Das AG München hat entschieden, dass ein Reiseveranstalter einen Reisevertrag wegen eines zu niedrigen Preisen nicht anfechten kann, wenn dieser auf einem Kalkulationsirrtum beruht.
Die Pressemitteilung des Gerichts: Reiseveranstalter an zu günstig berechneten Reisepreis gebunden - Kalkulationsirrtum rechtfertigt keine Anfechtung des Reisevertrages
Im Streit um Ansprüche aus einem Reisevertrag verurteilte das Amtsgericht München am 14.04.2023 eine Reiseveranstalterin mit Sitz in München zur Zahlung einer Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit in Höhe von 719,50 EUR.
Der Münchner Kläger hatte im April 2022 bei der Beklagten über deren Internetportal eine Flugpauschalreise nach Punta Cana in der Dominikanischen Republik über Weihnachten und Silvester 2022 einschließlich Hotelunterkunft und All-Inclusive-Verpflegung zu einem Reisepreis in Höhe von 2.878 EUR gebucht.
Wenige Tage nach der Buchung erklärte die Beklagte per E-Mail die Anfechtung des Reisevertrages aufgrund eines nicht näher beschriebenen „Eingabe/Tippfehlers“ und einem sich daraus ergebenden Preisunterschied. Die Beklagte bot dem Kläger an, die Reise zu einem Gesamtpreis von 6.260 EUR wahrzunehmen, was dieser ablehnte.
Aufgrund der nicht durchgeführten Reise forderte der Kläger von der Beklagten eine Entschädigung wegen entgangener Urlaubsfreude in Höhe der Hälfte des ursprünglich gebuchten Reisepreises.
Das Amtsgericht erachtete die Klage für teilweise begründet und sprach dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 25 % des Urlaubspreises zu.
Das Amtsgericht München führte in den Entscheidungsgründen wie folgt aus:
„Ein Anfechtungsgrund, insbesondere ein Erklärungsirrtum lag nicht vor. Sowohl Willensäußerung als auch Willensbildung der Beklagten waren fehlerfrei, es lag lediglich ein unbeachtlicher Kalkulationsirrtum vor.
Der Irrtum erfolgte hier nicht bei Abgabe der Willenserklärung der Beklagten gegenüber dem Kläger, sondern es handelt sich um einen Irrtum in der Erklärungsvorbereitung nämlich bei der Berechnung des Gesamtreisepreises. (…)
Die Beklagte hat, aufgrund der von der Firma M. falsch eingegebenen und anschließend falsch übermittelten Daten, ihren Willen bezüglich des Gesamtpreises falsch gebildet, da eine Kalkulationsgrundlage fehlerhaft war.
Wie vom Zeugen R. glaubhaft ausgesagt, übermittelt die Firma M. die Einkaufspreise pro Person in USD an das System der Beklagten. Dort werden die Preise vom System in Euro umgerechnet und anschließend mit der Verkaufsmarge der Beklagten versehen. Die so gefundenen Verkaufspreise werden dann vom System der Beklagten an C. [das von der Beklagten betriebene Buchungsportal] weiter übermittelt und verarbeitet. Entsprechend des vom Kläger bei Buchung angegebenen Zeitraums und der ausgewählten Zimmerkategorie, wird dann der Verkaufspreis vom System berechnet und dem Kunden angezeigt.
Die von der Firma M. übermittelten Daten dienten der Beklagten daher lediglich als Kalkulationsgrundlage für die Berechnung des Gesamtreisepreises. Der Irrtum entstand schon nicht bei der Beklagten, sondern bei einem Mitarbeiter der Firma M. Der Irrtum betraf auch nur einen Rechnungsfaktor, aus dem der Reisepreis später vom System der Beklagten gebildet wurde. (…)
Bei Buchung wurde dann entsprechend den Eingaben des Klägers bzgl. Zimmerkategorie und Reisezeitraum aus den für verschiedene Reisezeiträume festgesetzten Einzelpreisen der Gesamtreisepreis vom System errechnet. Diese Konfiguration erfolgte so wie vom System vorgesehen. Der dem Kläger gegenüber angegebenen Reisepreis entsprach den Konfigurationsvorgaben der Beklagten. Nachdem der Reisende keinen Einblick in die Kalkulation des Reisepreises hat, liegt hier nur ein interner Kalkulationsirrtum vor, der als Motivirrtum unbeachtlich ist. Ein Anfechtungsgrund stand der Beklagten daher nicht zu. (…)
Der Kläger kann nach §§ 651i Abs. 2 Nr. 7, 651n Abs. 2 BGB Entschädigung in Geld verlangen. (…)
Der Anspruch besteht jedoch nur in der Höhe von 719,50 €. Die Höhe des Entschädigungsanspruchs aus § 651n Abs. 2 BGB richtet sich nach einer umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalls. Maßgebliches Kriterium kann dabei jedenfalls der tatsächlich vereinbarte Reisepreis sein, da dieser regelmäßig zeigt, wie viel Geld der mit der geplanten Reise verbundene immaterielle Gewinn dem Reisenden wert ist; hier 2.878,00 €.
Jedoch sind auch sonstige Umstände zu berücksichtigen. Hier erfolgte die Mitteilung der Beklagten, die Reise nicht zum gebuchten Preis durchführen zu wollen, nur wenige Tage nach der Buchung und mehr als halbes Jahr vor dem geplanten Reiseantritt. Der Kläger hatte somit noch nicht lange Zeit mit Vorfreude und Planung auf die gebuchte Reise verbringen können. Er hatte auch noch ausreichend Zeit sich um eine Alternativreise für den geplanten Weihnachtsurlaub zu bemühen. (…)
Das Gericht hält daher eine Entschädigung in Höhe von 25 % des Urlaubspreises für angemessen und ausreichend.“
Das OVG Münster hat entschieden, dass die Rückforderung von im Frühjahr 2020 ausgezahlten Corona-Soforthilfen rechtswidrig war, da kein wirksamer Vorbehalt einer späteren endgültigen Entscheidung in den Bewilligungsbescheiden enthalten war.
Die Pressemitteilung des Gerichts: Rückforderung von Corona-Soforthilfen war rechtswidrig - nicht benötigte Hilfen dürfen aber noch zurückgefordert werden
Die erfolgten (Teil-)Rückforderungen von Corona-Soforthilfen sind rechtswidrig und die Rückforderungsbescheide deshalb aufzuheben. Das Land hat sich bei der Rückforderung nicht an die bindenden Vorgaben aus den Bewilligungsbescheiden gehalten, wonach die Mittel ausschließlich dazu dienten, eine finanzielle Notlage abzumildern, insbesondere Finanzierungsengpässe zu überbrücken. Wenn Zuwendungsempfänger die Corona-Soforthilfen in dem dreimonatigen Bewilligungszeitraum im Frühjahr 2020 nicht oder nur teilweise zu diesen Zwecken benötigt haben, darf das Land allerdings neue Schlussbescheide erlassen und überzahlte Mittel zurückfordern. Das hat das Oberverwaltungsgericht heute entschieden und damit drei Urteile des Verwaltungsgerichts Düsseldorf im Ergebnis bestätigt.
Die Kläger sind Selbstständige (ein freiberuflicher Steuerberater und Dozent für Steuerrecht, eine Inhaberin eines Kosmetikstudios sowie ein Betreiber eines Schnellrestaurants), die von den infektionsschutzrechtlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie betroffen waren. Sie stellten im ersten Lockdown am 30. März bzw. 1. April 2020 beim Land NRW einen Antrag auf Gewährung einer Soforthilfe. Mit Bewilligungsbescheiden vom jeweils gleichen Tag wurden ihnen Soforthilfen in Höhe von jeweils 9.000 Euro als einmalige Pauschale bewilligt und wenig später ausgezahlt. Nachdem die Kläger bezogen auf den dreimonatigen Bewilligungszeitraum (März bis Mai 2020 bzw. April bis Juni 2020, je nach Zeitpunkt der Antragstellung) Einnahmen und Ausgaben rückgemeldet hatten, ergingen automatisiert Schlussbescheide. Darin wurde ein aus dem elektronischen Rückmeldeformular errechneter „Liquiditätsengpass“ festgestellt und die Differenz zwischen diesem und dem ausgezahlten Pauschalbetrag zurückgefordert. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hat diese Schlussbescheide aufgehoben.
Das Oberverwaltungsgericht ist dem nur im Ergebnis gefolgt und hat die Berufungen des Landes zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Vorsitzende des 4. Senats im Wesentlichen ausgeführt:
Die Schlussbescheide sind rechtswidrig und aufzuheben, weil das Land die Vorgaben der Bewilligungsbescheide nicht beachtet hat, die für die endgültige Festsetzung bindend sind. Danach diente die Soforthilfe ausschließlich zur Milderung pandemiebedingter finanzieller Notlagen, insbesondere zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen. Das später vom Land geforderte Rückmeldeverfahren findet in den Bewilligungsbescheiden keine Grundlage. Die darin von den Zuwendungsempfängern verlangten Angaben waren ungeeignet, um die letztlich jeweils zu belassende Fördersumme unter Berücksichtigung der bindenden Festsetzungen der Bewilligungsbescheide zu bestimmen. In welchem Umfang Fördermittel während des Bewilligungszeitraums tatsächlich im Rahmen der Zweckbindung der Förderung verwendet worden sind, konnte dort nicht angegeben werden. Denn darauf kam es nach dem Rechtsstandpunkt des Landes, das insoweit den Vorgaben des Bundes folgte, schon nicht an. Zudem sind die Schlussbescheide rechtswidrig, weil sie ohne eine hierfür erforderliche Rechtsgrundlage vollständig durch automatische Einrichtungen erlassen worden sind.
Das Land bleibt allerdings berechtigt, die den Empfängern letztlich zustehende Soforthilfe in Form von neu zu erlassenden „Schlussbescheiden“ endgültig festzusetzen und die überzahlten Beträge zurückzufordern. Die Corona-Soforthilfe wurde als Billigkeitszuschuss in Gestalt einer einmaligen Pauschale bewilligt. Trotz missverständlicher Formulierungen in den Bewilligungsbescheiden stand die Bewilligung angesichts der noch unbekannten Entwicklung und Dauer der pandemiebedingten Beschränkungen der Wirtschaft von Anfang an noch klar erkennbar zumindest unter dem Vorbehalt, ob und in welchem Umfang die bewilligten Finanzmittel für den ausschließlichen Zuwendungszweck benötigt würden. Jeder Empfänger einer Soforthilfezuwendung konnte in Nordrhein-Westfalen zwar darauf vertrauen, dass er keine Mittel zurückzahlen muss, die er während des Bewilligungszeitraums berechtigterweise „zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens bzw. des Selbstständigen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie“ oder „zur Überbrückung von Liquiditätsengpässen, die seit dem 1. März 2020 in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie entstanden sind“, verwendet hatte. Objektiven Empfängern der Bewilligungsbescheide musste sich aber auch aufdrängen, dass die Soforthilfe vollumfänglich nur zur Kompensation der unmittelbar durch die Corona-Pandemie ausgelösten wirtschaftlichen Engpässe genutzt werden durfte, entsprechende Mittelverwendungen nachzuweisen und bei Einzelfallprüfungen zu belegen sowie nicht zweckentsprechend benötigte Mittel nachträglich zu ermitteln und zurückzuzahlen waren. Den Bewilligungsbescheiden lässt sich hingegen nicht entnehmen, dass sie auch bezogen auf die Berechnungsgrundlagen für die Rückzahlung unter dem Vorbehalt einer noch zu entwickelnden Verwaltungspraxis stehen sollten.
Auch wenn in Nordrhein-Westfalen stets die Höchstfördersumme bewilligt worden war, finden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass eine Rückzahlung - abweichend vom Bundesprogramm - nur erfolgen musste, wenn dieser Betrag höher war als eine wie auch immer zu bestimmende Umsatzeinbuße. Insoweit tritt der offensichtlich nicht gemeinte Wortlaut hinter dem klar erkennbaren Förderzweck zurück. Allerdings ist unklar geblieben, ob das Land die Rückzahlungspflicht ebenso wie der Bund nur davon abhängig machen wollte, dass die gewährten Mittel (vollständig) zum Ausgleich des eingetretenen Liquiditätsengpasses benötigt worden sind. Nahe liegt, dass eine Rückzahlung auch solcher Mittel nicht erfolgen sollte, die „zur Milderung der finanziellen Notlagen des betroffenen Unternehmens bzw. des Selbstständigen“ benötigt worden sind. Denn die Überbrückung von Liquiditätsengpässen wurde in den Bewilligungsbescheiden und der Erläuterung des Landes im Internet nur beispielhaft erwähnt. Soweit durch eine erkennbar irrtümlich verwendete und offensichtlich nicht wörtlich so gemeinte Formulierung des Landes über den Umfang der Rückzahlungspflicht Zweifel verblieben, müssen diese zu Lasten des Landes gehen.
Von einem Liquiditätsengpass in Gestalt vorübergehender Zahlungsschwierigkeiten konnten Zuwendungsempfänger ausgehen, sobald sie bis zum Ablauf bestehender Zahlungsfristen neben den verbliebenen laufenden Überschüssen keine ausreichenden eigenen Einnahmen - auch nicht aus weiterhin möglichen und tatsächlich abgeschlossenen Kompensationsgeschäften - erzielen konnten, um Zahlungsverpflichtungen ohne Rückgriff auf Rücklagen im Rahmen des „Cashflow“ auch ohne staatliche Fördermittel noch rechtzeitig ausgleichen zu können. Sofern das Existenzminimum des Selbstständigen nicht durch Sozialleistungen abgedeckt worden war, durften bis zum 1.4.2020, 13:30 Uhr, bewilligte Mittel auch dann eingesetzt werden, wenn die Umsätze des geförderten Betriebs nicht einmal mehr ausreichten, um dieses Existenzminimum finanzieren zu können. Entgegenstehende Klarstellungen des Bundes waren bereits vor ihrer Veröffentlichung am 30.3.2020 für Nordrhein-Westfalen vom 29.3.2020 bis zum 1.4.2020, 13:30 Uhr, außer Kraft gesetzt worden. Für spätere Bewilligungen war sowohl in den Kurzfakten des Bundes als auch in den Informationen des Landes bis zum 12.5.2020 übereinstimmend klargestellt, dass der Lebensunterhalt einschließlich der Bedarfe für Ernährung, Kleidung, Hausrat etc. sowie der Kosten für Unterkunft und Heizung nicht durch die Soforthilfe, sondern durch Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II abgesichert werden sollte.
Der Senat hat die Revision jeweils nicht zugelassen. Dagegen kann Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.
Das LG Frankfurt hat im Rechtsstreit zwischen Manuel Gräfe gegen den DFB entschieden, dass die Altersgrenze von 47 Jahren für Schiedsrichter im Profifußball einer unzulässige Altersdiskriminierung darstellt.
Die Pressemitteilung des Gerichts: Altersdiskriminierung - Altersgrenze von Schiedsrichtern im Profifußball
Einem Schiedsrichter steht eine Entschädigung wegen Altersdiskriminierung zu, wenn er aufgrund des Erreichens der Altersgrenze von 47 Jahren nicht mehr in die Schiedsrichterliste des Deutschen Fußballbundes (DFB) aufgenommen worden ist. Das hat das Landgericht Frankfurt am Main heute entschieden.
Der DFB hat die Hoheit über den Arbeitsmarkt und den Einsatz von Schiedsrichtern im deutschen Fußball (sog. „Ein-Platz-Prinzip“). In seinen Regularien ist eine Altersgrenze für die Aufnahme in die Schiedsrichterlisten im Profifußball nicht vorgesehen. Jedoch scheiden Elite-Schiedsrichter regelmäßig im Alter von 47 Jahren aus. Davon wurde in den letzten fast vier Jahrzehnten keine Ausnahme gemacht.
Der Kläger war seit vielen Jahren Schiedsrichter im Auftrag des DFB. Seit 2004 leitete er Spiele der ersten Bundesliga. Nachdem der Kläger 47 Jahre alt geworden war, nahm ihn der DFB ab der Saison 2021/2022 nicht mehr in seine Schiedsrichterliste auf. Vor dem Landgericht Frankfurt am Main hat der Kläger von dem DFB eine Entschädigung wegen Altersdiskriminierung und den potentiellen Verdienstausfall für die Saison 2021/2022 verlangt sowie die Feststellung, dass der DFB auch künftige Schäden (z.B. Verdienstausfall) zu ersetzen habe.
In einem heute verkündeten Urteil hat die 16. Zivilkammer des Landgerichts Frankfurt am Main dem Kläger eine Entschädigung in Höhe von 48.500 Euro wegen einer Diskriminierung aufgrund seines Alters nach dem sog. Antidiskriminierungsgesetz zugesprochen. Für diesen Entschädigungsanspruch sei es ausreichend, wenn das Alter mitursächlich für die Beendigung der Schiedsrichterlaufbahn war. Ob auch andere Gründe eine Rolle spielten, sei rechtlich nicht maßgeblich.
Wenngleich in den Regelwerken des DFB eine Altersgrenze für Schiedsrichter nicht schriftlich fixiert sei, bestehe aber tatsächlich eine praktizierte Altersgrenze von 47 Jahren. Denn die Bewerber würden ab diesem Lebensjahr nahezu ausnahmslos nicht mehr berücksichtigt und der DFB habe die Bedeutung dieses Alters für das Ende einer Schiedsrichtertätigkeit auch öffentlich bekundet.
Es sei im Ergebnis willkürlich und daher nach den Regeln des Antidiskriminierungsgesetzes nicht gerechtfertigt, auf eine feste Altersgrenze von 47 Jahren abzustellen. „Zwar hat das Alter aus biologischen Gründen eine statistische Relevanz für die Eignung als Schiedsrichter, weil mit ihm die Leistungsfähigkeit nachlässt und das Verletzungsrisiko steigt“, so die Kammer. „Warum gerade das Alter von 47 Jahren für die Leistungsfähigkeit eines Elite-Schiedsrichters ausschlaggebend sein soll, wurde nicht dargelegt, etwa durch einen wissenschaftlichen Nachweis oder einen näher begründeten Erfahrungswert.“ Und weiter: „Es ist nicht ersichtlich, weshalb die individuelle Tauglichkeit der relativ geringen Anzahl von Bundesligaschiedsrichtern nicht in einem an Leistungskriterien orientierten transparenten Bewerbungsverfahren festgestellt werden könnte.“ Adäquate und gegebenenfalls wiederholte Leistungstests und -nachweise seien gegenüber einer starren Altersgrenze vorzugswürdig.
Für die Höhe der Entschädigung war nach der Urteilsbegründung unter anderem maßgeblich, dass das Antidiskriminierungsgesetz Sanktionscharakter hat. Die Richter bzw. die Richterin befanden zudem: „Die Benachteiligung des Klägers wiegt grundsätzlich schwer, weil sie von dem wirtschaftsstarken und eine Monopolstellung innehabenden Beklagten bewusst, (…) und ohne Rechtfertigungsansatz erfolgte.“
Ohne Erfolg blieb jedoch die Forderung des Klägers auf Ersatz von materiellen Schäden, insbesondere auf Zahlung von Verdienstausfall. Insoweit wurde seine Klage gegen den DFB abgewiesen. „Der Kläger hat nicht dargetan, dass er ohne die Altersgrenze tatsächlich bei der Listenaufstellung berücksichtigt worden wäre“, befanden die Richter. Dafür hätte er nicht nur erklären und unter Umständen beweisen müssen, „dass er nicht nur für die Stelle geeignet, sondern vielmehr der ,bestgeeignetste‘ Bewerber war.“ Diesen Nachweis habe der Kläger nicht erbracht.
Das heutige Urteil (Az.: 2-16 O 22/21) ist nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung zum Oberlandesgericht Frankfurt am Main angefochten werden. Die Entscheidung wird in Kürze unter www.lareda.hessenrecht.hessen.de abrufbar sein.
Auszug aus dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
§ 1 AGG
Ziel des Gesetzes ist, Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen.
§ 15 Abs. 1 und 2 AGG
(1) Bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot ist der Arbeitgeber verpflichtet, den hierdurch entstandenen Schaden zu ersetzen.
(2) Wegen eines Schadens, der nicht Vermögensschaden ist, kann der oder die Beschäftigte eine angemessene Entschädigung in Geld verlangen. (…)
§ 8 Abs. 1 AGG
(1) Eine unterschiedliche Behandlung wegen eines in § 1 genannten Grundes ist zulässig, wenn dieser Grund wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern der Zweck rechtmäßig und die Anforderung angemessen ist.
§ 10 AGG
Ungeachtet des § 8 ist eine unterschiedliche Behandlung wegen des Alters auch zulässig, wenn sie objektiv und angemessen und durch ein legitimes Ziel gerechtfertigt ist. Die Mittel zur Erreichung dieses Ziels müssen angemessen und erforderlich sein (…)
Das VG Köln hat entschieden, dass die Rückforderung von im Frühjahr 2020 ausgezahlten Corona-Soforthilfen in NRW rechtswidrig ist. Die Bescheide enthielten keinen wirksamen Vorbehalt einer späteren endgültigen Entscheidung.
Die Pressemitteilung des Gerichts: Verwaltungsgericht Köln: Rückforderung von Corona-Soforthilfen ist rechtswidrig
Die Rückforderung von im Frühjahr 2020 ausgezahlten Corona-Soforthilfen durch das Land Nordrhein-Westfalen ist rechtswidrig. Dies hat das Verwaltungsgericht Köln heute mit sechs Urteilen entschieden und damit den Klagen von Solo-Selbstständigen und Kleinunternehmern stattgegeben.
Nachdem im Frühjahr 2020 aufgrund pandemiebedingter Einschränkungen zunehmend kleine Unternehmen und Solo-Selbstständige in wirtschaftliche Schwierigkeiten gerieten, legte das Land das Förderprogramm „NRW-Soforthilfe 2020“ auf. Es bewilligte in großer Zahl pauschale Zuwendungen in Höhe von 9.000 Euro an in Not geratene Betriebe, darunter auch an die sechs Kläger. Später ermittelte das Land, ob die bei den Zuwendungsempfängern ohne Förderung vorhandenen Mittel seinerzeit tatsächlich nicht ausgereicht hätten, um Zahlungsverpflichtungen des Unternehmens nachzukommen. Nur solche Liquiditätsengpässe erkannte das Land als förderfähig an. Die Soforthilfen setzte es dementsprechend durch Schlussbescheide niedriger als ursprünglich bewilligt fest und forderte entsprechende Teilbeträge zurück. Dabei stellte es sich auf den Standpunkt, die Auszahlungen aufgrund der Bewilligungen im Frühjahr 2020 seien lediglich vorläufig erfolgt. Für die Höhe der Förderung komme es zudem auf Umsatzausfälle nicht an. Die Kläger waren anderer Auffassung und erhoben im Januar dieses Jahres Klagen gegen die Schlussbescheide.
Die Klagen waren erfolgreich. Das Gericht ist dem beklagten Land in seinen beiden zentralen Argumenten nicht gefolgt. Es hat die angegriffenen Schlussbescheide aufgehoben und zur Begründung ausgeführt: Das Land ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Bewilligungen im Frühjahr 2020 unter dem Vorbehalt einer späteren endgültigen Entscheidung standen. Ein solcher Vorbehalt ist zwar rechtlich möglich, muss aber aus den Bewilligungsbescheiden klar erkennbar hervorgehen. Jedwede Unklarheit geht zu Lasten der Behörde. Diese hat es in der Hand, Auslegungsprobleme durch eindeutige Formulierungen zu vermeiden. Die an die Kläger gerichteten Bewilligungsbescheide enthielten weder ausdrücklich noch indirekt einen solchen Vorbehalt. Auch aus den sonstigen zum Bewilligungszeitpunkt verfügbaren Informationen, insbesondere den vom Land veröffentlichten Hinweisen zum Förderprogramm, mussten die Kläger nicht den Schluss ziehen, es habe sich um eine bloß vorläufige Bewilligung gehandelt. Ob die Förderrichtlinie des Landes vom 31.05.2020 etwas anderes regelt, ist irrelevant, weil diese bei Erlass der Bewilligungsbescheide noch nicht existierte.
Zudem sind die Schlussbescheide rechtswidrig, weil das Land darin für die Berechnung der Soforthilfen alleine auf einen Liquiditätsengpass abgestellt hat. Die Bewilligungsbescheide erlaubten aber auch eine Verwendung der Soforthilfen zur Kompensation von Umsatzausfällen. An diese Festlegung war das Land in der Folge gebunden.
Beim Verwaltungsgericht Köln sind noch etwa 400 Klagen betreffend die Rückforderung von Corona-Soforthilfen anhängig. Die heute entschiedenen Klagen sind repräsentativ für einen Großteil dieser Fälle. Das Gericht beabsichtigt, über das Vorgehen in den weiteren Verfahren zu entscheiden, sobald in den heute verhandelten Verfahren rechtskräftige Entscheidungen vorliegen.
Gegen die Urteile kann das Land Berufungen einlegen. Über diese würde das Oberverwaltungsgericht in Münster entscheiden.
Das OLG Frankfurt hat entschieden, dass kein Schadensersatzanspruch gegen einen Messeveranstalter wegen coronabedingter Absage einer Messe besteht.
Die Pressemitteilung des Gerichts: Kein Schadensersatz wegen Messeabsage während der Corona-Pandemie
Einer Ausstellerin stehen keine Schadensersatzansprüche wegen der am 24.2.2020 erfolgten Verschiebung einer für den 8.3. bis 13.3.2020 geplanten Messe auf den Herbst 2020 sowie der vollständigen Absage dieser Messe am 5.5.2020 zu. Beide Entscheidungen waren im Hinblick auf das sich rasant und nicht prognostizierbar entwickelnde Pandemiegeschehen, der Verantwortung für die Gesundheit der Messeteilnehmer und der erheblichen wirtschaftlichen Interessen rechtmäßig, entschied das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (OLG) mit gestern verkündeter Entscheidung.
Die Klägerin hatte mit der beklagten Messeveranstalterin einen Vertrag über die Teilnahme an der vom 8.3. bis 13.3.2020 geplanten Messe „Light + Building 2020“ geschlossen. Am 24.2.2020 hatte die Beklagte die Messe im Hinblick auf die Verbreitung des Corona-Virus zunächst auf September 2020 verschoben und letztlich am 5.5.2020 ganz abgesagt. Die bereits entrichteten Standgebühren zahlte sie der Klägerin zurück. Diese begehrt nunmehr u.a. Schadensersatz in Höhe von knapp 75.000 € und verweist auf bereits vorgenommene Hotelreservierungen, PR-Maßnahmen, Miete des Messestands und statische Berechnungen. Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen.
Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Der Klägerin stehe kein Schadensersatzanspruch zu, bestätigte das OLG.
Zu der zunächst vorgenommenen Verschiebung der Messe sei die Beklagte berechtigt gewesen. Ihr sei das Festhalten am ursprünglichen Vertrag nicht zumutbar gewesen. Bis zum 24.2.2020 hätten sich die Umstände, die Grundlage des zwischen den Parteien geschlossenen Vertrags geworden waren, so schwerwiegend geändert, dass die Parteien bei Kenntnis dieser veränderten Umstände den Vertrag nicht mehr mit dem alten Inhalt geschlossen hätten. Die „dynamische Entwicklung des Infektionsgeschehens mit dem Corona-Virus vom Jahreswechsel 2019/2020 bis zu ihrer Entscheidung am 24.2.2022, die dadurch bedingten erheblichen Unsicherheiten für die Durchführbarkeit der Veranstaltung und die Verantwortung für Gesundheit und das Leben aller an der Messe teilnehmenden (...) Personen“ hätten die Beklagte zur Verschiebung um ca. 6 Monate berechtigt. Die Entwicklung des Infektionsgeschehens sei rasant und sich stetig verschärfend verlaufen. Unerheblich sei, dass am 24.2.2020 kein behördlich angeordnetes Verbot der Veranstaltung bestanden habe. Es habe vielmehr ausgereicht, dass ein behördliches Veranstaltungsverbot bei einer ex ante Prognose hinreichend wahrscheinlich gewesen sei. Dies sei hier der Fall gewesen. Angesichts der Erklärung des Infektionsgeschehens zu einer Pandemie durch die WHO am 11.3.2020, des am 12.3.2020 erfolgten Verbots von Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Personen (wie hier) und des am 14.3.2020 verhängten vollständigen Verbots von Veranstaltungen wäre es allein vom Zufall abhängig gewesen, ob die Messe gerade noch hätte stattfinden können oder nicht. Dabei habe die Beklagte auch in besonderer Weise die Gesundheit der Messeteilnehmer und die Verhinderung der Infektion einer unübersehbaren Zahl an Personen berücksichtigen dürfen.
Die endgültige Absage der Messe am 5.5.2020 sei ebenfalls rechtmäßig erfolgt. Nach der damals gültigen Corona-Kontakt- und Betriebsbeschränkungsverordnung hätte die Messe nur mit einer Ausnahmegenehmigung durchgeführt werden können. Diese wäre wohl nicht zu erlangen gewesen. Jedenfalls habe die Lage am 5.5.2020 wegen Störung der Geschäftsgrundlage die Beklagte zu der völligen Beseitigung des Vertragsverhältnisses berechtigt. Am 5.5.2020 sei die Durchführung von Messen bis zum 31.8.2020 verboten gewesen. „Die Prognose, ob die Durchführung der Messe zu dem geplanten Ausweichtermin möglich sein würde und wenn ja in welchem Umfang, (war) für die Beklagte angesichts der sich ständig überschlagenden und beinahe täglich erfolgenden Neueinschätzungen durch die verantwortlichen Politiker, das RKI und die Wissenschaft kaum zu treffen“, begründete das OLG weiter. Angesichts der wirtschaftlichen Interessen einer Vielzahl von Ausstellern und des Umstands, dass die drohenden Schäden mit der Kurzfristigkeit einer Absage immer größer würden, habe die Beklagte die alle zwei Jahre stattfindende Messe absagen dürfen.
Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Mit der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Klägerin die Zulassung der Revision beim BGH begehren.
Oberlandesgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 7.9.2022, Az. 4 U 331/21
(vorausgehend LG Frankfurt am Main, Urteil vom 15.11.2021, Az. 2-30 O 41/21)
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die coronabedingten Beschränkungen der Gastronomie durch die Bundesnotbremse verfassungsgemäß waren.
Die Pressemitteilung des Gerichts: Verfassungsbeschwerde gegen die Gastronomiebeschränkungen durch die „Bundesnotbremse“ erfolglos
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts eine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 IfSG in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 (§ 28b IfSG a. F.) geregelte Untersagung der Öffnung von Gaststätten zur Eindämmung der Corona-Pandemie richtete.
In Anknüpfung an die Entscheidung des Ersten Senats vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - zur sogenannten „Bundesnotbremse“ hat die Kammer entschieden, dass auch die vorübergehende Beschränkung des Betriebs der Gaststätten auf die Auslieferung und den Außer-Haus-Verkauf von Speisen und Getränken als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung verfassungsrechtlich gerechtfertigt war. Der Gesetzgeber hat den ihm zustehenden Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum auch insoweit nicht überschritten.
Sachverhalt:
Am 23. April 2021 trat das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in Kraft. Zentraler Gegenstand des Gesetzes war der in das Infektionsschutzgesetz eingefügte § 28b IfSG a. F., der bei Überschreiten eines Werts von 100 Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner an drei aufeinanderfolgenden Tagen in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt zu gesetzesunmittelbaren Beschränkungen des privaten und öffentlichen Lebens führte. Die Beschränkungen waren an die Feststellung einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag gebunden und liefen mit dem 30. Juni 2021 aus. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 IfSG a. F. untersagte die Öffnung von Gaststätten, Speiselokalen und ähnlichen Betrieben bei Vorliegen der allgemeinen Voraussetzungen der „Bundesnotbremse“; erlaubt blieben nur die Auslieferung und der Außer-Haus-Verkauf von Speisen und Getränken (letzterer mit Ausnahme der Zeit von 22 bis 5 Uhr).
Die Beschwerdeführerin betreibt in Berlin, wo die Regelungen zwischen dem 24. April und dem 18. Mai 2021 Wirkung entfalteten, ein Restaurant. Sie rügt insbesondere eine Verletzung ihres Grundrechts der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG.
Wesentliche Erwägungen der Kammer:
§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 IfSG a. F. griff zwar in die Berufsfreiheit der Beschwerdeführerin aus Art. 12 Abs. 1 GG ein, war jedoch verfassungsrechtlich gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig.
I. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat bereits mit Beschluss vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - im Hinblick auf die allgemeinen Kontaktbeschränkungen des § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG a. F. die Legitimität der Zwecke sowie die Eignung und Erforderlichkeit der Maßnahme festgestellt. Diese Einschätzung gilt auch für die hier angegriffene Beschränkung der Berufsfreiheit durch die Untersagung der Öffnung von Gaststätten. Der Schutz von Gesundheit und Leben ist ein legitimer Zweck, dessen Verfolgung selbst schwere Eingriffe in die Berufsfreiheit zu rechtfertigen vermag.
II. Die angegriffene Regelung war trotz ihres erheblichen Eingriffsgewichts auch angemessen.
1. Dem Eingriff in die Berufsfreiheit kommt zwar erhebliches Gewicht zu. Eine berufliche Betätigung in der von der Beschwerdeführerin gewählten Form war während der Geltung der Vorschrift nicht möglich. Verstärkt wurde die Eingriffswirkung dadurch, dass die Beschwerdeführerin ihren Betrieb bereits seit November 2020 unter ähnlichen Bedingungen geschlossen halten musste. Gemindert wurde das Eingriffsgewicht jedoch durch den tatbestandlich vorgesehenen regional differenzierenden Ansatz und die Befristung der Maßnahme. Eine gewisse Minderung des Eingriffsgewichts wurde zudem dadurch bewirkt, dass der Außer-Haus-Verkauf außerhalb der Nachtstunden und die Auslieferung von Speisen und Getränken von der Schließungsanordnung nicht erfasst waren. Schließlich wurde das Eingriffsgewicht auch durch die für die betroffenen Betriebe vorgesehenen staatlichen Hilfsprogramme gemindert.
2. Dem gewichtigen Eingriff in die Berufsfreiheit ist jedoch gegenüberzustellen, dass angesichts der Dynamik des Infektionsgeschehens im April 2021 eine besondere Dringlichkeit bestand, zum Schutz der überragend bedeutsamen Rechtsgüter Leben und Gesundheit sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems tätig zu werden. Dabei ist der grundsätzliche Ansatz, den Schutz dieser Gemeinwohlbelange primär durch Maßnahmen der Kontaktbeschränkung an Kontaktorten zu erreichen – wozu auch die Schließung von Gaststätten zu zählen ist – verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
3. In der geforderten Abwägung zwischen dem Eingriff in Grundrechte und entgegenstehenden Belangen hat der Gesetzgeber einen verfassungsgemäßen Ausgleich gefunden.
Hier ist der Wirtschaftszweig der Gastronomie insgesamt stark belastet worden. Doch sorgten die Vorschrift und die sie begleitenden staatlichen Hilfsprogramme für einen hinreichenden Ausgleich zwischen den verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen. Durch die Befristung und die am jeweiligen örtlichen Pandemiegeschehen ausgerichtete Differenzierung wurde die Belastung durch die angegriffene Regelung begrenzt und bewirkt, dass die Regelung faktisch in keinem Gebiet Deutschlands die Höchstdauer von zwei Monaten erreichte. Ein teilweiser Ausgleich der Belastungen wurde zudem durch die in der Regelung verankerte weiterhin bestehende Möglichkeit zum Außer-Haus-Verkauf und der Lieferung von Speisen und Getränken geschaffen. Darüber hinaus wurden die wirtschaftlichen Auswirkungen der angegriffenen Regelung durch die von der Bundesregierung aufgelegten Hilfsprogramme gedämpft.
EuG
Urteil vom 19.01.2022
in der Rechtssache T-610/19
Deutsche Telekom / Kommission
Das EuG hat entschieden, dass die Deutsche Telekom von der EU-Kommission 1,8 EURO Mio. Entschädigung wegen der Nichtzahlung von Verzugszinsen auf eine zu erstattende Geldbuße erhält.
Die Pressemitteilung des EuG:
Das Gericht spricht der Deutschen Telekom eine Entschädigung in Höhe von ca. 1,8 Mio. Euro zu, um den Schaden auszugleichen, der ihr durch die Weigerung der Europäischen Kommission entstanden ist, ihr Verzugszinsen auf den Betrag der Geldbuße zu zahlen, den sie im Zusammenhang mit einer Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln rechtsgrundlos gezahlt hatte
Mit Beschluss vom 15. Oktober 20141 verhängte die Europäische Kommission gegen die Deutsche Telekom AG eine Geldbuße in Höhe von 31 070 000 Euro wegen eines gegen Art. 102 AEUV und Art. 54 des EWR-Abkommens verstoßenden Missbrauchs einer beherrschenden Stellung auf dem slowakischen Markt für Breitbandtelekommunikationsdienste.
Die Deutsche Telekom erhob eine Nichtigkeitsklage gegen diesen Beschluss, zahlte aber am 16. Januar 2015 die Geldbuße. Mit Urteil vom 13. Dezember 2018 2 gab das Gericht der Klage der Deutschen Telekom teilweise statt und setzte die Geldbuße in Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung um 12 039 019 Euro herab. Am 19. Februar 2019 erstattete die Kommission der Deutschen Telekom diesen Betrag.
Mit Schreiben vom 28. Juni 2019 (im Folgenden: angefochtener Beschluss) lehnte es die Kommission hingegen ab, der Deutschen Telekom für den Zeitraum von der Zahlung der Geldbuße bis zur Rückzahlung des für rechtsgrundlos befundenen Teils der Geldbuße (im Folgenden: fraglicher Zeitraum) Verzugszinsen zu zahlen. Daher erhob die Deutsche Telekom beim Gericht Klage auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses sowie auf Verurteilung der Kommission zur Zahlung einer Entschädigung für den entgangenen Gewinn infolge der Vorenthaltung der Nutzung des Hauptbetrags des rechtsgrundlos gezahlten Teils der Geldbuße im fraglichen Zeitraum oder, hilfsweise, auf Ersatz des Schadens, der ihr durch die Weigerung der Kommission, Verzugszinsen auf diesen Betrag zu zahlen,
entstanden sei.
Mit ihrem Urteil gibt die Siebte erweiterte Kammer des Gerichts der Nichtigkeits- und Schadensersatzklage der Deutschen Telekom teilweise statt. Hierbei äußert sie sich zu der Frage, inwieweit die Kommission verpflichtet ist, Verzugszinsen auf den Teil der Geldbuße zahlen, der dem betroffenen Unternehmen im Anschluss an ein unionsgerichtliches Urteil zu erstatten ist. Würdigung durch das Gericht Als Erstes weist das Gericht den Antrag der Deutschen Telekom zurück, sie im Rahmen der außervertraglichen Haftung der Union für den entgangenen Gewinn zu entschädigen, der ihr durch die Vorenthaltung der Nutzung des rechtsgrundlos gezahlten Teils der Geldbuße im fraglichen Zeitraum entstanden sei und der jährlichen Rendite ihres eingesetzten Kapitals oder ihren gewichteten durchschnittlichen Kapitalkosten entspreche Insoweit weist das Gericht darauf hin, dass die außervertragliche Haftung der Union davon abhängt, dass mehrere kumulative Voraussetzungen erfüllt sind, nämlich ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen eine Rechtsnorm, die dem Einzelnen Rechte verleiht (1), das tatsächliche Bestehen des Schadens (2) sowie ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verstoß und dem entstandenen Schaden (3), wofür der Kläger beweispflichtig ist.
Im vorliegenden Fall hat die Deutsche Telekom aber keine schlüssigen Beweise dafür vorgelegt, dass der geltend gemachte Schaden tatsächlich und sicher eingetreten ist. Insbesondere hat sie weder nachgewiesen, dass sie den rechtsgrundlos gezahlten Betrag der Geldbuße zwangsläufig in ihre Tätigkeiten investiert hätte, noch, dass die Vorenthaltung der Nutzung dieses Betrags sie dazu veranlasst hat, auf bestimmte konkrete Projekte zu verzichten. In diesem Zusammenhang hat die Deutsche Telekom auch nicht dargetan, dass sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügte, um eine Investitionsmöglichkeit zu nutzen.
Als Zweites befasst sich das Gericht mit dem von der Deutschen Telekom hilfsweise gestellten Schadensersatzantrag wegen Verstoßes gegen Art. 266 AEUV, dessen Abs. 1 vorsieht, dass die Organe, deren Handeln durch ein unionsgerichtliches Urteil für nichtig erklärt wird, alle sich aus diesem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen haben.
Das Gericht stellt zum einen fest, dass Art. 266 Abs. 1 AEUV dadurch, dass er den Organen die Verpflichtung auferlegt, alle sich aus unionsgerichtlichen Urteilen ergebenden Maßnahmen zu ergreifen, dem vor dem Unionsgericht erfolgreichen Einzelnen Rechte verleiht. Zum anderen weist das Gericht darauf hin, dass Verzugszinsen einen unerlässlichen Bestandteil der den Organen nach dieser Bestimmung obliegenden Verpflichtung zur Wiederherstellung des vorherigen Standes darstellen. Im Fall der Nichtigerklärung und Herabsetzung einer gegen ein Unternehmen wegen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln verhängten Geldbuße ergibt sich folglich aus dieser Bestimmung eine Verpflichtung der Kommission, den rechtsgrundlos gezahlten Betrag der Geldbuße zuzüglich Verzugszinsen zu erstatten.
Da zum einen das anwendbare Haushaltsrecht3 eine Erstattungsforderung zugunsten des Unternehmens vorsieht, das eine später aufgehobene und herabgesetzte Geldbuße vorläufig gezahlt hat, und zum anderen die Aufhebung und Herabsetzung der Geldbuße durch den Unionsrichter rückwirkend gilt, bestand die Forderung der Deutschen Telekom und war hinsichtlich ihres Höchstbetrags bestimmt, als die Geldbuße vorläufig gezahlt wurde. Die Kommission war daher nach Art. 266 Abs. 1 AEUV verpflichtet, Verzugszinsen auf den vom Gericht für rechtsgrundlos befundenen Teil der Geldbuße zu zahlen, und zwar für den gesamten fraglichen Zeitraum. Sinn dieser Verpflichtung ist, die mit einer objektiven Verspätung zusammenhängende Vorenthaltung eines zu zahlenden Geldbetrags pauschal auszugleichen und die Kommission dazu zu veranlassen, beim Erlass eines Beschlusses, der zur Zahlung einer Geldbuße verpflichtet, besondere Vorsicht walten zu lassen.
Entgegen dem Vorbringen der Kommission steht die Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen nicht im Widerspruch zur Abschreckungsfunktion von Geldbußen in Wettbewerbssachen, da der Unionsrichter diese Abschreckungsfunktion notwendigerweise berücksichtigt, wenn er von seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung Gebrauch macht, um die Höhe einer Geldbuße rückwirkend herabzusetzen. Im Übrigen muss die Abschreckungsfunktion von Geldbußen mit dem in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerten Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes in Einklang gebracht werden, dessen Beachtung durch die Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 263 AEUV gewährleistet wird, ergänzt um die Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung hinsichtlich der Höhe der Geldbuße.
Das Gericht weist auch die weiteren Argumente der Kommission zurück Zum einen war die Kommission, auch wenn der Betrag der von der Klägerin gezahlten Geldbuße keine Zinsen eingebracht hatte, während er im Besitz der Kommission war, im Anschluss an das Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2018 verpflichtet, der Klägerin den für rechtsgrundlos befundenen Teil der Geldbuße zuzüglich Verzugszinsen zurückzuzahlen, ohne dass Art. 90 der Delegierten Verordnung Nr. 1268/2012, der die Einziehung von Geldbußen betrifft, dem entgegenstünde. Überdies ergibt sich die Pflicht zur Zahlung von Verzugszinsen unmittelbar aus Art. 266 Abs. 1 AEUV, und die Kommission ist nicht befugt, mit einer Einzelfallentscheidung die Voraussetzungen festzulegen, unter denen sie im Fall der Nichtigerklärung des Beschlusses, mit dem eine Geldbuße verhängt wurde, und im Fall der Herabsetzung der Geldbuße Verzugszinsen zahlen wird.
Zum anderen handelt es sich bei den im vorliegenden Fall geschuldeten Zinsen um Verzugszinsen und nicht um Ausgleichszinsen. Die Hauptforderung der Deutschen Telekom war nämlich eine Rückzahlungsforderung, die damit zusammenhing, dass die Zahlung einer Geldbuße vorläufig vorgenommen worden war. Diese Forderung bestand und war hinsichtlich ihres Höchstbetrags bestimmt oder zumindest anhand feststehender objektiver Faktoren bestimmbar, als die fragliche Zahlung erfolgte.
In Anbetracht der Tatsache, dass die Kommission der Deutschen Telekom den rechtsgrundlos gezahlten Teil der Geldbuße zuzüglich Verzugszinsen erstatten musste und insoweit über keinerlei Ermessen verfügte, gelangt das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Weigerung, diese Zinsen an die Deutsche Telekom zu zahlen, einen qualifizierten Verstoß gegen Art. 266 Abs. 1 AEUV darstellt, der die außervertragliche Haftung der Union auslöst. Angesichts des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen dem festgestellten Verstoß und dem Schaden, der im Verlust von Verzugszinsen auf den rechtsgrundlos gezahlten Teil der Geldbuße im fraglichen Zeitraum besteht, spricht das Gericht der Deutschen Telekom eine Entschädigung in Höhe von 1 750 522,38 Euro zu, berechnet durch entsprechende Anwendung des in Art. 83 Abs. 2 Buchst. b der Delegierten Verordnung Nr. 1268/2012 vorgesehenen Zinssatzes, nämlich des von der Europäischen Zentralbank im Januar 2015 für ihre Hauptrefinanzierungsgeschäfte zugrunde gelegten Zinssatzes von 0,05 % zuzüglich dreieinhalb Prozentpunkten.
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Schulschließungen durch die Bundesnotbremse nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage zur Corona-Pandemie verfassungsgemäß waren.
Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Schulschließungen waren nach der im April 2021 bestehenden Erkenntnis- und Sachlage zulässig
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mehrere Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich gegen das vollständige oder teilweise Verbot von Präsenzunterricht an allgemeinbildenden Schulen zum Infektionsschutz („Schulschließungen“) nach der vom 22. April bis zum 30. Juni 2021 geltenden „Bundesnotbremse“ richten.
Das Bundesverfassungsgericht hat mit dieser Entscheidung erstmals ein Recht der Kinder und Jugendlichen gegenüber dem Staat auf schulische Bildung anerkannt. In dieses Recht griffen die seit Beginn der Pandemie in Deutschland erfolgten Schulschließungen in schwerwiegender Weise ein, wie die in den sachkundigen Stellungnahmen dargelegten tatsächlichen Folgen dieser Maßnahmen deutlich zeigen. Diesem Eingriff standen infolge des dynamischen Infektionsgeschehens zum Zeitpunkt der Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ Ende April 2021, zu dem die Impfkampagne erst begonnen hatte, überragende Gemeinwohlbelange in Gestalt der Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit und für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gegenüber, denen nach der seinerzeit vertretbaren Einschätzung des Gesetzgebers auch durch Schulschließungen begegnet werden konnte.
Dafür, dass der Gesetzgeber in dieser Situation den Schülerinnen und Schülern den Wegfall von Unterricht in der Schule trotz der damit verbundenen schwerwiegenden Belastungen zumuten konnte, waren unter anderem folgende Faktoren von Bedeutung: Zu vollständigen Schulschließungen kam es - anders als bei den sonstigen Beschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte - nicht bereits bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 im jeweiligen Landkreis oder der jeweiligen kreisfreien Stadt, sondern erst bei einem weit höheren Wert von 165. Die Länder waren verfassungsrechtlich verpflichtet, wegfallenden Präsenzunterricht auch während der Geltung der „Bundesnotbremse“ nach Möglichkeit durch Distanzunterricht zu ersetzen. Die Schulschließungen waren auf einen kurzen Zeitraum von gut zwei Monaten befristet; damit war gewährleistet, dass die schwerwiegenden Belastungen nicht über einen Zeitpunkt hinaus gelten, zu dem der Schutz von Leben und Gesundheit etwa infolge des Impffortschritts seine Dringlichkeit verlieren könnte. Schließlich hatte der Bund bereits vor Verabschiedung der Bundesnotbremse Vorkehrungen mit dem Ziel getroffen, dass etwaige künftige, auch die Schulen betreffende Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie die Schülerinnen und Schüler möglichst nicht mehr derart schwerwiegend belasten. Dazu zählen unter anderem eine vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Studie zur Erforschung der Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen („StopptCOVID-Studie“) sowie Finanzhilfen des Bundes an die Länder im Rahmen des „DigitalPaktSchule“ von insgesamt 1,5 Milliarden Euro zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Durchführung digitalen Distanzunterrichts.
Sachverhalt:
Die Anordnung von Schulschließungen nach § 28b Abs. 3 IfSG war Bestandteil eines Gesamtschutzkonzepts mit einem Maßnahmenbündel, das mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 bundesweit zur Verhinderung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 eingeführt wurde („Bundesnotbremse“). Der Präsenzunterricht an allgemein- und berufsbildenden Schulen war vollständig untersagt, wenn in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinanderfolgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 den Schwellenwert von 165 je 100 000 Einwohner überschritt; ab einem Schwellenwert von 100 durfte Präsenzunterricht nur zeitlich begrenzt in Form von Wechselunterricht stattfinden (§ 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG). Die Länder konnten Abschlussklassen und Förderschulen von dem Verbot von Präsenzunterricht ausnehmen und eine Notbetreuung nach von ihnen festgelegten Kriterien einrichten. Die Durchführung von Präsenzunterricht war nur zulässig bei Einhaltung angemessener Schutz- und Hygienekonzepte. Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte durften nur dann am Präsenzunterricht teilnehmen, wenn sie zweimal in der Woche mittels eines anerkannten Tests auf eine Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 getestet wurden. Bei Unterschreiten der relevanten Schwellen traten die Beschränkungen außer Kraft. Die Geltung der Vorschrift war auf die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite begrenzt, längstens jedoch bis zum Ablauf des 30. Juni 2021.
Die beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler rügen insbesondere die Verletzung eines Rechtes auf Bildung. Die Eltern der beschwerdeführenden Schülerinnen und Schüler machen unter anderem geltend, dass ihr nach Art. 6 Abs. 1 GG geschütztes Recht auf freie Gestaltung des Familienlebens durch das Verbot von Präsenzunterricht unverhältnismäßig beeinträchtigt worden sei.
Der Senat hat zahlreichen sachkundigen Dritten aus Medizin, Infektionsforschung, der Schülerschaft, Pädagogik und Schulforschung Gelegenheit gegeben, Stellung zu nehmen.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Die Verfassungsbeschwerden bleiben ohne Erfolg.
A. Das Verbot von Präsenzunterricht nach § 28b Abs. 3 Satz 2 und 3 IfSG verletzte nicht das Recht auf schulische Bildung.
I. Das Verbot stellte einen Eingriff in das nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 GG geschützte Recht auf schulische Bildung dar.
Das Recht der Kinder und Jugendlichen auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG enthält ein Recht gegenüber dem Staat, ihre Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten auch in der Gemeinschaft durch schulische Bildung gemäß dem Bildungsauftrag aus Art. 7 Abs. 1 GG zu unterstützen und zu fördern (Recht auf schulische Bildung). Der Schutzbereich dieses Rechts umfasst, soweit es nicht um die berufsbezogene Ausbildung geht, die Schulbildung als Ganze, also sowohl die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten wie auch Allgemeinbildung und schulische Erziehung. Es vermittelt den Kindern und Jugendlichen einen Anspruch auf Einhaltung eines für ihre chancengleiche Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten unverzichtbaren Mindeststandards von Bildungsangeboten, enthält jedoch keinen originären Leistungsanspruch auf eine bestimmte Gestaltung von Schule. Dem Anspruch auf einen Mindeststandard schulischer Bildungsleistungen können zwar ausnahmsweise überwiegende Gründe des Schutzes von Verfassungsrechtsgütern entgegenstehen, nicht jedoch die staatliche Entscheidungsfreiheit bei der Verwendung knapper öffentlicher Mittel. Das Recht auf schulische Bildung umfasst auch ein Recht auf gleichen Zugang zu staatlichen Bildungsangeboten im Rahmen des vorhandenen Schulsystems. Es enthält darüber hinaus ein Abwehrrecht gegen Maßnahmen, welche das aktuell eröffnete und auch wahrgenommene Bildungsangebot einer Schule einschränken, ohne das vorhandene Schulsystem selbst zu verändern.
Die zuletzt genannte abwehrrechtliche Gewährleistungsdimension des Rechts auf schulische Bildung ist hier berührt. Das Verbot von Präsenzunterricht stellte einen am Gebot der Verhältnismäßigkeit zu messenden Eingriff in dieses Recht dar, weil es allein der Bekämpfung der Pandemie diente und dabei das Schulsystem an sich mit dem Präsenzunterricht als Regelunterrichtsform unberührt ließ.
II. Das Verbot von Präsenzunterricht war formell und materiell verfassungsgemäß. Dem Bundesgesetzgeber stand die erforderliche Gesetzgebungskompetenz zu und das Gesetz bedurfte nicht der Zustimmung durch den Bundesrat. Materiell genügte die angegriffene Regelung insbesondere dem Gebot der Verhältnismäßigkeit.
1. Durch das Verbot sollten, ebenso wie durch die weiteren in der „Bundesnotbremse“ enthaltenen Beschränkungen zwischenmenschlicher Kontakte, Infektionen eingedämmt und so Leben und Gesundheit geschützt und das Gesundheitssystem vor einer Überlastung bewahrt werden. Damit diente die Maßnahme verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erreichen wollte.
2. Die Einschätzung des Gesetzgebers, ein Verbot von Präsenzunterricht bei hohen Inzidenzwerten könne zusammen mit den anderen Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ zur Beschränkung zwischenmenschlicher Kontakte den Schutz von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems jedenfalls fördern, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Die sachkundigen Dritten sind in ihren Stellungnahmen davon ausgegangen, dass sich bei allen bisher aufgetretenen Virusvarianten auch Kinder und Jugendliche mit dem Coronavirus anstecken und dann zu Überträgern dieses Virus werden können, auch wenn sie selbst nur in seltenen Fällen schwer erkranken. Nach sachkundiger Einschätzung können sich die Schülerinnen und Schüler im Rahmen der vielfältigen Kontakte mit anderen Schülern und den Lehrkräften im Klassenzimmer, im Schulgebäude oder dessen Außengelände, aber auch auf dem Weg zur Schule anstecken und das Virus dann auf Personen in ihrem familiären Umfeld oder auf die Lehrkräfte übertragen. Auf diese Weise nähmen auch geöffnete Schulen am Infektionsgeschehen teil.
3. Das Verbot von Präsenzunterricht war zum Schutz der Bevölkerung vor infektionsbedingten Gefahren von Leib und Leben und zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems auch erforderlich.
Das wäre nur dann nicht der Fall gewesen, wenn eindeutig festgestellt werden könnte, dass Infektionen durch die weniger belastende Alternative geöffneter Schulen mit regelmäßigen Tests und Hygienemaßnahmen mindestens gleich wirksam hätten bekämpft werden können wie durch ein Verbot von Präsenzunterricht. Die wissenschaftliche Erkenntnislage hierzu ist jedoch durch Unsicherheit geprägt. Zwar hat einer der sachkundigen Dritten in diesem Verfahren eine entsprechende Einschätzung abgegeben. Sie wird so von den übrigen Sachkundigen indes nicht geteilt. Mehrere sachkundige Dritte haben angemerkt, dass eine fundierte fachwissenschaftliche Bewertung nicht möglich sei, weil noch keine Daten zur Wirksamkeit der verschiedenen, bisher an Schulen ergriffenen Maßnahmen zur Infektionsbekämpfung erhoben und ausgewertet worden seien. Dementsprechend sind deren Aussagen zur Wirksamkeit der beiden Alternativen auch eher vage. Ein Sachkundiger vertritt die Auffassung, das Infektionsgeschehen könne jedenfalls mit Antigen-Schnelltests in Schulen nicht gleich wirksam eingedämmt werden und flächendeckende PCR-Tests seien aus Kapazitätsgründen nicht möglich.
4. Das Verbot von Präsenzunterricht stand gemessen an der Sach- und Erkenntnislage zum maßgeblichen Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes nicht außer Verhältnis zu den damit verfolgten Zwecken.
a) Das Verbot von Präsenzunterricht beeinträchtigte das Recht der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung allerdings schwerwiegend. Das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung geht davon aus, dass sich die vollständigen und partiellen Schulschließungen von März 2020 bis Anfang Juni 2021 auf 173 Tage summierten. Nach Angaben des Vorsitzenden des Deutschen Lehrerverbandes fiel der Präsenzunterricht im Durchschnitt insgesamt um ein halbes Schuljahr aus. Die sachkundigen Dritten weisen darauf hin, dass der Präsenzunterricht nicht vorwiegend durch gemeinsamen digitalen Unterricht, sondern durch die Bereitstellung von Aufgaben ersetzt wurde. Nach sachkundiger Einschätzung führte der Wegfall von Präsenzunterricht zu Lernrückständen und Defiziten in der Persönlichkeitsentwicklung. Mit dem Präsenzschulbetrieb sei ein für die psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen wichtiger Sozialisationsraum entfallen. Die Schülerinnen und Schüler an Grundschulen waren nach einhelliger Einschätzung der sachkundigen Dritten besonders schwerwiegend betroffen, weil der Bildungserfolg bei ihnen von der Möglichkeit direkter Interaktion mit den Lehrern abhängt und Lernrückstände in dieser frühen Bildungsphase den gesamten schulischen Werdegang beeinträchtigen können. Die sachkundigen Dritten schätzen außerdem die Lernrückstände infolge des Wegfalls von Präsenzunterricht bei Kindern aus sozial benachteiligten Familien als besonders groß ein. Darüber hinaus haben die Schulschließungen zusammen mit den weiteren Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie nach den eingeholten Stellungnahmen der sachkundigen Dritten in vielen Fällen das körperliche und psychische Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen und deren familiäre Verhältnisse verschlechtert und dadurch mittelbar den Erwerb schulischer Bildung beeinträchtigt.
b) Diesen schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Rechts auf schulische Bildung standen bei Verabschiedung des Gesetzes im April 2021 Gemeinwohlbelange von überragender Bedeutung in Gestalt des Schutzes vor infektionsbedingten Gefahren von Leben und Gesundheit und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems gegenüber. Das Infektionsgeschehen war sehr dynamisch. Infektionen breiteten sich exponentiell aus. Die Zahl der an COVID-19 erkrankten Intensivpatienten stieg deutlich an; es stand unmittelbar zu befürchten, dass eine Vielzahl von Krankenhäusern auf Notbetrieb umstellen und die Zahl planbarer Eingriffe weiter zurückfahren müsste. Gleichzeitig verbreiteten sich neue, infektiösere und tödlicher wirkende Virusvarianten rapide. Es musste damit gerechnet werden, dass die Nachverfolgung von Kontaktpersonen weithin nicht mehr möglich sein würde. Die Impfkampagne hatte erst begonnen.
In dieser Situation durfte der Gesetzgeber annehmen, dass zwischenmenschliche Kontakte an den maßgeblichen Kontaktorten umfassend „heruntergefahren“ werden müssen, um Gefahren für Leben und Gesundheit und die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems durch ein außer Kontrolle geratenes Infektionsgeschehen abwenden zu können. Insoweit ist das Verbot von Präsenzunterricht Teil eines Gesamtschutzkonzepts mit sich gegenseitig ergänzenden Maßnahmen.
c) Die schwerwiegenden Beeinträchtigungen des Rechts der Kinder und Jugendlichen auf schulische Bildung durch den wegfallenden Präsenzunterricht standen nicht außer Verhältnis zu dem damit verfolgten überragend bedeutsamen Gemeinwohlbelang des Schutzes von Leben und Gesundheit; der Ausgleich der gegenläufigen Interessen war insgesamt angemessen.
aa) Das Gesetz gab nicht einseitig nur dem Gemeinwohlbelang Vorrang. Dem besonderen Gewicht des Präsenzunterrichts für die Vermittlung schulischer Bildung als einer Grundbedingung für die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten wurde dadurch Rechnung getragen, dass die Schulen - anders als andere Kontaktorte - nicht bereits bei Überschreiten einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100, sondern erst ab einem Wert von 165 geschlossen waren. Die Eingriffsintensität des Verbots von Präsenzunterricht wurde weiter dadurch gemindert, dass es den Ländern freistand, die Abschlussklassen und die Förderschulen hiervon auszunehmen. Darüber hinaus konnten die Länder eine Notbetreuung auch zu dem Zweck einrichten, denjenigen Schülern die Teilnahme am Distanzunterricht zu ermöglichen, die zuhause über keine geeignete Lernumgebung verfügten.
bb) Für die Zumutbarkeit der Schulschließungen ist von maßgeblicher Bedeutung, dass die ersatzweise Durchführung von Distanzunterricht im Grundsatz gewährleistet war.
Nach sachkundiger Einschätzung können jedenfalls ab der Sekundarstufe und bei guter digitaler Ausstattung des Schulbetriebs sowie angepassten pädagogischen Konzepten zumindest Fertigkeiten und Wissen auch durch Digitalunterricht erfolgreich vermittelt werden. Zwar konnte der Bundesgesetzgeber mangels schulrechtlicher Kompetenz nicht selbst dafür sorgen, dass die Eingriffsintensität seiner Anordnung des Wegfalls von Präsenzunterricht durch die Einrichtung von Distanzunterricht abgemildert wird. Es bedurfte insoweit jedoch keines eigenständigen gesetzlichen Interessenausgleichs, weil die Länder bereits nach Art. 7 Abs. 1 GG verpflichtet sind, den für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung zu wahren. Wird dieser Mindeststandard wie hier aus überwiegenden Gründen des Schutzes von Leben und Gesundheit durch einen länger andauernden Wegfall des Präsenzschulbetriebs unterschritten, müssen die verbleibenden Möglichkeiten zur Wahrung dieses Standards genutzt werden. Daher mussten die Länder auch für die Dauer des bundesgesetzlich verfügten Verbots von Präsenzunterricht dafür sorgen, dass nach Möglichkeit Distanzunterricht stattfinden konnte.
Soweit an einzelnen Schulen Distanzunterricht nicht in nennenswertem Umfang vorgesehen war, obwohl dem keine durchgreifenden Hindernisse personeller, sächlicher oder organisatorischer Art entgegenstanden, konnte jede Schülerin und jeder Schüler dieser Schulen auf der Grundlage des Rechts auf schulische Bildung entsprechende Vorkehrungen verlangen.
cc) Bei einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit anhaltender belastender Gefahrenabwehrmaßnahmen allerdings zu berücksichtigen, ob diese möglicherweise freiheitsschonender hätten ausgestaltet werden können, wenn der Staat an einer Verbesserung der wissenschaftlichen Erkenntnislage mitgewirkt hätte. Je länger belastende Regelungen in Kraft sind oder die Gefahrenlage andauert, umso fundierter müssen die Einschätzungen des Gesetzgebers sein, sofern genauere Kenntnisse hätten erlangt werden können. Indessen dürfte der Staat auch dann große Gefahren für Leib und Leben am Ende nicht deshalb in Kauf nehmen, weil er nicht genug zur Erforschung freiheitsschonender Alternativen beigetragen hat. Hingegen könnte etwa der Einwand, dass solche milderen Alternativen die Allgemeinheit finanziell stärker belasten, in der Abwägung an Gewicht verlieren.
Ein bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des Verbots von Präsenzunterricht durchschlagendes Versäumnis des Staates bei der Erkenntnisgewinnung kann hier nicht festgestellt werden. Zwar dauerte die Gefahrenlage bei Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ im April 2021 bereits über ein Jahr an und es hätten erste Möglichkeiten bestanden, Daten an den Schulen zu erheben, aus denen möglicherweise Erkenntnisse für eine freiheitsschonendere Bekämpfung von Infektionen in diesem Bereich hätten gewonnen werden können. Angesichts des dynamischen Infektionsgeschehens mit der Verbreitung neuer Virusvarianten kann jedoch nicht ohne weiteres angenommen werden, dass bei einer früheren Datenerhebung bereits im April 2021 fundiert hätte beurteilt werden können, ob Infektionen durch Tests in geöffneten Schulen mindestens gleich wirksam hätten eingedämmt werden können wie durch Schulschließungen. Es kommt hinzu, dass der Gesetzgeber mit § 5 Abs. 9 IfSG Vorsorge für eine auch staatlich verantwortete Evaluation der Wirksamkeit der verschiedenen Schutzmaßnahmen getroffen hat. Eine entsprechende Studie, die auch die Wirksamkeit der schulbezogenen Maßnahmen umfasst, wurde vom Robert-Koch-Institut bereits vor Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ in Auftrag gegeben („StopptCOVID-Studie“).
dd) In einer lange andauernden Gefahrenlage wie der Corona-Pandemie ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit anhaltender belastender Gefahrenabwehrmaßnahmen ferner zu berücksichtigen, ob der Staat in einem von ihm verantworteten Bereich wie etwa den Schulen rechtzeitig zumutbare und sich in der Sache aufdrängende Vorkehrungen getroffen hat, um diese Maßnahmen freiheitsschonender gestalten zu können. Werden solche Vorkehrungen unterlassen, kann das Interesse der Betroffenen, von derart vermeidbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen verschont zu werden, bei der Abwägung mit gegenläufigen Gemeinwohlbelangen zusätzliches Gewicht erlangen.
Hier liegt nicht auf der Hand, dass bereits bis zum April 2021 an den Schulen flächendeckend Vorkehrungen hätten getroffen werden können, um Schulschließungen möglichst zu verhindern. In Betracht kommende Vorkehrungen wie eine Verbesserung der Lüftungsverhältnisse in den Klassenzimmern oder die Eröffnung von Optionen für die Nutzung größerer Räume zur Einhaltung von Abständen bedürfen mehr oder weniger aufwendiger Abstimmung, Planung und Umsetzung. Das gleiche gilt für die sich aufdrängende verstärkte Digitalisierung des Schulbetriebs und die Entwicklung darauf bezogener pädagogischer Konzepte, um Bildungsverluste infolge wegfallenden Präsenzunterrichts durch einen nach Umfang und Qualität verbesserten Digitalunterricht möglichst weitgehend vermeiden zu können. Bei den Lüftungsanlagen und mobilen Luftreinigern kommt hinzu, dass es nach sachkundiger Einschätzung noch Klärungsbedarf zur Wirksamkeit des Schutzes im Schulbetrieb gab. Der Bund hatte überdies bereits vor Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ dafür gesorgt, dass für entsprechende Vorkehrungen notwendige öffentliche Mittel zur Verfügung stehen. Er hat den Ländern im Rahmen des „DigitalPaktSchule“ Finanzhilfen in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Euro gewährt, um die informationstechnischen Rahmenbedingungen zur Durchführung von digitalem Distanzunterricht zu verbessern. Im Rahmen eines Förderprogramms des Bundes stehen außerdem Mittel im Gesamtvolumen von 500 Millionen Euro zur Förderung von Luftreinigungsanlagen unter anderem in Schulgebäuden zur Verfügung.
ee) Schließlich trug die kurzzeitige Befristung wesentlich dazu bei, dass der schwerwiegende Eingriff in das Recht auf schulische Bildung durch die Schulschließungen noch zumutbar war.
Die bei Verabschiedung der „Bundesnotbremse“ im April 2021 vertretbare gesetzgeberische Einschätzung einer besonderen Dringlichkeit und Gemeinwohlbedeutung der Maßnahmen zur Einschränkung zwischenmenschlicher Kontakte zum Schutz von Leben und Gesundheit stand von Anfang an unter dem Vorbehalt der weiteren Entwicklung. Es war offen, ob und wann es gelingen würde, die Dynamik des Infektionsgeschehens durch die Maßnahmen der „Bundesnotbremse“ zu durchbrechen und welche Rolle die Verbreitung neuer Virusvarianten hierbei spielen würde. Die Vorläufigkeit der verfassungsrechtlichen Bewertung ergab sich insbesondere aus der damals beginnenden Impfkampagne. Der Gesetzgeber musste davon ausgehen, dass die Bedeutung der Schutzmaßnahmen bei einem Impfangebot an alle impffähigen Personen von erheblich geringerem Gewicht sein würde als bei Verabschiedung des Gesetzes. Das trifft im Besonderen für das Verbot von Präsenzunterricht zu. Nach bisheriger sachkundiger Einschätzung erkranken die ungeimpften schulpflichtigen Kinder - anders als noch nicht geimpfte Erwachsene - bei einer Infektion nur selten und im Regelfall nur dann schwer, wenn eine Vorerkrankung vorliegt. Daher musste der Gesetzgeber damit rechnen, dass das Verbot von Präsenzunterricht bei einem allgemeinen Impfangebot allmählich seine Rechtfertigung verlieren könnte. Das gilt in noch stärkerem Maße hinsichtlich der durch das Verbot von Präsenzunterricht besonders schwerwiegend betroffenen Schülerinnen und Schüler an Grundschulen.
Durch die kurzzeitige Befristung der Maßnahme war gewährleistet, dass das Verbot von Präsenzunterricht nicht über einen Zeitraum hinaus gelten würde, zu dem der schwerwiegende Eingriff in das Recht auf schulische Bildung nicht mehr gerechtfertigt sein könnte.
B. Das Verbot von Präsenzunterricht verstieß auch nicht gegen das Familiengrundrecht gemäß Art. 6 Abs. 1 GG.
I. Den Eltern schulpflichtiger Kinder stand aus dem Familiengrundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG kein Abwehrrecht gegen das Verbot von Präsenzunterricht wegen der damit verbundenen zusätzlichen Betreuungsleistungen oder sonstiger Belastungen des Familienlebens und der beruflichen Tätigkeit zu. Diese Belastungen sind nicht das Ergebnis eines mittelbar-faktischen Eingriffs in das Familiengrundrecht. Das allein der Eindämmung von Infektionen dienende Verbot von Präsenzunterricht war nicht darauf ausgerichtet, das Familienleben der Eltern schulpflichtiger Kinder oder deren Möglichkeiten zu beruflicher Tätigkeit zu ändern. Die Belastungen des Familienlebens waren daher nur eine ungewollte Nebenfolge der Schulschließungen ohne eingriffsrechtlichen Charakter.
II. Die beschwerdeführenden Eltern können auch keine Verletzung des staatlichen Förder- und Schutzgebots aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG geltend machen.
Allerdings wiegen die Belastungen der Eltern schulpflichtiger Kinder durch das Verbot von Präsenzunterricht schwer. Die sachkundigen Dritten haben darauf hingewiesen, dass diese zahlreiche zusätzliche Aufgaben im Bereich von Bildung und Erziehung hätten übernehmen müssen, die üblicherweise von der Schule getragen werden. Der durchschnittliche zeitliche Mehraufwand betrug nach Angaben des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung zwischen 1,3 und 2,3 Stunden pro Tag. Besonders belastet waren die Eltern betreuungsbedürftiger Kinder, die wegen des Schulzwangs kein Betreuungssystem aufgebaut hatten, das die wegfallende Betreuung im Präsenzschulbetrieb hätte ersetzen können. Stark belastet waren nach sachkundigen Angaben zudem die Alleinerziehenden, bei denen die Schulschließungen besonders große Betreuungslücken auslösten.
Angesichts dieser Belastungen der Eltern schulpflichtiger Kinder und wegen deren fehlender Möglichkeit, Vorsorge für den Fall von Schulschließungen treffen zu können, ist der Staat aus dem Förder- und Schutzgebot aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 3 Abs. 2 Satz 2 GG verpflichtet, die nachteiligen Folgen der Schulschließungen für die Familien und die Teilhabe der Eltern am Arbeitsleben durch Maßnahmen zur Familienförderung auszugleichen. Dieser Pflicht wurde hinreichend Genüge getan. Zu nennen ist hier die den Ländern ermöglichte Einrichtung einer Notbetreuung, die insbesondere der Entlastung berufstätiger Eltern betreuungsbedürftiger Kinder dienen sollte. Um Eltern, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht arbeiten konnten, gegen Einkommenseinbußen abzusichern, konnten erwerbstätige Eltern zudem nach § 56 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 IfSG eine staatliche Entschädigung erhalten, wenn sie von Schulschließungen aufgrund der „Bundesnotbremse“ betroffen waren. Des Weiteren wurde der Anspruch gesetzlich Versicherter auf Krankengeld (Verdienstausfall wegen der Betreuung erkrankter Kinder) auf die Fälle erweitert, in denen Schulen geschlossen werden oder die Präsenzpflicht in einer Schule aufgehoben wird (§ 45 Abs. 2a Satz 3 SGB V).
Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Ausgangssperre und Kontaktbeschränkungen im Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite („Bundesnotbremse“) verfassungsgemäß waren.
Die Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Verfassungsbeschwerden betreffend Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite („Bundesnotbremse“) erfolglos
Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in mehreren Hauptsacheverfahren Verfassungsbeschwerden zurückgewiesen, die sich unter anderem gegen die durch das Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG für einen Zeitraum von gut zwei Monaten eingefügten bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen sowie bußgeldbewehrten Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG zur Eindämmung der Corona-Pandemie richteten. Die beanstandeten Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen waren Bestandteile eines Schutzkonzepts des Gesetzgebers. Dieses diente in seiner Gesamtheit dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems als überragend wichtigen Gemeinwohlbelangen. Die Maßnahmen griffen allerdings in erheblicher Weise in verschiedene Grundrechte ein. Das Bundesverfassungsgericht hat die Maßnahmen anhand der allgemein für sämtliche mit Grundrechtseingriffen verbundenen Gesetze geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen geprüft. Danach waren die hier zu beurteilenden Kontakt- und selbst die Ausgangsbeschränkungen in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie mit dem Grundgesetz vereinbar; insbesondere waren sie trotz des Eingriffsgewichts verhältnismäßig. Soweit in diesem Verfahren weitere Maßnahmen des Gesetzes zur Eindämmung der Pandemie angegriffen wurden, wie etwa die Beschränkungen von Freizeit- und Kultureinrichtungen, Ladengeschäften, Sport und Gaststätten, war die entsprechende Verfassungsbeschwerde nicht zulässig erhoben.
Sachverhalt:
Das am 23. April 2021 in Kraft getretene Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22. April 2021 enthielt ein Bündel von Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die in das Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (IfSG) eingefügt wurden. Die hier angegriffenen Maßnahmen waren an eine Sieben-Tage-Inzidenz von 100 gekoppelt (§ 28b Abs. 1 IfSG). Überschritt also in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt an drei aufeinander folgenden Tagen die Anzahl der Neuinfektionen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) den Schwellenwert von 100, so galten dort ab dem übernächsten Tag die in § 28b IfSG („Bundesnotbremse“) normierten Maßnahmen. Sank in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt die Sieben-Tage-Inzidenz unter den Wert von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner an fünf aufeinander folgenden Werktagen, so trat die „Notbremse“ dort ab dem übernächsten Tag außer Kraft (§ 28b Abs. 2 IfSG). Die angegriffenen Vorschriften galten nach § 28b Abs. 10 Satz 1 IfSG längstens bis zum Ablauf des 30. Juni 2021.
§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG regelte Kontaktbeschränkungen. Private Zusammenkünfte im öffentlichen oder privaten Raum waren danach nur gestattet, wenn an ihnen höchstens die Angehörigen eines Haushalts und eine weitere Person einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres teilnahmen. Die Regelung nahm davon Zusammenkünfte aus, die ausschließlich zwischen den Angehörigen desselben Haushalts, ausschließlich zwischen Ehe- oder Lebenspartnerinnen und -partnern oder ausschließlich in Wahrnehmung eines Sorge- oder Umgangsrechts oder im Rahmen von Veranstaltungen bis 30 Personen bei Todesfällen stattfanden. § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG regelte Ausgangsbeschränkungen. Danach war der Aufenthalt von Personen außerhalb einer Wohnung oder einer Unterkunft von 22 Uhr bis 5 Uhr des Folgetages untersagt. Die Regelung enthielt verschiedene Ausnahmetatbestände. Ausgenommen waren beispielsweise Aufenthalte zwischen 22 und 24 Uhr, die der im Freien stattfindenden allein ausgeübten körperlichen Bewegung dienten, sowie Aufenthalte, die der Abwendung eines medizinischen oder veterinärmedizinischen Notfalls, der Berufsausübung, der Wahrnehmung des Sorge- oder Umgangsrechts oder ähnlich gewichtigen Zwecken dienten. Außerdem hat die Bundesregierung am 8. Mai 2021 auf der Grundlage der hierfür erteilten Ermächtigung des § 28c IfSG mit der Zustimmung des Deutschen Bundestags und des Bundesrats die Verordnung zur Regelung von Erleichterungen und Ausnahmen von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 erlassen. Diese nahm geimpfte und genesene Personen insbesondere von der Beschränkung privater Treffen, des Aufenthalts im Freien und beim Sport aus.
Der Senat hat auf der Grundlage von § 27a BVerfGG zahlreichen wissenschaftlichen Fachgesellschaften aus verschiedenen Bereichen als sachkundigen Dritten Gelegenheit gegeben, zu mehreren Fragenkomplexen Stellung zu nehmen.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
Soweit die Verfassungsbeschwerden zulässig erhoben worden sind, haben sie in der Sache keinen Erfolg. Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen und deren Bußgeldbewehrung und die Ausgangsbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG und der damit korrespondierende Ordnungswidrigkeitentatbestand verletzten die Beschwerdeführenden nicht in ihren Grundrechten.
I. Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen griffen sowohl in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG als auch in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) ein. Die Eingriffe waren jedoch formell sowie materiell verfassungsgemäß und damit verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
1. Das Ehe- und das Familiengrundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG gewährleisten ein Recht, sich mit seinen Angehörigen beziehungsweise seinem Ehepartner in frei gewählter Weise und Häufigkeit zusammenzufinden und die familiären Beziehungen zu pflegen. Vom Familiengrundrecht erfasst sind die tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der Kinder und ihrer Eltern, unabhängig davon, ob diese miteinander verheiratet sind, wie auch weitere spezifisch familiäre Bindungen, wie sie zwischen erwachsenen Familienmitgliedern und zwischen nahen Verwandten auch über mehrere Generationen hinweg bestehen können. Das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) schützt familienähnlich intensive Bindungen auch jenseits des Schutzes von Ehe und Familie. In seiner Ausprägung als allgemeines Persönlichkeitsrecht schützt es außerdem davor, dass sämtliche Zusammenkünfte mit anderen Menschen unterbunden werden und die einzelne Person zu Einsamkeit gezwungen wird; anderen Menschen überhaupt begegnen zu können, ist für die Persönlichkeitsentfaltung von konstituierender Bedeutung. In seiner Ausprägung als umfassende allgemeine Handlungsfreiheit schützt das Grundrecht schließlich auch die Freiheit, mit beliebigen anderen Menschen zusammenzutreffen. Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen griffen in diese Grundrechte ein.
2. Diese Grundrechtseingriffe waren formell verfassungsgemäß. Dem Bund stand dafür die konkurrierende Gesetzgebungszuständigkeit nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG als Maßnahmen gegen übertragbare Krankheiten zu.
3. Die Ausgestaltung der Kontaktbeschränkungen als selbstvollziehende gesetzliche Regelung, die keiner Umsetzung durch die Verwaltung im Einzelfall bedurfte, verletzte nicht die verfassungsrechtliche Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes der Betroffenen, missachtete nicht die aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung beziehungsweise aus einzelnen Grundrechten resultierenden Grenzen für die Handlungsformenwahl des Gesetzgebers und verstieß nicht gegen das Allgemeinheitsgebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Kontaktbeschränkungen und der korrespondierende Ordnungswidrigkeitentatbestand waren zudem hinreichend bestimmt.
4. Die Kontaktbeschränkungen waren auch verhältnismäßig. Sie dienten verfassungsrechtlich legitimen Zwecken, die der Gesetzgeber in Erfüllung grundrechtlicher Schutzpflichten erreichen wollte, waren im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet sowie erforderlich, um diese Zwecke zu erreichen, und standen hierzu nicht außer Verhältnis.
a) Durch gesetzliche Regelungen erfolgende Eingriffe in Grundrechte können lediglich dann gerechtfertigt sein, wenn der Gesetzgeber mit dem Gesetz verfassungsrechtlich legitime Zwecke verfolgt. Ob dies der Fall ist, unterliegt der Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls bei Gesetzen, mit denen der Gesetzgeber von ihm angenommenen Gefahrenlagen für die Allgemeinheit oder für Rechtsgüter Einzelner begegnen will, erstreckt sich die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht auch darauf, ob die dahingehende Annahme des Gesetzgebers hinreichend tragfähige Grundlagen hat. Gegenstand verfassungsgerichtlicher Überprüfung ist also sowohl die Einschätzung des Gesetzgebers zum Vorliegen einer solchen Gefahrenlage als auch die Zuverlässigkeit der Grundlagen, aus denen er diese abgeleitet hat oder ableiten durfte. Allerdings belässt ihm die Verfassung für beides einen Spielraum, der vom Bundesverfassungsgericht lediglich in begrenztem Umfang überprüft werden kann. Die Einschätzung und die Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren sind verfassungsrechtlich darauf zu überprüfen, ob sie auf einer hinreichend gesicherten Grundlage beruhen. Je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, der Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter und den Möglichkeiten des Gesetzgebers, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, kann die verfassungsgerichtliche Kontrolle dabei von einer bloßen Evidenz- über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen. Geht es um schwerwiegende Grundrechtseingriffe, dürfen Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen grundsätzlich nicht ohne Weiteres zu Lasten der Grundrechtsträger gehen. Jedoch kann sich – wie hier – auch die Schutzpflicht des Staates auf dringende verfassungsrechtliche Schutzbedarfe beziehen. Sind wegen Unwägbarkeiten der wissenschaftlichen Erkenntnislage die Möglichkeiten des Gesetzgebers begrenzt, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, genügt es daher, wenn er sich an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung der ihm verfügbaren Informationen und Erkenntnismöglichkeiten orientiert. Dieser Spielraum gründet auf der durch das Grundgesetz dem demokratisch in besonderer Weise legitimierten Gesetzgeber zugewiesenen Verantwortung dafür, Konflikte zwischen hoch- und höchstrangigen Interessen trotz ungewisser Lage zu entscheiden.
Daran gemessen verfolgte der Gesetzgeber mit den in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen jeweils für sich genommen und auch in ihrer Zusammenschau verfassungsrechtlich legitime Zwecke. Mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite bezweckte der Gesetzgeber ausweislich der Begründung des Gesetzentwurfs, insbesondere Leben und Gesundheit zu schützen. Diese Ziele sollten durch effektive Maßnahmen zur Reduzierung von zwischenmenschlichen Kontakten erreicht werden. Oberstes Ziel war es, die weitere Verbreitung des Virus zu verlangsamen sowie deren exponentielles Wachstum zu durchbrechen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems insgesamt zu vermeiden und die medizinische Versorgung bundesweit sicherzustellen. Sowohl der Lebens- und Gesundheitsschutz als auch die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sind bereits für sich genommen überragend wichtige Gemeinwohlbelange und daher verfassungsrechtlich legitime Gesetzeszwecke. Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, der den Schutz des Einzelnen vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seiner Gesundheit umfasst, kann zudem eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Vorsorge gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen umfasst.
Die Beurteilung des Gesetzgebers, es habe bei Verabschiedung des Gesetzes eine Gefahrenlage für Leben und Gesundheit sowie die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems bestanden, beruhte auf tragfähigen tatsächlichen Erkenntnissen. Der Gesetzgeber hatte mit der Aufgabenzuweisung an das Robert Koch-Institut nach § 4 Abs. 1 IfSG im Grundsatz institutionell dafür Sorge getragen, dass die zur Beurteilung von Maßnahmen der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten benötigten Informationen erhoben und evaluiert wurden. Zu den Aufgaben des Robert Koch-Instituts gehört es, die Erkenntnisse zu solchen Krankheiten durch Auswertung und Veröffentlichung der Daten zum Infektionsgeschehen in Deutschland und durch die Auswertung verfügbarer Studien aus aller Welt fortlaufend zu aktualisieren und für die Bundesregierung und die Öffentlichkeit aufzubereiten. Auf dieser Grundlage schätzte das Robert Koch-Institut zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland aufgrund der anhaltend hohen Fallzahlen insgesamt als sehr hoch ein. Der Gesetzgeber hat sich zudem in Sachverständigenanhörungen im zuständigen Ausschuss des Deutschen Bundestages mit den fachwissenschaftlichen Grundlagen befasst. Mehrere wissenschaftliche Fachgesellschaften schätzten die Situation im Zeitraum des Inkrafttretens der angegriffenen Vorschriften und davor ähnlich wie das Robert Koch-Institut ein.Während des Gesetzgebungsverfahrens waren darüber hinaus fachliche Stellungnahmen zu allen relevanten Fragen öffentlich verfügbar und wurden breit diskutiert. Im Einzelnen unterschieden sich dabei die Einschätzungen zur Gefährdungslage, zur künftigen Entwicklung der Pandemie und zu den Maßnahmen, um diese einzudämmen. Belastbare Erkenntnisse, wonach nur geringe oder keine Gefahren für Leben und Gesundheit durch eine Infektion oder nur geringe oder keine Gefahren auch durch Überlastung des Gesundheitssystems vorlägen, waren jedoch nicht vorhanden.
b) Die durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Beschränkungen von Kontakten im privaten und im öffentlichen Raum waren im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet, die Gesetzeszwecke zu erreichen. Dafür genügt bereits die Möglichkeit, durch die gesetzliche Regelung den Gesetzeszweck zu erreichen. Bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung steht dem Gesetzgeber ein Spielraum zu, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen. Dieser Spielraum reicht nicht stets gleich weit, sondern hängt einzelfallbezogen etwa von den Möglichkeiten ab, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden. Wiederum gilt zwar, dass bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen tatsächliche Unsicherheiten grundsätzlich nicht ohne Weiteres zulasten der Grundrechtsträger gehen dürfen. Erfolgt wie hier der Eingriff aber zum Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt. Das schließt die Prüfung ein, ob die gesetzgeberische Prognose hinreichend verlässlich ist.
Danach waren die durch § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG angeordneten Kontaktbeschränkungen ein geeignetes Mittel, um unmittelbar Leben und Gesundheit von Menschen vor den Gefahren einer COVID-19-Erkrankung zu schützen und außerdem eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, die im Fall ihres Eintritts mit ihrerseits erheblichen Gefährdungen für das Leben und die Gesundheit an COVID-19 Erkrankter sowie aus anderen Gründen stationär oder gar intensivmedizinisch behandlungsbedürftiger Patienten einherginge. Die Annahmen des Gesetzgebers über die Eignung der Kontaktbeschränkungen beruhten auf tragfähigen Grundlagen. Nach den in diesem Verfahren eingeholten Stellungnahmen der sachkundigen Dritten war und ist insoweit gesicherte Erkenntnislage, dass SARS-CoV-2 über respiratorische Sekrete übertragen wird. Auf Grundlage ihrer näheren Erkenntnisse führten die sachkundigen Dritten weitgehend übereinstimmend aus, dass jede Einschränkung von Kontakten zwischen Menschen einen wesentlichen Beitrag zur Eindämmung von Virusübertragungen leistet.
Auf tragfähiger Grundlage beruht auch die Regelungstechnik, die Geltung der Kontaktbeschränkungen an das Überschreiten des Schwellenwerts einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 zu knüpfen. Der Gesetzgeber hielt sich damit sowohl für die Anknüpfung an die Inzidenz an sich als auch für den Schwellenwert innerhalb seines Einschätzungsspielraums.
c) Die angegriffenen Kontaktbeschränkungen waren als Maßnahmen zum Schutz von Leben und Gesundheit sowie zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitssystems auch im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich. Verfassungswidrig wären die Kontaktbeschränkungen gewesen, wenn andere, in der Wirksamkeit den Kontaktbeschränkungen in ihrer konkreten Gestalt eindeutig gleiche, aber die betroffenen Grundrechte weniger stark einschränkende Mittel zur Verfügung gestanden hätten. Hier ist aber, ausgehend von den bei Verabschiedung des Gesetzes vorhandenen Erkenntnissen zur Übertragbarkeit des Virus und zu den Möglichkeiten, seiner Verbreitung zu begegnen, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber denkbare mildere Mittel nicht als sicher gleich wirksam wie die angeordneten Kontaktbeschränkungen ansah, den Zweck der Regelung zu erreichen. Das gilt sowohl für seinerzeit möglichen Schutz durch Impfungen als auch für andere Maßnahmen zur Ausgestaltung von persönlichen Kontakten als Kontaktbeschränkungen.
d) Die Kontaktbeschränkungen waren auch verhältnismäßig im engeren Sinne. Das setzt voraus, dass der mit der Maßnahme verfolgte Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung nicht außer Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs stehen. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, in einer Abwägung Reichweite und Gewicht des Eingriffs in Grundrechte einerseits der Bedeutung der Regelung für die Erreichung legitimer Ziele andererseits gegenüberzustellen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, müssen hierbei die Interessen des Gemeinwohls umso gewichtiger sein, je empfindlicher die Einzelnen in ihrer Freiheit beeinträchtigt werden. Umgekehrt wird gesetzgeberisches Handeln umso dringlicher, je größer die Nachteile und Gefahren sind, die aus gänzlich freier Grundrechtsausübung erwachsen können. Dem ist der Gesetzgeber gerecht geworden.
Mit den Kontaktbeschränkungen verfolgte er Gemeinwohlziele von überragender Bedeutung. Der Gesetzgeber wollte so Leben und Gesundheit schützen, wozu er nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG verpflichtet ist. Er konnte wegen der tatsächlichen Lage bei Verabschiedung des Gesetzes annehmen, dass zu deren Schutz mit besonderer Dringlichkeit gehandelt werden musste. In der Abwägung hat der Gesetzgeber für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den mit den Kontaktbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Der Gesetzgeber hat dem Lebens- und Gesundheitsschutz nicht einseitig Vorrang eingeräumt und hat auf der anderen Seite nicht die Grundrechte der Beschwerdeführenden außer Acht gelassen. Vielmehr sah er bei der Ausgestaltung der Kontaktbeschränkungen Sicherungen vor, um das Ausmaß der Eingriffe in die betroffenen Grundrechte, insbesondere in Art. 6 Abs. 1 GG und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, zu begrenzen, ohne den Lebens- und Gesundheitsschutz zu gefährden. Dabei sind insbesondere die im Gesetz selbst angelegten Vorkehrungen zur Begrenzung grundrechtlich bedeutsamer Belastungen zu berücksichtigen. In diesem Sinne begrenzend wirkten sowohl die zeitliche Befristung des Gesetzes als auch der dynamisch am Pandemiegeschehen ausgerichtete und regional differenzierende Regelungsansatz in § 28b IfSG. Die mit dem Vierten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite angeordneten Maßnahmen traten am 23. April 2021 in Kraft und liefen nach § 28b Abs. 10 Satz 1 IfSG mit Ablauf des 30. Juni 2021 aus. Die danach denkbare Höchstdauer der Maßnahmen – die in keinem Gebiet der Bundesrepublik erreicht wurde – betrug circa zwei Monate. Ihre Wirkung entfaltete sich lediglich in Landkreisen und kreisfreien Städten, in denen an drei aufeinander folgenden Tagen die Sieben-Tage-Inzidenz den Schwellenwert von 100 überstieg und nur bis der dortige Schwellenwert wieder für eine gewisse Zeit unterschritten wurde. Freiheitsbeeinträchtigungen wiegen aber grundsätzlich umso weniger schwer, je kürzer sie gelten.
II. Die in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangsbeschränkungen griffen in verschiedene Grundrechte ein. Die Eingriffe waren im Ergebnis ebenfalls verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
1. Die Ausgangsbeschränkungen griffen in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG ein. Dieses schützt die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen. Das Grundrecht gewährleistet allerdings von vornherein nicht die Befugnis, sich unbegrenzt und überall hin bewegen zu können. Die Fortbewegungsfreiheit setzt damit in objektiver Hinsicht die Möglichkeit voraus, von ihr tatsächlich und rechtlich Gebrauch machen zu können. Subjektiv genügt ein darauf bezogener natürlicher Wille. Dabei schützt Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 GG nicht nur gegen Eingriffe durch unmittelbar wirkenden körperlichen Zwang. Vielmehr können auch staatliche Maßnahmen mit lediglich psychisch vermittelt wirkendem Zwang in das Grundrecht eingreifen, wenn deren Zwangswirkung in Ausmaß und Wirkungsweise einem unmittelbaren physischen Zwang vergleichbar ist. So verhielt es sich bei den hier angegriffenen Ausgangsbeschränkungen.
2. Die Ausgangsbeschränkungen griffen auch in das Familiengrundrecht und die Ehegestaltungsfreiheit aus Art. 6 Abs. 1 GG sowie in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Ausgangsbeschränkungen untersagten den Beschwerdeführenden über die Kontaktbeschränkungen hinaus, ihre familiären und partnerschaftlichen Zusammenkünfte frei zu gestalten.
3. Die Regelung war jedoch formell und materiell verfassungsgemäß. Auch für die Ausgangsbeschränkungen bestand eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Die bußgeldbewehrten Ausgangsbeschränkungen erfüllten die Anforderungen an die Bestimmtheit und Klarheit von Normen. Die Wahl eines selbstvollziehenden Gesetzes war auch hier verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Insbesondere kann ein Gesetz, das unmittelbar ohne weiteren Vollzugsakt in die Fortbewegungsfreiheit eingreift, Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG genügen.
4. Die angegriffenen Ausgangsbeschränkungen waren in der konkreten Situation auch verhältnismäßig. Sie dienten als Teil eines Gesamtschutzkonzepts dem verfassungsrechtlich legitimen Zweck des Schutzes von Leben und Gesundheit, waren zur Verfolgung dieses Zwecks im verfassungsrechtlichen Sinne geeignet und erforderlich und standen dazu nicht außer Verhältnis.
Die Annahme des Gesetzgebers, mittels der in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG angeordneten Ausgangsbeschränkungen die Anzahl der Infektionen reduzieren zu können, hält sich innerhalb des ihm bei der Einschätzung der Eignung und der Erforderlichkeit einer Maßnahme zustehenden Spielraums. Die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen sollten die allgemeinen Kontaktbeschränkungen nach § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG und die sonstigen Schutzmaßnahmen unterstützen und insbesondere die Einhaltung der Kontaktbeschränkungen in geschlossenen Räumen sichern. Dies beruhte auf der hinreichend tragfähigen Annahme, dass der Virusübertragung und Ansteckung in Innenräumen zwar durch Schutzmaßnahmen wie dem Abstandhalten, dem Tragen von Masken, Lüften und allgemeiner Hygieneregeln entgegengewirkt werden kann, dass dies aber zur Abend- und Nachtzeit und im privaten Rückzugsbereich nur eingeschränkt durchsetzbar ist. Dass der Gesetzgeber sich dafür entschied, solche Zusammenkünfte von vornherein über vergleichsweise einfach zu kontrollierende Ausgangsbeschränkungen zu reduzieren, war angesichts der bestehenden Erkenntnislage verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 IfSG genügte auch dem Verhältnismäßigkeitsgebot im engeren Sinne. Der Gesetzgeber hat für den zu beurteilenden Zeitraum einen verfassungsgemäßen Ausgleich zwischen den mit den Ausgangsbeschränkungen verfolgten besonders bedeutsamen Gemeinwohlbelangen und den durch die Beschränkungen bewirkten erheblichen Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Im Rahmen seines Schutzkonzepts räumte er nicht einseitig dem Lebens- und Gesundheitsschutz sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems Vorrang ein. Er hat mit den speziell die Ausgangsbeschränkungen betreffenden Ausnahmeregelungen in § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstaben a bis g IfSG grundrechtlich geschützte, entgegenstehende Belange besonders berücksichtigt. Das galt für die Mandats- und Berufsausausübung, einschließlich derjenigen von Medienvertretern, die auch während der nächtlichen Ausgangsbeschränkungen tätig sein konnten. Damit trug der Gesetzgeber insbesondere den Grundrechten aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG Rechnung. Die Ausnahmen für die Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts sowie für die Durchführung unaufschiebbarer Betreuung unterstützungsbedürftiger Personen oder Minderjähriger milderten die Intensität des Eingriffs vor allem in die Grundrechte aus Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 GG ab. Das Zusammenwirken der genannten Ausnahmen kam unter anderem Alleinerziehenden in ihrer besonderen Belastungssituation entgegen. Sämtliche Ausnahmetatbestände milderten also das Gewicht der Eingriffe in einzelne Grundrechte ab. Zudem begrenzte die generalklauselartige Ausnahme aus § 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe f IfSG die Eingriffsintensität.
5. Umfassende Ausgangsbeschränkungen kommen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht. Hier war die Entscheidung des Gesetzgebers für die angegriffenen Maßnahmen in der konkreten Situation der Pandemie und nach den auch in diesem Verfahren durch die sachkundigen Dritten bestätigten Erkenntnissen zu den Wirkungen der Maßnahmen und zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit tragfähig begründet und mit dem Grundgesetz vereinbar.
OVG Münster
Beschluss vom 26.10.2020 13 B 1581/20.NE
Das OVG Münster hat entschieden, dass die Sperrstunde für Gaststätten und Kneipen sowie das Alkoholverkaufsverbot zwischen 23 und 6 Uhr in NRW bei 7-Tages-Inzidenz über 50 aufgrund der nordrhein-westfälischen Coronaschutzverordnung rechtmäßig ist.
Die Pressemitteilung des Gerichts:
Sperrstunde in Nordrhein-Westfalen bleibt bestehen
Die Sperrstunde in gastronomischen Einrichtungen und das Verbot des Alkoholverkaufs zwischen 23 Uhr und 6 Uhr, welche die nordrhein-westfälische Coronaschutzverordnung für Kommunen mit einer 7-Tages-Inzidenz über dem Wert von 50 vorschreibt, sind rechtmäßig. Dies hat das Oberverwaltungsgericht heute in einem Normenkontroll-Eilverfahren von 19 Antragstellern entschieden, die in Bonn, Köln und im Rhein-Sieg-Kreis Gaststätten betreiben.
Zur Begründung seines Beschlusses führte der 13. Senat des Oberverwaltungsgerichts im Wesentlichen aus: Die Verbote dienten dem legitimen Zweck, die Weiterverbreitung des SARS-CoV-2-Virus zu verlangsamen, die bei einer 7-Tage-Inzidenz von über 50 (Gefährdungsstufe 2) wegen fehlender Nachverfolgungsmöglichkeiten außer Kontrolle zu geraten drohe. Das gegenwärtige Infektionsgeschehen sei durch ein rapides Ansteigen der Infektionszahlen gekennzeichnet. Die von den Antragstellern angegriffenen Verbote seien geeignet, dieses zu verlangsamen. Die Sperrstunde leiste einen Beitrag zur Kontaktreduzierung, indem sie verhindere, dass sich wechselnde Gäste oder Gästegruppen auch noch nach 23 Uhr in den Einrichtungen einfänden und auf dem Weg von und zu den Gaststätten begegneten. Auch das nächtliche Alkoholverkaufsverbot trage zu der vom Verordnungsgeber bezweckten Verringerung infektiologisch bedenklicher Kontakte bei. Es ziele auf die unbestreitbar enthemmende Wirkung von Alkohol, aufgrund derer die Einhaltung von Mindestabständen und hygienerechtlichen Schutzvorschriften abnehme. Die bestehenden Hygiene- und Infektionsschutzstandards änderten nichts daran, dass ohne die Sperrstunde eine Vielzahl von Personen auf begrenztem Raum über einen regelmäßig nicht unerheblichen Zeitraum und - gerade in den Wintermonaten - in schlecht gelüfteten Räumlichkeiten weiter aufeinandertreffe.
Zwar griffen die Maßnahmen in ganz erheblicher Weise in die Berufsfreiheit der Betreiber gastronomischer Einrichtungen ein. Dies wirke umso schwerer, als die gesamte Gastronomie bereits infolge der zu Beginn der Pandemie verordneten flächendeckenden Betriebsschließungen große und teils existenzbedrohende Belastungen habe verkraften müssen. Die Entwicklung der vergangenen Tage lasse aber befürchten, dass das Infektionsgeschehen ohne geeignete Gegenmaßnahmen eine gefährliche Dynamik entfalte, die ungebremst am Ende jedes noch so leistungsfähige Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Belastbarkeit und darüber hinaus führe. Wegen der ihm obliegenden präventiven Schutzpflichten für Leben und Gesundheit der Bevölkerung müsse der Verordnungsgeber weder eine solche Entwicklung abwarten noch sei er gehalten, einen Anstieg der Fallzahlen in Kauf zu nehmen, der aus seiner Sicht deutlich einschneidendere Eingriffe in weite Bereiche des privaten, sozialen und öffentlichen Lebens erzwingen würde. Dies diene letztlich auch den Interessen der hier betroffenen Betreiber von gastronomischen Einrichtungen in Kommunen der Gefährdungsstufe 2, denen gegenwärtig immerhin (noch) die Möglichkeit offen stehe, ihren Betrieb im Zeitraum von 6 Uhr bis 23 Uhr zu führen.
Das LG Berlin hat entschieden, dass ein Gastwirt gegen das Land Berlin keinen Anspruch auf finanzielle Entschädigung wegen der coronabedingten Schließung seiner Kneipe hat.
Die Pressemitteilung des Gerichts:
Landgericht Berlin: Klage eines Gastwirts gegen das Land Berlin auf finanzielle Entschädigung wegen der coronabedingten Schließung seiner Kneipe in erster Instanz erfolglos
Die Zivilkammer 2 des Landgerichts Berlin hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. September 2020 in dem heute in öffentlicher Sitzung verkündeten und dabei mündlich kurz begründeten Urteil die Klage eines Gastwirts gegen das Land Berlin auf finanzielle Entschädigung wegen der coronabedingten Schließung seiner in Berlin betriebenen Kneipe in erster Instanz abgewiesen.
Der Kläger hat dazu vorgetragen, ihm seien aufgrund von Maßnahmen des Landes Berlin nach dem Infektionsschutzgesetz und der „Verordnung über Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 in Berlin“ in Bezug auf die allgemeinen Einschränkungen bzw. Beschränkungen des Gaststättenbetriebes Gewinne entgangen. Der Kläger hat das Land Berlin dafür mit der vorliegenden Klage auf Zahlung eines Teilbetrages in Höhe von 5.001,00 EUR in Anspruch genommen.
Die Zivilkammer 2 des Landgerichts Berlin hat die Abweisung der Klage bei der heutigen mündlichen Urteilsverkündung damit begründet, dass der Kläger unter keinem rechtlichen oder tatsächlichen Aspekt einen Entschädigungsanspruch gegen das Land Berlin habe. Die Anordnung der Schließung von Gaststätten sei rechtmäßig gewesen. Die mit der Schließungsanordnung verbundene Einschränkung der Gaststättenbetreiber, über einen Außer-Haus-Verkauf hinaus Verkäufe tätigen zu können, sei unter besonderer Berücksichtigung der damaligen Erkenntnislage durch den damaligen „Lock-Down“ veranlasst und als verhältnismäßig anzusehen.
Zwar sei es grundsätzlich möglich, Gaststättenbetreibern auch für die Folgen einer rechtmäßigen Gaststättenschließung eine Entschädigung zu zahlen, wenn die erlittenen Beeinträchtigungen als sogenanntes unzumutbares „Sonderopfer“ anzusehen wären. Im konkreten Fall – so der Vorsitzende bei der heutigen Urteilsverkündung – seien aber die durch die vorübergehende Gaststättenschließung im Zeitraum vom 14. März 2020 bzw. 23. März 2020 bis zum 9. Mai 2020 erlittenen Nachteile regelmäßig nicht als ein solches unzumutbares Sonderopfer anzusehen und würden sich im Bereich eines tragbaren allgemeinen Lebens- und Unternehmerrisikos bewegen.
Dieses Urteil ist noch nicht rechtskräftig; es kann dagegen Berufung beim Kammergericht innerhalb von einem Monat nach Zustellung der schriftlichen Urteilsgründe eingelegt werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten muss auf die schriftlichen Urteilsgründe verwiesen werden. Nach den Presserichtlinien kann über diese aber erst berichtet werden, wenn das heute verkündete Urteil den Parteien in schriftlicher Form zugestellt wurde bzw. alle Verfahrensbeteiligten dieses Urteil sicher erhalten haben.
Landgericht Berlin: Urteil vom 13. Oktober 2020, Aktenzeichen: 2 O 247/20
Das LG Frankfurt hat entschieden, dass eine irreführende Werbung vorliegt, wenn ein Legal-Tech-Anbieter mit dem Slogan "Kein Kostenrisiko die Entschädigung dürfen Sie in jedem Fall behalten“, da durch den Anbieter eine Servicegebühr anfällt, die von der Entschädigung abgezogen wird. Geklagt hatte die Wettbewerbszentrale.
Der BGH hat entschieden, dass ein Schmerzensgeld-Anspruch auch bei rechtmäßigen Behördenmaßnahmen und Polizeieinsätzen bestehen kann.
Die Pressemitteilung des BGH:
Schmerzensgeld auch für Verletzungen bei rechtmäßigen Behördenmaßnahmen möglich
Der für das Recht der öffentlich-rechtlichen Ersatzleistungen zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass der Anspruch auf Entschädigung für hoheitliche Eingriffe in Leben, körperliche Unversehrtheit oder Freiheit (sog. Aufopferung) auch einen Schmerzensgeldanspruch umfasst.
Sachverhalt:
Der Kläger verlangt Schadensersatz wegen einer Verletzung, die er bei einem Polizeieinsatz erlitt.
Am 23. Oktober 2010 wurde aus einem fahrenden PKW ein Schuss auf ein Döner-Restaurant in einem hessischen Ort abgegeben. Im Zuge der darauf eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen entdeckte eine Polizeistreife auf einem Tankstellengelände das mutmaßliche Tatfahrzeug. Der Kläger befand sich zusammen mit einem Mitarbeiter im Verkaufsraum der Tankstelle. Weil auch die grobe Personenbeschreibung der Täter auf den Kläger und seinen Begleiter passte, gingen die Polizeibeamten davon aus, dass es sich bei ihnen um die Tatverdächtigen handele. Nachdem eine weitere Streifenwagenbesatzung zur Verstärkung eingetroffen war, liefen die Polizeibeamten in den Tankstellenverkaufsraum. Da sie vermuteten, der Kläger und dessen Mitarbeiter führten eine Schusswaffe mit sich, forderten sie zur Eigensicherung beide auf, die Hände hoch zu nehmen, brachten sie zu Boden und legten ihnen Handschellen an. Dabei erlitt der Kläger eine Schulterverletzung. Es stellte sich alsbald heraus, dass er und sein Mitarbeiter mit der Schussabgabe nichts zu tun hatten. Darauf wurden ihnen die Handfesseln abgenommen. Der Kläger verlangt Ersatz des aufgrund der Verletzung erlittenen Vermögensschadens und ein Schmerzensgeld.
Prozessverlauf:
Die Vorinstanzen haben angenommen, die Polizeibeamten hätten angesichts der Sachlage, die sich ihnen dargeboten habe, zwar rechtmäßig unmittelbaren Zwang zur Durchsetzung einer Identitätsfeststellung gemäß § 163b Abs. 1 StPO* angewendet. Jedoch habe der Kläger einen Entschädigungsanspruch aus Aufopferung. Auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs haben das Land- und das Oberlandesgericht allerdings nur einen Ausgleich für den erlittenen materiellen Schaden zuerkannt. Die Schmerzensforderung haben sie für unbegründet gehalten.
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der III. Zivilsenat hat unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung darauf erkannt, dass der Entschädigungsanspruch aus Aufopferung auch den Ausgleich immaterieller Schäden, mithin auch ein Schmerzensgeld, umfasst.
Der Senat hat in seiner früheren "Grundentscheidung" vom 13. Februar 1956 (III ZR 175/54, BGHZ 20, 61, 68 ff) ausgeführt, aus der Gesamtbetrachtung der Rechtsordnung ergebe sich, dass Ersatz für immaterielle Schäden grundsätzlich nicht geschuldet werde. Nur in jeweils ausnahmsweise ausdrücklich gesetzlich normierten Fällen gebe es einen Ersatzanspruch auch für Nichtvermögensschäden. Eine entsprechende Bestimmung fehle für den allgemeinen Aufopferungsanspruch, der sich gewohnheitsrechtlich aus §§ 74**, 75*** der Einleitung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten vom 1. Juni 1794 entwickelt habe.
Der Senat hat in seinem jetzigen Urteil ausgeführt, von einem Willen des Gesetzgebers, die Ersatzpflicht bei Eingriffen in immaterielle Rechtsgüter grundsätzlich auf daraus folgende Vermögensschäden zu beschränken, könne nicht mehr ausgegangen werden. Mit dem Zweiten Gesetz zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften vom 19. Juli 2002 (BGBl. I S. 2674) und der hierdurch bewirkten Ausweitung des Schmerzensgeldanspruchs infolge der Änderung des § 253 BGB habe der Gesetzgeber den Grundsatz, auf den der Senat sein Urteil vom 13. Februar 1956 gestützt habe, verlassen. Dies ergebe sich auch aus der Änderung der Vorschriften über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen im Jahr 1971, nach denen für zu Unrecht erlittene Haft eine Entschädigung auch für Nichtvermögensschäden gewährt werde. Zudem habe mittlerweile eine Vielzahl von Bundesländern Bestimmungen eingeführt, nach denen Ersatz auch des immateriellen Schadens bei Verletzung des Körpers oder der Gesundheit infolge präventiv-polizeilicher Maßnahmen geschuldet werde.
Ist jemand einer Straftat verdächtig, so können die Staatsanwaltschaft und die Beamten des Polizeidienstes die zur Feststellung seiner Identität erforderlichen Maßnahmen treffen; § 163a Abs. 4 Satz 1 gilt entsprechend. Der Verdächtige darf festgehalten werden, wenn die Identität sonst nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann. Unter den Voraussetzungen von Satz 2 sind auch die Durchsuchung der Person des Verdächtigen und der von ihm mitgeführten Sachen sowie die Durchführung erkennungsdienstlicher Maßnahmen zulässig.
§ 74 EinlALR
Einzelne Rechte und Vortheile der Mitglieder des Staats müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls, wenn zwischen beyden ein wirklicher Widerspruch (Collision) eintritt, nachstehen.
§ 75 EinlALR
Dagegen ist der Staat denjenigen, welche seine besonderen Rechte und Vortheile dem Wohle des gemeinen Wesens aufzuopfern genöthigt wird, zu entschädigen gehalten.
Vorinstanzen:
LG Wiesbaden - Urteil vom 26. November 2014 – 5 O 109/13
OLG Frankfurt am Main - Urteil vom 26. Januar 2017 – 1 U 31/15
BGH
Urteil vom 23. 05.2017 VI ZR 261/16
BGB § 823 Abs. 1, GG Art. 1, 2
Der BGH hat entschieden, dass Ansprüche auf angemessene Entschädigung in Geld wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen grundsätzlich nicht vererblich sind. Dies gilt - so der BGH - auch für zu Lebzeiten rechtshängige bzw. anhängige Ansprüche.
Leitsatz des BGH:
Der Anspruch auf Geldentschädigung wegen Persönlichkeitsrechtsverletzung ist grundsätzlich nicht vererblich. Dies gilt auch, wenn der Anspruch noch zu Lebzeiten des Geschädigten anhängig oder rechtshängig geworden ist (Fortführungvon BGH, Urteil vom 29. April 2014 - VI ZR 246/12, BGHZ 201, 45 ff.).
BGH, Urteil vom 23. Mai 2017 - VI ZR 261/16 - OLG Düsseldorf - LG Düsseldorf
Das OLG Hamm hat in diesem Rechtsstreit entschieden, dass 7.000 EURO Schmerzensgeld für die unerlaubte Veröffentlichung intimer Fotos der Ex-Freundin im Internet angemessen sind.
Intimes Foto unerlaubt im Internet veröffentlicht - 7.000 Euro Schmerzensgeld
Veröffentlicht ein Mann ein Foto, das ihn mit einer Frau beim Oralverkehr zeigt, ohne Zustimmung der Frau im Internet und erleidet die Frau deswegen einen gesundheitlichen Schaden, kann ihr ein Schmerzensgeld - im vorliegenden Fall in Höhe von 7.000 Euro - zustehen. Das hat der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm am 20.02.2017 entschieden und damit die erstinstanzliche Entscheidung des Landgerichts Münster dem Grunde nach bestätigt.
Die im Jahre 1995 geborenen Parteien aus dem Münsterland führten eine Liebesbeziehung. 2011 fertigte der Beklagte mit seinem Handy ein Foto, das das Paar beim privaten Oralverkehr zeigt und auf dem die Klägerin zu erkennen ist. Dieses Foto stellte er, ihre Beziehung hatten die Parteien zuvor beendet, im Jahre 2013 auf eine Internetplattform, die allgemein einsehbar ist und von Freunden und Bekannten des Paares besucht wurde. Es verbreitete sich daraufhin - ohne Zutun des Beklagten - insbesondere über soziale Netzwerke des Internets. Wenige Tage nach dem Einstellen erfuhr die Klägerin von der Veröffentlichung des Fotos. Sie forderte den Beklagten auf, das Foto zu entfernen, was dieser umgehend tat. Später löschte er auch sein Profil auf der Internetplattform.
Im vorliegenden Zivilprozess wurde festgestellt, dass die Klägerin durch die Veröffentlichung einen gesundheitlichen Schaden in Form sich sukzessiv über mehrere Jahre erstreckende, psychische Erkrankungen erlitten hat. Vom Beklagten hat sie Schadensersatz verlangt, u.a. ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 5.000 Euro.
Der 3. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Hamm hat der Klägerin zum Ausgleich ihres immateriellen Schadens ein Schmerzensgeld von 7.000 Euro zugesprochen (und zugleich den vom Landgericht ausgeurteilten Schmerzensgeldbetrag von 20.000 Euro reduziert).
Der Beklagte habe der Klägerin, so der Senat, ein Gesundheitsschaden zugefügt, indem er das die Klägerin abbildende intime Foto ohne ihre Zustimmung im Internet veröffentlicht habe. Hierdurch habe die Klägerin verschiedene, sich sukzessiv über mehrere Jahre erstreckende, auch schwere psychische Erkrankungen erlitten. Ihren Gesundheitsschaden und auch dessen Verursachung durch den Beklagten habe die vom Senat angehörte medizinische Sachverständige überzeugend bestätigt.
Die Höhe des Schmerzensgeldes sei - mit Blick auf die Schwere der Verletzungen und ihre Folgen sowie auf das Verschulden des Schädigers - im Rahmen einer durchzuführenden Gesamtabwägung mit 7.000 Euro zu bemessen gewesen.
Zu berücksichtigen seien die von der Klägerin erlittenen psychischen Erkrankungen und die Auswirkungen auf ihre Lebensgestaltung. Die Klägerin habe sich längere Zeit zurückgezogen, die Öffentlichkeit gescheut und sich zunächst nicht in der Lage gesehen, eine Berufsausbildung zu beginnen. Hinzu komme, dass die Bildveröffentlichung zu einer massiven Bloßstellung der aufgrund ihres jungen Alters besonders verletzlichen Klägerin gegenüber einer unüberschaubaren Anzahl von Personen, u.a. aus ihrem nahen Umfeld, geführt habe. Auch wenn der Beklagte das Foto schon nach kurzer Zeit von seinem Internetprofil
gelöscht habe, hätten es (vorhersehbar) dritte Personen bereits entdeckt und heruntergeladen. Die Verbreitung des Fotos sei unkontrollierbar gewesen.
Demgegenüber sei ebenfalls zu berücksichtigen, dass der sein Tun bereuende Beklagte das Bild - vermutlich stark alkoholisiert - im Zuge einer unreflektierten Spontanhandlung ins Internet hochgeladen habe, offenbar - wohl auch im Hinblick auf sein junges Alter - ohne die weitreichenden Folgen seines Handelns zu überdenken. Außerdem sei aufgrund des mittlerweile erfolgten Schulabschlusses und des Wohnortwechsels der Klägerin nicht mehr zu erwarten, dass die Klägerin künftig weiterhin massiv mit dem Foto konfrontiert werde. Nach ihren eigenen Angaben sei das derzeit jedenfalls nicht der Fall. Schließlich sei es überwiegend wahrscheinlich, dass das das Foto ursprünglich im Einvernehmen der Parteien gefertigt worden sei.
Die gesamten Umstände rechtfertigten das vom Senat zuerkannte Schmerzensgeld von 7.000 Euro.
Rechtskräftiges Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Hamm vom 20.02.2017 (3 U 138/15)