderung in Höhe von 102.934,59 € brutto geltend gemacht.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 100.108,34 € verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Beklagte zur Zahlung von 96.768,03 € verurteilt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.

Das Oberlandesgericht hat die Auffassung vertreten, dem Kläger stehe ein restlicher vertraglicher Zahlungsanspruch nach den Mindestsätzen der HOAI (2013) zu. Die im Ingenieurvertrag getroffene Pauschalpreisvereinbarung sei wegen Verstoßes gegen den Mindestpreischarakter der HOAI als zwingendes Preisrecht unwirksam. Das in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangene Urteil des EuGH ändere nichts an der Anwendbarkeit der maßgeblichen Bestimmungen der HOAI zum Mindestpreischarakter.

Mit seiner vom Berufungsgericht zugelassenen Revision hat die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiterverfolgt.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Das angefochtene Urteil des Berufungsgerichts hat damit Bestand.

Wie der Bundesgerichtshof bereits in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH vom 14. Mai 2020 ausgeführt hat, sind nach nationalem Recht die Vorschriften der HOAI, die das verbindliche Preisrecht (hier: die Mindestsätze) regeln, unbeschadet des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 4. Juli 2019 (C-377/17 - Kommission/Deutschland) anzuwenden und führen zu einem Honoraranspruch des Klägers in der vom Oberlandesgericht zuerkannten Höhe. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts ist die zwischen den Parteien im Ingenieurvertrag getroffene Pauschalhonorarvereinbarung nach nationalem Recht unwirksam, weil sie das sich bei Anwendung der Mindestsätze ergebende Honorar unterschreitet, ohne dass ein Ausnahmefall gemäß § 7 Abs. 3 HOAI vorliegt. Der Kläger kann danach von der Beklagten das Mindestsatzhonorar, dessen Berechnung der Höhe nach nicht angegriffen ist, abzüglich bereits geleisteter Zahlungen verlangen.

Die hiergegen gerichteten Einwände der Beklagten, die sich unter anderem auf einen Verstoß des Klägers gegen Treu und Glauben gemäß § 242 BGB berufen hat, greifen nicht durch. Der Bundesgerichtshof hat insoweit auf seine Ausführungen im Beschluss vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) Bezug genommen, von denen abzuweichen kein Anlass besteht. Ergänzend hierzu hat er in seinem heute verkündeten Urteil darauf hingewiesen, dass die Geltendmachung eines Anspruchs durch eine Partei insbesondere nicht deshalb gemäß § 242 BGB als treuwidrig und damit unzulässig bewertet werden kann, weil die nationale Rechtsvorschrift, aus der der Anspruch hergeleitet wird, gegen eine Richtlinie der Europäischen Union verstößt. Eine Partei kann sich vielmehr grundsätzlich auf eine nationale Rechtsvorschrift berufen, solange diese weiterhin gültig und im Verhältnis der Parteien anwendbar ist. Das von der Rechtsprechung entwickelte Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung ist nur dann einschlägig, wenn die Anwendung einer Rechtsvorschrift einen im Einzelfall bestehenden Interessenkonflikt ausnahmsweise nicht hinreichend zu erfassen vermag und für einen Beteiligten ein unzumutbares unbilliges Ergebnis zur Folge hätte. Es dient jedoch nicht dazu, eine vom nationalen Gesetzgeber mit einer Rechtsvorschrift getroffene Wertung generell durch eine andere Regelung zu ersetzen.

Eine richtlinienkonforme Auslegung des § 7 HOAI unter Berücksichtigung der im Vertragsverletzungsverfahren ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 4. Juli 2019 (C-377/17 - Kommission/Deutschland) führt, wie der Bundesgerichtshof ebenfalls bereits mit Beschluss vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) im Einzelnen ausgeführt hat, gleichfalls nicht zum Erfolg der Revision der Beklagten. § 7 HOAI kann nicht richtlinienkonform dahin ausgelegt werden, dass die Mindestsätze der HOAI im Verhältnis zwischen Privatpersonen grundsätzlich nicht mehr verbindlich sind und daher einer die Mindestsätze unterschreitenden Honorarvereinbarung nicht entgegenstehen.

Nach dem nunmehr im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil des
EuGH vom 18. Januar 2022 (C-261/20 - Thelen Technopark Berlin) steht fest, dass der Bundesgerichtshof im Streitfall nicht aufgrund Unionsrechts verpflichtet ist, das verbindliche Mindestsatzrecht der HOAI unangewendet zu lassen. Der EuGH hat insoweit festgestellt, dass der Dienstleistungsrichtlinie eine unmittelbare Wirkung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen - wie hier - nicht zukommt. Die betreffende Richtlinie steht der Anwendung der verbindlichen Mindestsätze daher nicht entgegen. Der EuGH hat ferner ausgeführt, dass die zuständigen nationalen Gerichte nicht allein aufgrund eines im Vertragsverletzungsverfahren erlassenen Urteils verpflichtet sind, im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen eine nationale Regelung, die gegen die Bestimmung einer Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen.

Europäisches Primärrecht in Form der Niederlassungsfreiheit, der Dienstleistungsfreiheit oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts stehen der Anwendung der in der HOAI verbindlich geregelten Mindestsätze im Streitfall ebenfalls nicht entgegen. Der EuGH hat insoweit klargestellt, dass die Bestimmungen des AEUV über die Niederlassungsfreiheit, den freien Dienstleistungsverkehr und den freien Kapitalverkehr auf einen Sachverhalt, dessen Merkmale nicht über die Grenzen eines Mitgliedsstaates hinausweisen, grundsätzlich keine Anwendung finden. Da der vorliegende Rechtsstreit durch Merkmale charakterisiert sei, die sämtlich nicht über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinauswiesen, könne ohne die Angabe eines Anknüpfungspunktes bezüglich der Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Grundfreiheiten durch das vorlegende nationale Gericht nicht davon ausgegangen werden, dass das entsprechende Ersuchen um Auslegung für die Entscheidung des Rechtsstreits erforderlich sei. Wenngleich der EuGH die diesbezügliche Vorlagefrage des Bundesgerichtshofs deshalb als unzulässig beschieden hat, steht danach fest, dass die betreffenden Grundfreiheiten oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts der Anwendung der in der HOAI verbindlich geregelten Mindestsätze im Streitfall nicht entgegenstehen. Über die sich bereits aus dem Vorabentscheidungsersuchen vom 14. Mai 2020 (VII ZR 174/19) ergebenden Ausführungen hinaus sind keine Anknüpfungspunkte bezüglich der Vorschriften des Unionsrechts betreffend die Grundfreiheiten oder sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts festzustellen. Veranlassung für ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union besteht daher nicht.

Vorinstanzen:

LG Essen - Urteil vom 28. Dezember 2017 - 6 O 351/17

OLG Hamm - Teilverzichts- und Schlussurteil vom 23. Juli 2019 - 21 U 24/18 (BauR 2019, 1810)

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

Bürgerliches Gesetzbuch

§ 242 Leistung nach Treu und Glauben

Der Schuldner ist verpflichtet, die Leistung so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern.

Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (2013)

§ 1 Anwendungsbereich

Diese Verordnung regelt die Berechnung der Entgelte für die Grundleistungen der Architekten und Architektinnen und der Ingenieure und Ingenieurinnen (Auftragnehmer oder Auftragnehmerinnen) mit Sitz im Inland, soweit die Grundleistungen durch diese Verordnung erfasst und vom Inland aus erbracht werden.

§ 7 Honorarvereinbarung

(1) Das Honorar richtet sich nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auftragserteilung im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze treffen.

(2) …

(3) Die in dieser Verordnung festgesetzten Mindestsätze können durch schriftliche Vereinbarung in Ausnahmefällen unterschritten werden.

(4) …

(5) Sofern nicht bei Auftragserteilung etwas anderes schriftlich vereinbart worden ist, wird unwiderleglich vermutet, dass die jeweiligen Mindestsätze gemäß Absatz 1 vereinbart sind.

(6) …

Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie)

Art. 15 Zu prüfende Anforderungen

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.

(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:



g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;



(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:

a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder - bei Gesellschaften - aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;

b) Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.

(5-7) …

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

Art. 267

Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

a) über die Auslegung der Verträge,

b) …

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. …




EuGH: HOAI-Mindestsatzklagen müssen trotz Verstoßes der HOAI-Mindestsätze gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie entschieden werden

EuGH
Urteil vom 18.01.2022
C-261/20
Thelen Technopark Berlin gegen MN


Der EuGH hat entschieden, dass HOAI-Mindestsatzklagen trotz Verstoßes der HOAI-Mindestsätze gegen die EU-Dienstleistungsrichtlinie entschieden werden müssen.

Die Pressemitteilung des EuGH:

Obwohl der Gerichtshof bereits festgestellt hat, dass die deutsche Regelung, die Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt (HOAI), gegen die Dienstleistungsrichtlinie verstößt, ist ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, diese deutsche Regelung unangewendet zu lassen.

Dies gilt jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung dieser Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen der Möglichkeit der durch die Unvereinbarkeit dieser Regelung mit dem Unionsrecht geschädigten Partei, gegebenenfalls Schadensersatz vom deutschen Staat zu verlangen.

2016 schlossen Thelen, eine Immobiliengesellschaft, und MN, ein Ingenieur, einen Ingenieurvertrag, in dessen Rahmen MN sich gegen die Zahlung eines Pauschalhonorars in Höhe von 55 025 Euro verpflichtete, bestimmte Leistungen nach der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (Honorarordnung für Architekten und Ingenieure – HOAI) vom 10. Juli 2013 zu erbringen.

Ein Jahr später kündigte MN diesen Vertrag und rechnete seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung ab. Unter Berufung auf eine Bestimmung der HOAI , nach der der Dienstleistungserbringer für die von ihm erbrachte Leistung Anspruch auf eine Vergütung hat, die mindestens dem im nationalen Recht festgesetzten Mindestsatz entspricht, und unter
Berücksichtigung der bereits geleisteten Zahlungen erhob MN Klage, um die Zahlung des geschuldeten Restbetrags in Höhe von 102 934,59 Euro geltend zu machen, d. h. eines höheren Betrags als des von den Vertragsparteien vereinbarten.

Thelen, die in erster und zweiter Instanz teilweise unterlegen war, legte beim Bundesgerichtshof (Deutschland), dem vorlegenden Gericht in der vorliegenden Rechtssache, Revision ein. Im Rahmen seines Vorabentscheidungsersuchens weist dieses Gericht darauf hin, dass der Gerichtshof bereits die Unvereinbarkeit dieser Bestimmung der HOAI mit der Bestimmung der Richtlinie 2006/123 festgestellt habe, die es den Mitgliedstaaten im Wesentlichen verbiete, Anforderungen beizubehalten, die die Ausübung einer Tätigkeit von der Beachtung von Mindestund/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer abhängig machten, es sei denn diese Anforderungen erfüllten die kumulativen Bedingungen der Nicht-Diskriminierung, der
Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit . Das vorlegende Gericht beschloss daher, den Gerichtshof mit der Frage zu befassen, ob ein nationales Gericht bei der Beurteilung der Begründetheit der Klage eines Einzelnen gegen einen anderen Einzelnen die einer Richtlinie, hier der Dienstleistungsrichtlinie, widersprechende Bestimmung des nationalen Rechts, auf die die
Klage gestützt wird, unangewendet lassen muss. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass eine mit der Dienstleistungsrichtlinie konforme Auslegung der HOAI im vorliegenden Fall nicht möglich sei.

Würdigung durch den Gerichtshof
Mit seinem Urteil erkennt der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen.

Zwar verpflichtet der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts alle mitgliedstaatlichen Stellen, den verschiedenen Vorschriften der Europäischen Union volle Wirksamkeit zu verschaffen. Zudem verlangt dieser Grundsatz, dass das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat, dann, wenn es eine nationale Regelung nicht unionsrechtskonform auslegen kann, für die volle Wirksamkeit der Bestimmungen des Unionsrechts Sorge zu tragen hat, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.

Allerdings ist ein nationales Gericht nicht allein aufgrund des Unionsrechts verpflichtet, eine Bestimmung seines nationalen Rechts, die mit einer Bestimmung des Unionsrechts in Widerspruch steht, unangewendet zu lassen, wenn die letztgenannte Bestimmung keine unmittelbare Wirkung hat. Gleichwohl kann davon unbeschadet dieses Gericht sowie jede zuständige nationale Verwaltungsbehörde die Anwendung jeder Bestimmung des nationalen Rechts, die gegen eine Bestimmung des Unionsrechts ohne unmittelbare Wirkung verstößt, aufgrund des innerstaatlichen Rechts ausschließen.

Im vorliegenden Fall weist der Gerichtshof darauf hin, dass Art. 15 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie nach seiner eigenen Rechtsprechung eine unmittelbare Wirkung entfalten kann, da diese Bestimmung hinreichend genau, klar und unbedingt ist. Diese Bestimmung als solche wird jedoch im vorliegenden Fall in einem Rechtsstreit zwischen Privaten angeführt, um die
Anwendung einer gegen sie verstoßenden nationalen Regelung auszuschließen. Konkret würde die Anwendung von Art. 15 Abs. 1 der Dienstleistungsrichtlinie im Ausgangsrechtsstreit MN sein Recht nehmen, ein Honorar in der Höhe einzufordern, die dem in den fraglichen nationalen Vorschriften vorgesehenen Mindestsatz entspricht. Die Rechtsprechung des Gerichtshofs schließt
jedoch aus, dass dieser Bestimmung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits zwischen Privaten eine solche Wirkung zuerkannt werden kann.

Der Gerichtshof führt weiter aus, dass nach Art. 260 Abs. 1 AEUV, wenn der Gerichtshof eine Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats feststellt, dieser Mitgliedstaat die Maßnahmen zu ergreifen hat, die sich aus dem Urteil des Gerichtshofs ergeben, wobei die zuständigen nationalen Gerichte und Verwaltungsbehörden ihrerseits verpflichtet sind, alle Bestimmungen zu erlassen, um die volle Geltung des Unionsrechts zu erleichtern, und dabei erforderlichenfalls eine gegen das Unionsrecht
verstoßende nationale Bestimmung unangewendet zu lassen. Gleichwohl haben die Urteile, mit denen solche Verstöße festgestellt werden, vor allem die Festlegung der Aufgaben der Mitgliedstaaten im Fall der Verletzung ihrer Pflichten zum Gegenstand, und nicht die Verleihung von Rechten an Einzelne. Daher sind diese Gerichte oder Behörden nicht allein aufgrund solcher Urteile verpflichtet, im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privaten eine nationale Regelung, die gegen die Bestimmung einer Richtlinie verstößt, unangewendet zu lassen.

Dagegen könnte sich die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs berufen, um gegebenenfalls Ersatz eines durch diese Unvereinbarkeit entstandenen Schadens zu erlangen. Nach dieser Rechtsprechung muss jeder Mitgliedstaat sicherstellen, dass dem Einzelnen der Schaden ersetzt wird, der ihm durch die Nichtbeachtung des Unionsrechts entstanden ist.

Der Gerichtshof hebt insoweit hervor, dass, nachdem er bereits festgestellt hat, dass die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung nicht mit dem Unionsrecht vereinbar ist und ihre Beibehaltung daher eine Vertragsverletzung seitens der Bundesrepublik Deutschland darstellt, dieser Verstoß gegen das Unionsrecht als offenkundig qualifiziert im Sinne seiner Rechtsprechung zur außervertraglichen Haftung eines Mitgliedstaats wegen Verstoßes gegen das Unionsrecht anzusehen ist.


Tenor der Entscheidung:

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit anhängig ist, in dem sich ausschließlich Privatpersonen gegenüberstehen, nicht allein aufgrund dieses Rechts verpflichtet ist, eine nationale Regelung unangewendet zu lassen, die unter Verstoß gegen Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt Mindesthonorare für die Leistungen von Architekten und Ingenieuren festsetzt und die Unwirksamkeit von Vereinbarungen vorsieht, die von dieser Regelung abweichen, jedoch unbeschadet zum einen der Möglichkeit dieses Gerichts, die Anwendung der Regelung im Rahmen eines solchen Rechtsstreits aufgrund des innerstaatlichen Rechts auszuschließen, und zum anderen des Rechts der durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigten Partei, Ersatz des ihr daraus entstandenen Schadens zu verlangen.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerwG: ZDF-Fernsehlotterie "Aktion Mensch" - Gebühren für Erteilung bundesweit geltender glücksspielrechtlicher Erlaubnisse rechtmäßig

BVerwG
Urteil vom 29.04.2021
9 C 1.20


Das BVerwG hat entschieden, dass die Gebühren nach dem GlüStV für die Erteilung bundesweit geltender glücksspielrechtlicher Erlaubnisse rechtmäßig ist. Vorliegend ging es um die ZDF-Fernsehlotterie "Aktion Mensch"

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Gebühren für ZDF-Fernsehlotterie "Aktion Mensch" rechtmäßig

Die in dem bis Mitte 2021 geltenden Glücksspielstaatsvertrag vorgesehene Gebührenregelung für die Erteilung bundesweit geltender glücksspielrechtlicher Erlaubnisse ist verfassungskonform. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am 29. April 2021 entschieden.

Der Kläger, ein gemeinnütziger Verein, veranstaltet die ZDF-Fernsehlotterie "Aktion Mensch". Hierfür erteilte ihm das - für länderübergreifende Lotterien zentral zuständige - Land Rheinland-Pfalz für die Jahre 2015 bis 2019 eine Erlaubnis nach dem Glücksspielstaatsvertrag (GlüStV). Für die Erteilung einer solchen mehrjährigen Erlaubnis wird nach § 9a Abs. 4 Satz 2 und 3 GlüStV eine jährlich gesondert berechnete Verwaltungsgebühr erhoben. Auf dieser Grundlage setzte das rheinland-pfälzische Innenministerium mit dem angefochtenen Bescheid eine Gebühr in Höhe von 163.407,- Euro für das Jahr 2018 fest. Dem lagen voraussichtliche Spieleinsätze in Höhe von ca. 466 Mio. Euro zugrunde. Die hiergegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Mainz ab und ließ zur Klärung der Frage, ob die Gebührenvorschrift des § 9a Abs. 4 Satz 2 GlüStV verfassungskonform ist, die Sprungrevision zu.

Das Bundesverwaltungsgericht hat die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und sich dabei zu den Maßstäben geäußert, die für die Bemessung von Verwaltungsgebühren durch den Gesetzgeber gelten. Diesem kommt bei der Einführung eines neuen Gebührentatbestands ein weiter Gestaltungs-, Typisierungs- und Pauschalierungsspielraum zu, der vorliegend nicht überschritten ist. Die Staatsvertragsparteien verfolgten zwei legitime Gebührenzwecke, nämlich zum einen die Deckung des aus der Erteilung von Erlaubnissen im ländereinheitlichen Verfahren resultierenden Verwaltungsaufwands und zum anderen den Vorteilsausgleich. Zu diesen Zwecken steht die im Staatsvertrag vorgesehene Gebühr nicht in einem groben Missverhältnis.

Die Einzelheiten der Kostenabschätzung hat das Gericht mit Blick darauf im Ergebnis nicht beanstandet, dass es sich um eine neu eingeführte Gebühr handelte. Eine Bevorzugung von Lotterien gemeinnütziger Veranstalter war verfassungsrechtlich nicht geboten, weil auch diese Lotterien nach dem Glücksspielstaatsvertrag Lotterien mit geringerem Gefährdungspotential sind und nur mit Erlaubnis durchgeführt werden dürfen.

Fußnote:
§ 9a Abs. 4 GlüStV lautet auszugsweise:

2 Für die Erteilung einer Erlaubnis oder Konzession für das Veranstalten eines Glücksspiels wird bei genehmigten oder voraussichtlichen Spiel- oder Wetteinsätzen

a) bis c) …

d) über 100 Millionen Euro eine Gebühr in Höhe von 71 000 Euro zuzüglich 0,3 v.T. der 100 Millionen Euro übersteigenden Spiel- oder Wetteinsätze

erhoben; zugrunde zu legen ist die Summe der genehmigten oder voraussichtlichen Spiel- oder Wetteinsätze in allen beteiligten Ländern.

3 Wird die Erlaubnis oder Konzession für mehrere aufeinanderfolgende Jahre oder Veranstaltungen erteilt, erfolgt die Berechnung gesondert für jedes Jahr und jede Veranstaltung, wobei sich die Gebühr nach Satz 2 für jedes Folgejahr oder jede Folgeveranstaltung um 10 v.H. ermäßigt.

BVerwG 9 C 1.20 - Urteil vom 29. April 2021

Vorinstanz:

VG Mainz, 1 K 48/19.MZ - Urteil vom 28. November 2019 -



BVerwG: Gebühren nach Verwaltungsaufwand für Beantwortung eines Auskunftsbegehens eines Journalisten nach dem Informationsfreiheitsgesetzes rechtmäßig

BVerwG
Urteil vom 13.10.2020
10 C 23.19


Das BVerwG hat entschieden, dass die Berechnung von Gebühren nach Verwaltungsaufwand für Beantwortung eines Auskunftsbegehens eines Journalisten nach dem Informationsfreiheitsgesetzes rechtmäßig ist.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Gebührenbemessung nach Verwaltungsaufwand bei Informationsansprüchen rechtmäßig

Eine Gebühr i.H.v. 235 € für die Herausgabe von Abschriften auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes, bei der ein Verwaltungsaufwand von ca. vier Stunden entsteht, ist nicht ermessensfehlerhaft und verletzt nicht das sog. Abschreckungsverbot. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.

Der Kläger ist Journalist. Er wendet sich gegen die Festsetzung einer Gebühr für die Bearbeitung eines Antrags nach dem Informationsfreiheitsgesetz. Im Dezember 2016 beantragte er beim Bundesministerium des Innern, ihm die Gesprächsvorbereitung für Bundesinnenminister de Maizière für ein Treffen mit Mark Zuckerberg zu übersenden. Das Ministerium kam dem Begehren teilweise nach und setzte hierfür auf Grundlage der Bearbeitungsdauer von knapp vier Stunden eine Gebühr i.H.v. 235 € fest.

Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht den Gebührenbescheid aufgehoben. Das Ministerium habe bei der Ausfüllung des geltenden Gebührenrahmens von 30 bis 500 € sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit hätte das Ministerium zunächst alle denkbaren Informationsansprüche ihrem Umfang nach gleichmäßig auf den Gebührenrahmen verteilen und den Fall des Klägers sodann in diese Spanne einordnen müssen. Die schlichte Orientierung der Gebührenhöhe am Verwaltungsaufwand genüge dem nicht.

Auf die Sprungrevision des Ministeriums hat das Bundesverwaltungsgericht die Entscheidung des Verwaltungsgerichts geändert und die Klage abgewiesen. Die Gebührenbemessung entspricht den gesetzlichen Vorgaben des § 10 Abs. 2 des Informationsfreiheitsgesetzes (IFG) und der dazu ergangenen Informationsgebührenverordnung. Die hierauf gestützte Entscheidung ist ermessensgerecht. § 10 Abs. 2 IFG schreibt vor, dass die Gebührenhöhe am Verwaltungsaufwand zu orientieren ist und dass die Gebühr nicht so hoch sein darf, dass der Informationszugang nicht wirksam in Anspruch genommen werden kann (sog. Abschreckungsverbot). Dem ist das Ministerium gerecht geworden. Mit der Gebührenhöhe wird keine vollständige Kostendeckung erzielt; es werden lediglich ein Teil der Personalkosten und keine Sachkosten in Ansatz gebracht. Darüber hinaus setzt die Informationsgebührenverordnung mit ihren differenzierten Tatbeständen und verschiedenen Maximalgebühren das Abschreckungsverbot wirksam um. Der Maximalwert einiger Tarifstellen liegt wie hier bei 500 €. Andere Tarifstellen sehen zum Teil geringere Gebührenrahmen vor, keine einen höheren Maximalwert. Zudem kennt die Informationsgebührenverordnung auch gänzlich gebührenfreie Tarifstellen (etwa für einfache Auskünfte und die Herausgabe von wenigen Abschriften) und die Möglichkeit, aus Gründen der Billigkeit Gebühren abzusenken oder ganz zu erlassen. Ein Gebot, die konkrete Gebühr nach dem Prinzip der individuellen Gleichmäßigkeit zu berechnen, wie es das Verwaltungsgericht verstanden hat, lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.

Fußnote:
§ 10 Abs. 2 IFG lautet:

Die Gebühren sind auch unter Berücksichtigung des Verwaltungsaufwandes so zu bemessen, dass der Informationszugang nach § 1 wirksam in Anspruch genommen werden kann.

BVerwG 10 C 23.19 - Urteil vom 13. Oktober 2020

Vorinstanz:
VG Berlin, 2 K 95.17 - Urteil vom 29. März 2019 -

BGH legt EuGH weitere Fragen zur Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze zur Entscheidung vor

BGH
Beschluss vom 14.05.2020
VII ZR 174/19


Der BGH hat dem EuGH weitere Fragen zur Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze zur Entscheidung vorgelegt.

(siehe auch zum Thema EuGH: Verbindliche Honorare mit Mindest- und Höchstsätzen in HOAI für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren sind unionsrechtswidrig)

Die Pressemitteilung des BGH:

Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zur Frage der Unionsrechtswidrigkeit der HOAI-Mindestsätze

Beschluss vom 14. Mai 2020 - VII ZR 174/19

Der Bundesgerichtshof hat heute ein Verfahren über die Vergütung eines Ingenieurs ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mehrere Fragen zu den Folgen der vom EuGH in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) angenommenen Unionsrechtswidrigkeit der Mindestsätze in der HOAI für laufende Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen vorgelegt.

Der EuGH hatte in diesem Urteil in einem von der Europäischen Kommission betriebenen Vertragsverletzungsverfahren entschieden, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie) verstoßen hat, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.

Sachverhalt:

Der Kläger, der ein Ingenieurbüro betreibt, verlangt von der Beklagten die Zahlung restlicher Vergütung aufgrund eines im Jahre 2016 abgeschlossenen Ingenieurvertrages, in dem die Parteien für die vom Kläger zu erbringenden Ingenieurleistungen bei einem Bauvorhaben der Beklagten ein Pauschalhonorar in Höhe von 55.025 € vereinbart hatten.

Nachdem der Kläger den Ingenieurvertrag gekündigt hatte, rechnete er im Juli 2017 seine erbrachten Leistungen in einer Honorarschlussrechnung auf Grundlage der Mindestsätze der Verordnung über die Honorare für Architekten- und Ingenieurleistungen (HOAI) in der Fassung aus dem Jahr 2013 ab. Mit der Klage hat er eine noch offene Restforderung in Höhe von 102.934,59 € brutto geltend gemacht.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht hat die Beklagte zur Zahlung von 100.108,34 € verurteilt. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht die Beklagte zur Zahlung von 96.768,03 € verurteilt. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf vollständige Klageabweisung weiter.

Das Oberlandesgericht hat die Auffassung vertreten, dem Kläger stehe ein restlicher vertraglicher Zahlungsanspruch nach den Mindestsätzen der HOAI (2013) zu. Die im Ingenieurvertrag getroffene Pauschalpreisvereinbarung sei wegen Verstoßes gegen den Mindestpreischarakter der HOAI als zwingendes Preisrecht unwirksam. Das in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik Deutschland ergangene Urteil des EuGH ändere nichts an der Anwendbarkeit der maßgeblichen Bestimmungen der HOAI zum Mindestpreischarakter. Das Urteil binde nur den Mitgliedstaat, der den europarechtswidrigen Zustand beseitigen müsse, entfalte hingegen für den einzelnen Unionsbürger keine Rechtswirkung. Eine Nichtanwendung der Mindestsätze der HOAI in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen könne auch nicht auf die Dienstleistungsrichtlinie gestützt werden, der keine unmittelbare Wirkung zu Lasten einzelner Unionsbürger zukomme. Es bestehe kein Anwendungsvorrang der Dienstleistungsrichtlinie gegenüber den unionsrechtswidrigen Regelungen der HOAI. Eine richtlinienkonforme Auslegung des zwingenden Preisrechts gemäß § 7 HOAI sei ausgeschlossen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über Architekten- und Ingenieurverträge zuständige VII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH in einem Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV folgende Fragen vorgelegt:

Folgt aus dem Unionsrecht, dass Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen in der Weise unmittelbare Wirkung entfaltet, dass die dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI, wonach die in dieser Honorarordnung statuierten Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen der Architekten und Ingenieure - abgesehen von bestimmten Ausnahmefällen - verbindlich sind und eine die Mindestsätze unterschreitende Honorarvereinbarung in Verträgen mit Architekten oder Ingenieuren unwirksam ist, nicht mehr anzuwenden sind?

Sofern Frage 1 verneint wird:

Liegt in der Regelung verbindlicher Mindestsätze für Planungs- und Überwachungsleistungen von Architekten und Ingenieuren in § 7 HOAI durch die Bundesrepublik Deutschland ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV oder gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts?

Sofern Frage 2 a) bejaht wird: Folgt aus einem solchen Verstoß, dass in einem laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen die nationalen Regelungen über verbindliche Mindestsätze (hier: § 7 HOAI) nicht mehr anzuwenden sind?

Bei Anwendung der deutschen Regelungen in § 7 HOAI hätte die Revision der Beklagten keinen Erfolg, weil die Pauschalhonorarvereinbarung der Parteien unwirksam wäre und dem Kläger auf Grundlage der Mindestsätze der HOAI ein Anspruch auf Zahlung von 96.768,03 € zustünde.

§ 7 HOAI kann nicht unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils vom 4. Juli 2019 (C-377/17) richtlinienkonform dahin ausgelegt werden, dass die Mindestsätze der HOAI im Verhältnis zwischen Privatpersonen grundsätzlich nicht mehr verbindlich sind und daher einer die Mindestsätze unterschreitenden Honorarvereinbarung nicht entgegenstehen. Die Auslegung des nationalen Rechts darf nicht dazu führen, dass einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Norm ein entgegengesetzter Sinn gegeben oder der normative Gehalt der Norm grundlegend neu bestimmt wird. Demgemäß kommt eine richtlinienkonforme Auslegung nur in Frage, wenn eine Norm tatsächlich unterschiedliche Auslegungsmöglichkeiten im Rahmen dessen zulässt, was der gesetzgeberischen Zweck- und Zielsetzung entspricht. Der Gesetz- und Verordnungsgeber hat mit den Regelungen in § 7 HOAI und der dieser Bestimmung zu Grunde liegenden Ermächtigungsgrundlage eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass eine unterhalb der verbindlichen Mindestsätze liegende Honorarvereinbarung für Architekten und Ingenieurgrundleistungen - von bestimmten Ausnahmen abgesehen - unwirksam ist und sich die Höhe des Honorars in diesem Fall nach den Mindestsätzen bestimmt.

Die Entscheidung über die Revision hängt maßgeblich von der Beantwortung der dem EuGH vorgelegten ersten Frage zur unmittelbaren Wirkung von Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie im Rahmen eines laufenden Gerichtsverfahrens zwischen Privatpersonen ab. Angesichts zahlreicher gegenläufiger obergerichtlicher Entscheidungen sowie Meinungsäußerungen im Schrifttum, die ihre inhaltlich konträren Standpunkte jeweils aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ableiten, ist die richtige Anwendung des Unionsrechts nicht von vornherein derart eindeutig ("acte claire") oder durch Rechtsprechung in einer Weise geklärt ("acte éclairé"), dass kein vernünftiger Zweifel verbleibt.

Der Bundesgerichtshof neigt dazu, keine unmittelbare Wirkung von Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe g) und Abs. 3 der Dienstleistungsrichtlinie in der Weise anzunehmen, dass die dieser Richtlinie entgegenstehenden nationalen Regelungen in § 7 HOAI in laufenden Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen nicht mehr angewendet werden können. Zwar ist Art. 15 der Dienstleistungsrichtlinie auch auf rein innerstaatliche Sachverhalte - wie im Streitfall - anwendbar. Zudem ist in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt, dass sich der Einzelne gegenüber dem Mitgliedstaat in bestimmten Fällen unmittelbar auf eine Richtlinie berufen kann, wenn diese nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt wurde und die Richtlinienbestimmung inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheint. Allerdings kann eine Richtlinie grundsätzlich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist. Eine Richtlinie kann demgemäß grundsätzlich auch nicht in einem Rechtsstreit zwischen Privaten angeführt werden, um die Anwendung der Regelung eines Mitgliedstaats, die gegen die Richtlinie verstößt, auszuschließen.

Soweit der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung in bestimmten Ausnahmefällen - bei Unmöglichkeit einer richtlinienkonformen Auslegung - eine Nichtanwendung unionsrechtswidriger nationaler Vorschriften zwischen Privatpersonen bejaht hat, wird der Streitfall nach Auffassung des Bundesgerichtshofs hiervon nicht erfasst.

Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage verneint wird, hängt die Entscheidung des Rechtsstreits von der Beantwortung der weiteren Vorlagefragen zu einem möglichen Verstoß der in der HOAI festgelegten Mindestsätze gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV oder gegen sonstige allgemeine Grundsätze des Unionsrechts sowie den Folgen eines solchen Verstoßes für ein laufendes Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen ab. Ein Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit kann nach Einschätzung des Bundesgerichtshofs nicht ausgeschlossen werden. Der EuGH hat diese Frage in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) ausdrücklich offengelassen.

Urteil vom 14. Mai 2020 - VII ZR 205/19

In dem weiteren am heutigen Tag verhandelten Rechtsstreit, in dem die dortige Klägerin gegen die in diesem Verfahren Beklagten Honorarnachforderungen aus mehreren in den Jahren 2010 bis 2012 geschlossenen Verträgen über die Erbringung von Architekten- und Ingenieurleistungen im Zusammenhang mit der Konzeption und Errichtung einer Biogasanlage geltend gemacht hat (vgl. Pressemitteilung Nr. 10/2020 vom 22. Januar 2020), hat der Bundesgerichtshof die klageabweisenden Entscheidungen der Vorinstanzen bestätigt und die Revision der Klägerin zurückgewiesen. In diesem Verfahren kam es auf die zwischen den Parteien auch hier im Streit stehenden Rechtsfragen zu den Folgen der vom EuGH in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (C-377/17) angenommenen Unionsrechtswidrigkeit der Mindestsätze in der HOAI für laufende Gerichtsverfahren zwischen Privatpersonen nicht entscheidungserheblich an. Vielmehr war das Berufungsurteil des Oberlandesgerichts bereits auf Grundlage der diese Entscheidung selbständig tragenden Erwägung, wonach eine Unwirksamkeit der Pauschalhonorarvereinbarungen wegen Mindestsatzunterschreitung gemäß § 7 Abs. 1 HOAI (2009) aufgrund des insoweit nicht schlüssigen Vortrags der Klägerin nicht festgestellt werden konnte, jedenfalls im Ergebnis zutreffend.

Vorinstanzen:

VII ZR 174/19

LG Essen - Urteil vom 28. Dezember 2017 - 6 O 351/17

OLG Hamm - Teilverzichts- und Schlussurteil vom 23. Juli 2019 - 21 U 24/18 (BauR 2019, 1810)

VII ZR 205/19

LG Hildesheim - Urteil vom 7. Dezember 2018 - 4 O 296/17

OLG Celle - Urteil vom 14. August 2019 - 14 U 198/18 (BauR 2019, 1957)

Die maßgeblichen Vorschriften lauten:

Honorarordnung für Architekten und Ingenieure

§ 1 Anwendungsbereich

Diese Verordnung regelt die Berechnung der Entgelte für die Grundleistungen der Architekten und Architektinnen und der Ingenieure und Ingenieurinnen (Auftragnehmer oder Auftragnehmerinnen) mit Sitz im Inland, soweit die Grundleistungen durch diese Verordnung erfasst und vom Inland aus erbracht werden.

§ 7 Honorarvereinbarung

(1) Das Honorar richtet sich nach der schriftlichen Vereinbarung, die die Vertragsparteien bei Auftragserteilung im Rahmen der durch diese Verordnung festgesetzten Mindest- und Höchstsätze treffen.

(2) …

(3) Die in dieser Verordnung festgesetzten Mindestsätze können durch schriftliche Vereinbarung in Ausnahmefällen unterschritten werden.

(4) …

(5) Sofern nicht bei Auftragserteilung etwas anderes schriftlich vereinbart worden ist, wird unwiderleglich vermutet, dass die jeweiligen Mindestsätze gemäß Absatz 1 vereinbart sind.

(6) …

Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (Dienstleistungsrichtlinie)

Art. 15 Zu prüfende Anforderungen

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.

(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:



g) der Beachtung von festgesetzten Mindest- und/oder Höchstpreisen durch den Dienstleistungserbringer;



(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:

a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder - bei Gesellschaften - aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;

b) Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;

c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.

(5-7) …

Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)

Art. 267

Der Gerichtshof der Europäischen Union entscheidet im Wege der Vorabentscheidung

a) über die Auslegung der Verträge,

b) …

Wird eine derartige Frage einem Gericht eines Mitgliedstaats gestellt und hält dieses Gericht eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen.

Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, so ist dieses Gericht zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet. …

Art. 49

Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig sind.

Vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.



EuGH: Verbindliche Honorare mit Mindest- und Höchstsätzen in HOAI für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren sind unionsrechtswidrig

EuGH
Urteil vom 04.07.2019
C-377/17
Europäische Kommission gegen Bundesrepublik Deutschland


Der EuGH hat entschieden, dass die verbindlichen Honorare in der HOAI mit Mindest- und Höchstsätzen für Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren unionsrechtswidrig sind.

Tenor der Entscheidung:

1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 15 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. g und Abs. 3 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt verstoßen, dass sie verbindliche Honorare für die Planungsleistungen von Architekten und Ingenieuren beibehalten hat.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Europäischen Kommission.
3. Ungarn trägt seine eigenen Kosten.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:



BVerwG: Bremer Polizeigebühren gegen die DFL zwecks Beteiligung an den Polizeikosten bei Hochrisiko-Spiel ist im Prinzip zulässig

BVerwG
Urteil vom 29.03.2019
9 C 4.18


Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass die Bremer Polizeigebühren gegen die DFL zecks Beteiligung an den Polizeikosten für Hochrisiko-Spiele im Prinzip zulässig sind. Da noch einige Fragen zum Aufwand und zur Forderungshöhe zu klären sind, hat das BVerwG die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen.

Bremer Polizeigebühr für Hochrisiko-Veranstaltungen im Prinzip rechtmäßig

Für den besonderen Polizeiaufwand aus Anlass einer kommerziellen Hochrisiko-Veranstaltung darf grundsätzlich eine Gebühr erhoben werden. So entschied heute das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig.

Nach § 4 Abs. 4 des Bremischen Gebühren- und Beitragsgesetzes wird von Veranstaltern einer gewinnorientierten Großveranstaltung unter bestimmten Umständen eine Gebühr erhoben. Vorausgesetzt werden erfahrungsgemäß zu erwartende Gewalthandlungen im räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Veranstaltung, die den Einsatz zusätzlicher Polizeikräfte vorhersehbar erforderlich machen. Die Gebühr ist anhand näherer Maßgaben nach dem polizeilichen Mehraufwand zu berechnen.

Als Gebührenschuldnerin wurde hier die Deutsche Fußball Liga GmbH (DFL GmbH) in Anspruch genommen. Sie führt als Tochtergesellschaft das operative Geschäft des DFL e.V., in dem die lizenzierten Vereine und Kapitalgesellschaften der Bundesliga und der 2. Bundesliga zusammengeschlossen sind. Mit der Klage wendet sich die DFL GmbH gegen einen Gebührenbescheid der Freien Hansestadt Bremen über ca. 425 000 €. Die Forderung betrifft einen mit erheblichen zusätzlichen Kräften geleisteten Polizeieinsatz anlässlich einer Begegnung der Fußball-Bundesliga am 19. April 2015 im Bremer Weser-Stadion zwischen dem SV Werder Bremen und dem Hamburger SV. Die Klägerin war rund drei Wochen vor dem Spiel darauf hingewiesen worden, dass am Spieltag nach den polizeilichen Lageerkenntnissen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit gewalttätigen Auseinandersetzungen zu rechnen sei.

Das Verwaltungsgericht Bremen gab der Klage statt, weil der Gebührentatbestand zu unbestimmt sei. Dagegen hielt das Oberverwaltungsgericht die Regelung für verfassungsgemäß und wies auf dieser Grundlage die Klage gegen den Gebührenbescheid ab. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte jetzt im Wesentlichen den Rechtsstandpunkt des Oberverwaltungsgerichts.

Bei der Einführung einer Gebühr muss der Gesetzgeber stets berücksichtigen, dass der Gebührenpflichtige zugleich auch Steuerzahler ist. Eine Gebühr bedarf deshalb einer besonderen Rechtfertigung. Diese liegt hier darin, dass die Polizei einen erheblichen Mehraufwand gerade aus Anlass einer kommerziellen Hochrisiko-Veranstaltung betreiben muss. Dieser zusätzliche Aufwand darf dem Veranstalter zugerechnet werden. Denn dieser ist für den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung auf die zusätzliche Polizeipräsenz angewiesen. Der Veranstalter wird nicht etwa als Veranlasser einer Störung der öffentlichen Sicherheit in Anspruch genommen, sondern vielmehr als Nutznießer einer besonders aufwendigen polizeilichen Sicherheitsvorsorge.

Unsicherheiten, die wegen der auslegungsbedürftigen Voraussetzungen des Gebührentatbestandes und insbesondere im Hinblick auf die Höhe des polizeilichen Mehraufwandes und damit der Gebühr bestehen, erreichen kein unzumutbares Ausmaß. Das gilt v.a. deshalb, weil das Gesetz an „erfahrungsgemäß“ zu erwartende Gewalthandlungen anknüpft. Für den Fußball verfügen sowohl die Polizei als auch die Veranstalter über einschlägige Erfahrungen. Soweit es in anderen Bereichen noch keine ausreichenden Erfahrungen gibt, darf nach dem Gesetz auch keine Gebühr erhoben werden. Außerdem hat der Gebührenschuldner Anspruch auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle. Die Polizei muss also den von ihr betriebenen Aufwand nachträglich rechtfertigen.

Die Gebühr ist auch nicht unverhältnismäßig, obwohl sie eine beträchtliche Höhe erreichen kann. Der Gesetzgeber knüpft ausschließlich an gewinnorientierte Veranstaltungen an. Damit steht die Gebühr regelmäßig in einer angemessenen Relation zu dem wirtschaftlichen Ergebnis, das der Veranstalter - auch dank des verstärkten Polizeieinsatzes - erzielen kann.

Die Beklagte durfte statt des Heimvereins Werder Bremen die DFL GmbH auf Zahlung der Gebühr in Anspruch nehmen. Aufgrund der Zusammenarbeit beider Akteure im Rahmen des Wettbewerbs Bundesliga ist die DFL GmbH als Mitveranstalter des betreffenden Fußballspiels anzusehen. Den internen Ausgleich durfte die Beklagte den Beteiligten überlassen.

Weiteren Klärungsbedarf gibt es aber noch bei der Frage, ob und inwieweit bestimmte Kosten - insbesondere für die nicht unerhebliche Zahl polizeilicher Ingewahrsamnahmen anlässlich des fraglichen Fußballspiels - vorrangig gegenüber einzelnen Störern geltend zu machen waren. Dabei geht es um die Auslegung des Bremischen Landesrechts sowie um die Feststellung von Tatsachen. Da das Bundesverwaltungsgericht dazu nicht berufen ist, hat es das Urteil des Oberverwaltungsgerichts aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen.

Fußnote:
§ 4 Abs. 4 BremGebBeitrG i.d.F. vom 4. November 2014 lautet:


Eine Gebühr wird von Veranstaltern oder Veranstalterinnen erhoben, die eine gewinnorientierte Veranstaltung durchführen, an der voraussichtlich mehr als 5 000 Personen zeitgleich teilnehmen werden, wenn wegen erfahrungsgemäß zu erwartender Gewalthandlungen vor, während oder nach der Veranstaltung am Veranstaltungsort, an den Zugangs- oder Abgangswegen oder sonst im räumlichen Umfeld der Einsatz von zusätzlichen Polizeikräften vorhersehbar erforderlich wird. Die Gebühr ist nach dem Mehraufwand zu berechnen, der aufgrund der zusätzlichen Bereitstellung von Polizeikräften entsteht. Der Veranstalter oder die Veranstalterin ist vor der Veranstaltung über die voraussichtliche Gebührenpflicht zu unterrichten. Die Gebühr kann nach den tatsächlichen Mehrkosten oder als Pauschalgebühr berechnet werden.


Urteil vom 29. März 2019 - BVerwG 9 C 4.18 -

Vorinstanzen:

OVG Bremen, 2 LC 139/17 - Urteil vom 21. Februar 2018 -

VG Bremen, 2 K 119/16 - Urteil vom 17. Mai 2017 -



Internet World Business-Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann - Abschlusserklärung: Wie nach Erhalt einer einstweiligen Verfügung Anwaltsgebühren gespart werden können

In Ausgabe 5/2019, S. 18 der Zeitschrift Internet World Business erschien ein Beitrag von Rechtsanwalt Marcus Beckmann mit dem Titel "Abschlusserklärung: Wie nach Erhalt einer einstweiligen Verfügung Anwaltsgebühren gespart werden können".




OLG Frankfurt: Ausländische Fluggesellschaft kann gegenüber deutschen Verbrauchern Rückerstattung tatsächlich nicht entstandener Gebühren und Steuern nach englischem Recht wirksam ausschließen

OLG Frankfurt
Urteil vom 13.12.2018
16 U 15/18


Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass eine ausländische Fluggesellschaft gegenüber deutschen Verbrauchern die Rückerstattung tatsächlich nicht entstandener Gebühren und Steuern nach englischem Recht wirksam ausschließen kann.

Die Pressemitteilung des OLG Frankfurt:

Ausländische Fluggesellschaft kann nach englischem Recht wirksam die Rückerstattung tatsächlich nicht entstandener Gebühren und Steuern ausschließen

Eine ausländische Fluggesellschaft kann in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen festlegen, dass auf in Deutschland geschlossene Beförderungsverträge englisches Recht anwendbar ist. Nach englischem Recht ist es zulässig, Steuern und Gebühren nicht zurückzuerstatten, wenn der Fluggast den Flug storniert hat und die Aufwendungen der Fluggesellschaft tatsächlich nicht entstanden sind, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit heute verkündetem Urteil.

Die Beklagte ist eine Fluggesellschaft mit Sitz in Luton, England. Auf ihrer auch in deutscher Sprache aufrufbaren Internetseite können online Flüge gebucht werden. In den dafür geltenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Beklagten heißt es im Zusammenhang mit Stornierungen unter anderem: „Steuern und Gebühren, die von einem Flughafenbetreiber direkt von ... (Name der Fluggesellschaft) erhoben werden, sind nicht erstattungsfähig, selbst wenn sie auf der Anzahl der beförderten Fluggäste basieren.“ (Art. 6.1 Abs. 4 der AGG). Dies bezieht sich nicht auf die Britische Passagierabgabe (APD), die erstattet wird (Art. 6.4 der AGG). Gemäß Art. 6.1 Abs. 2 der Bedingungen unterliegen alle Erstattungen „den anwendbaren Gesetzen... von England und Wales...“. Schließlich wird geregelt, dass für die Allgemeinen Geschäftsbedingungen und alle Beförderungen... „das Recht von England und Wales“ gilt (Art. 29 AGG).

Der Kläger ist ein Verein, der auch Verbraucherinteressen wahrnimmt. Er ist der Ansicht, dass die Verbraucher durch die Klausel, Steuern und Gebühren nach Stornierung nicht zu erstatten, unangemessen benachteiligt werden (§ 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Deshalb begehrt er von der beklagten Fluggesellschaft, diese Klausel nicht weiter zu nutzen. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben.

Die hiergegen gerichtete Berufung hatte vor dem OLG Erfolg. Die Beklagte dürfe die umstrittene Klausel weiter verwenden, entschied das OLG heute. Die angegriffene Regelung sei infolge einer zulässigen Rechtswahl am Maßstab des Rechts von England und Wales zu prüfen und nach diesem Recht wirksam.

Grundsätzlich könne die Beklagte als Luftbeförderer in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen nach den Regeln des Internationalen Privatrechts formularmäßig eine Rechtswahl vorsehen. Die Rechtswahlklausel genüge hier dem erforderlichen „Minimum an Bestimmbarkeit und Transparenz“ i.S. v. Art. 5 Rom-I-VO. Sie lasse keinen Zweifel „an ihrer Aussage und an ihrem Gehalt“. Die Beklagte habe zudem mit dem Recht von England, wo sich ihr Sitz befinde, eine Rechtsordnung gewählt, die die beschränkten Wahlmöglichkeiten nach Art. 5 Abs. 2 Rom-I-VO berücksichtige. Die Klausel sei auf der deutschsprachigen Seite auch nicht überraschend, da gerade bei Luftbeförderungsverträgen „der grenzüberschreitende Aspekt auf der Hand“ liege. Anders als das Landgericht gemeint hat, sei die Klausel auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen an eine Rechtswahl im Rahmen von Verbraucherverträgen nicht zu beanstanden. Im Gegensatz zu Verbraucherverträgen i.S.v. Art. 6 Rom-I-VO bedürfe es bei Beförderungsverträgen nach Art. 5 Rom-I-VO keines gesonderten Hinweises auf die Wirkungen der Rechtswahl.

Ausgehend vom Maßstab des englischen und walisischen Rechts verstoße die Klausel nicht gegen Gesetze zum Schutz der Verbraucherinteressen. Eine Klausel sei demnach „missbräuchlich bzw. unfair“, wenn sie „entgegen dem Gebot von Treu und Glauben zum Nachteil des Verbrauchers ein erhebliches Missverhältnis der vertraglichen Rechte und Pflichten der Vertragspartner verursacht.“ Dies sei unter Berücksichtigung des für Beförderungsverträge nach dem Recht von England und Wales allein maßgeblichen Richterrechts hier nicht der Fall. Vielmehr würden „englische Gerichte den vollen Zahlungsanspruch der Beklagten nicht an fehlender Erfüllungsmitwirkung des Fluggastes scheitern lassen, der die angebotene Beförderung aus eigenem Ermessen nicht in Anspruch“ genommen hat. Nach englischem und walisischem Recht sei die Beklagte bei Kündigung des Vertrages durch den Fluggast vielmehr berechtigt, stets auf „Vertragserfüllung zu bestehen und den vollen Flugpreis ohne Abschlag ...zu behalten“. Insbesondere müsse die Beklagte dem Fluggast nicht ersparte Aufwendungen wie Steuern und Gebühren erstatten. „Dass die Beklagte sich durch den Ausschluss der Erstattung dieser Kostenpositionen bei einer Stornierung .... besserstellt als bei vertragsgemäßer Durchführung des Beförderungsvertrages....ist der Rechtslage nach englischem und walisischen Recht mithin immanent,“ betont das OLG.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Kläger kann mit der beim BGH einzulegenden Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision begehren.

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 13.12.2018, Az. 16 U 15/18
(vorausgehend Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 14.12.2017, Az. 2-24 O 8/17)

Erläuterungen:
Artikel 3 Rom-I-VO Freie Rechtswahl

(1) 1Der Vertrag unterliegt dem von den Parteien gewählten Recht. 2Die Rechtswahl muss ausdrücklich erfolgen oder sich eindeutig aus den Bestimmungen des Vertrags oder aus den Umständen des Falles ergeben. 3Die Parteien können die Rechtswahl für ihren ganzen Vertrag oder nur für einen Teil desselben treffen.
...

Artikel 5 Rom-I-VO Beförderungsverträge

(1) 1Soweit die Parteien in Bezug auf einen Vertrag über die Beförderung von Gütern keine Rechtswahl nach Artikel 3 getroffen haben, ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Beförderer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern sich in diesem Staat auch der Übernahmeort oder der Ablieferungsort oder der gewöhnliche Aufenthalt des Absenders befindet. 2Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist das Recht des Staates des von den Parteien vereinbarten Ablieferungsorts anzuwenden.
(2) 1Soweit die Parteien in Bezug auf einen Vertrag über die Beförderung von Personen keine Rechtswahl nach Unterabsatz 2 getroffen haben, ist das anzuwendende Recht das Recht des Staates, in dem die zu befördernde Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern sich in diesem Staat auch der Abgangsort oder der Bestimmungsort befindet. 2Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so ist das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Beförderer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.
Als auf einen Vertrag über die Beförderung von Personen anzuwendendes Recht können die Parteien im Einklang mit Artikel 3 nur das Recht des Staates wählen,

a)in dem die zu befördernde Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
b)in dem der Beförderer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
c)in dem der Beförderer seine Hauptverwaltung hat oder
d)in dem sich der Abgangsort befindet oder
e)in dem sich der Bestimmungsort befindet.

(3) Ergibt sich aus der Gesamtheit der Umstände, dass der Vertrag im Falle fehlender Rechtswahl eine offensichtlich engere Verbindung zu einem anderen als dem nach Absatz 1 oder 2 bestimmten Staat aufweist, so ist das Recht dieses anderen Staates anzuwenden.

Artikel 6 Verbraucherverträge

(1) Unbeschadet der Artikel 5 und 7 unterliegt ein Vertrag, den eine natürliche Person zu einem Zweck, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann („Verbraucher”), mit einer anderen Person geschlossen hat, die in Ausübung ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt („Unternehmer”), dem Recht des Staates, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sofern der Unternehmer
a)seine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit in dem Staat ausübt, in dem der Verbraucher seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder
b)eine solche Tätigkeit auf irgendeiner Weise auf diesen Staat oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses Staates, ausrichtet
und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.

(2) 1Ungeachtet des Absatzes 1 können die Parteien das auf einen Vertrag, der die Anforderungen des Absatzes 1 erfüllt, anzuwendende Recht nach Artikel 3 wählen. 2Die Rechtswahl darf jedoch nicht dazu führen, dass dem Verbraucher der Schutz entzogen wird, der ihm durch diejenigen Bestimmungen gewährt wird, von denen nach dem Recht, das nach Absatz 1 mangels einer Rechtswahl anzuwenden wäre, nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf.



OLG Dresden: Bank muss rechtswidrig von Verbrauchern eingezogene Gelder unaufgefordert zurückzahlen

OLG Dresden
Urteil vom 10.04.2018
14 U 82/16


Das OLG Dresden hat entschieden, dass eine Bank, die rechtswidrig von Verbrauchern Gelder eingezogen haben, diese unaufgefordert wieder auszahlen müssen. Vorliegend ging es um zu Unrecht abgebuchte "Pfändungsgebühren" durch die Dresdner Volksbank Raiffeisenbank.