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OLG Schleswig-Holstein: Unternehmen müssen E-Mail-Rechnungen mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung versenden - andernfalls Schadensersatz aus Art. 82 DSGVO bei Man-in-the-Middle-Angriff

OLG Schleswig-Holstein
Urteil vom 18.12.2024
12 U 9/24


Das OLG Schleswig-Holstein hat entschieden, dass Unternehmen E-Mail-Rechnungen mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung versenden müssen. Andernfalls kann bei einem Man-in-the-Middle-Angriff ein Schadensersatzanspruch aus Art. 82 DSGVO bestehen.

Das Gericht hat zum Glück die Revision zugelassen, so dass der BGH hoffentlich die Gelegenheit erhält, diese völlig praxisuntaugliche Entscheidung zu korrigieren.

Aus den Entscheidungsgründen:
2. Anders als das Landgericht meint, steht der Beklagten allerdings ein Schadensersatzanspruch in Höhe der auf das Drittkonto getätigten Überweisung des streitgegenständlichen Betrags zu, den die Beklagte der Klagforderung unter dem Gesichtspunkt der dolo-agit-Einwendung gemäß § 242 BGB entgegenhalten kann.

a) Ein solcher Anspruch resultiert vorliegend jedenfalls aus Art. 82 DSGVO.

Die DSGVO verlangt von Unternehmen, sensible Daten gegen Datenschutzverletzungen zu sichern. Sensible Daten sind z.B. personenbezogene Daten, die übertragen, gespeichert oder anderweitig verarbeitet werden. Als Datenschutzverletzungen werden versehentliche oder unrechtmäßige Zerstörung, Verlust, Veränderung, unbefugte Offenlegung oder Zugriff auf personenbezogene Daten definiert. Um solche Sicherheitsvorfälle zu vermeiden, werden Unternehmen dazu angehalten, geeignete technische und organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, um die sichere Verarbeitung personenbezogener Daten zu gewährleisten. Nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO hat „jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen diese Verordnung ein materieller oder immaterieller Schaden entstanden ist, (...) Anspruch auf Schadenersatz gegen den Verantwortlichen oder gegen den Auftragsverarbeiter“. Art. 82 Abs. 1 DSGVO eröffnet einen direkten eigenen deliktischen Schadensersatzanspruch mit Verschuldensvermutung, wobei der Verantwortliche nach Abs. 3 den Entlastungsbeweis führen kann.

Dass die Beklagte sich nicht ausdrücklich auf Art. 82 Abs. 1 DSGVO berufen hat, hindert eine Anwendbarkeit nicht, denn die Subsumtion des unterbreiteten Sachverhalts obliegt allein dem Gericht. Insoweit hat die Beklagte alle erforderlichen Voraussetzungen für einen solchen Schadensersatzanspruch vorgetragen.

aa) Der Anwendungsbereich der DSGVO ist in zeitlicher, sachlicher und räumlicher Hinsicht eröffnet.

Gemäß Art. 2 Abs. 1 DSGVO gilt diese für die ganz oder teilweise automatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten sowie für die nichtautomatisierte Verarbeitung personenbezogener Daten, die in einem Dateisystem gespeichert sind oder gespeichert werden sollen.

Personenbezogene Daten sind Daten, über die sich ein konkreter Personenbezug herstellen lässt. Demnach geht es um Daten, die konkreten Personen zuzuordnen sind. Die in der streitgegenständlichen Email als Anhang enthaltenen Angaben zur Beklagten (Name, Anschrift, Kunde der Klägerin, offene Rechnung über eine Werkleistung) sind personenbezogene Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Die Versendung der Rechnung mit den enthaltenen Daten per E-Mail an die Beklagte über den streitverkündeten Zeugen A. stellt eine Verarbeitung im Sinne von Art. 4 Nr. 2 DSGVO dar ("Offenlegung durch Übermittlung, Verbreitung oder eine andere Form der Bereitstellung"). Daran ändert sich auch nichts dadurch, dass nicht die personenbezogenen Daten der Beklagten, sondern die Kontoverbindung der Klägerin durch einen Dritten unbefugt manipuliert wurde, denn ohne den gleichzeitigen unbefugten Zugriff auf die Daten der Beklagten wäre diese durch die abgewandelte, an die Email angehängte Rechnung nicht dazu veranlasst worden, auf ein falsches Bankkonto zu zahlen.

Das sog. Haushaltsprivileg des Art. 2 Abs. 2 lit. c DSGVO, wonach die DSGVO keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten durch natürliche Personen zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten findet, greift nicht, da die Verarbeitung vorliegend durch ein Unternehmen im Rahmen des geschäftlichen Betriebs stattgefunden hat.

Die Beklagte ist für den geltend gemachten Anspruch aktivlegitimiert. Denn anspruchsberechtigt ist nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO jede Person, der wegen eines Verstoßes gegen die DSGVO ein Schaden entstanden ist. Die Klägerin ist als Verantwortliche im Sinne von Art. 4 Nr. 7 DSGVO passivlegitimiert im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DSGVO.

bb) Im Übrigen hat Art. 82 Abs. 2 DSGVO - der die in Art. 82 Abs. 1 DSGVO grundsätzlich normierte Haftungsregelung präzisiert - drei Voraussetzungen für die Entstehung eines Schadensersatzanspruchs, nämlich

- erstens eine Verarbeitung personenbezogener Daten im Sinne der Art. 5 Abs. 1 lit. a Var. 1, Art. 6 Abs. 1 UnterAbs. 1 lit. a, Art. 7 in Verbindung mit Art. 4 Nr. 1 und 2 DSGVO unter schuldhaftem Verstoß gegen die Bestimmungen der DSGVO,

- zweitens einen der betroffenen Person entstandenen Schaden und

- drittens einen Kausalzusammenhang zwischen der rechtswidrigen Verarbeitung und diesem Schaden

(vgl. EuGH, Urteil v. 25.01.2024 – C-687/21, juris Rn. 58; EuGH, Urteil v. 04.05.2023 – C-300/21 -, juris Rn. 36).

(1) Vorliegend hat nach Ansicht des Senats die Klägerin - anders als das Landgericht meint – im Zuge der Verarbeitung der personenbezogenen Daten der Beklagen bei Versand der streitgegenständlichen Email mit Anhang gegen die Grundsätze der Art. 5, 24 und 32 DSGVO verstoßen.

(aa) Ein Verstoß gegen die Vorschriften der Datenschutzgrundverordnung kann in diesem Zusammenhang nicht schon allein deswegen angenommen werden, weil – was unstreitig ist – ein unbefugter Zugriff auf personenbezogene Daten durch Dritte im Sinne von Art. 4 Nr. 10 DSGVO stattgefunden hat. Denn dies allein reicht nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht aus, um gleichzeitig davon auszugehen, dass die technischen und organisatorischen Maßnahmen des für die Verarbeitung Verantwortlichen nicht "geeignet" im Sinne von Art. 24 und 32 DSGVO waren, vgl. EuGH, Urteil v. 25.01.2024 - C-687/21 -, juris Rn. 45; EuGH, Urteil v. 14.12.2023 - C-340/21, juris Rn. 22ff., 31-39).

(bb) Umgekehrt ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs der Verantwortliche aber auch nicht gem. Art. 82 Abs. 3 DSGVO von seiner nach Art. 82 Abs. 1 und 2 DSGVO bestehenden Pflicht zum Ersatz des einer Person entstandenen Schadens allein deswegen befreit, weil dieser Schaden die Folge eines unbefugten Zugangs zu personenbezogenen Daten durch einen Dritten ist (vgl. EuGH, Urteil v. 14.12.2023 – C-340/21, juris Rn. 65ff., 74).

(cc) Vielmehr hat der Verantwortliche die Möglichkeit, aber auch die Verpflichtung, nach dem in Art. 5 Abs. 2 DSGVO formulierten und in Art. 24 DSGVO konkretisierten Grundsatz seiner Rechenschaftspflicht darzulegen und zu beweisen, dass die von ihm getroffenen Sicherheitsmaßnahmen geeignet waren, um die personenbezogenen Daten entsprechend dem von der Datenschutzgrundverordnung verlangten Sicherheitsniveau vor dem Zugriff Unbefugter zu schützen (vgl. EuGH, Urteil v. 25.01.2024 – C-687/21, juris Rn. 40Ff; ebenso EuGH, Urteil v. 14.12.2023 – C-340/21, juris Rn. 48ff., 57). Das ist der Klägerin vorliegend nicht gelungen, da der Senat die Transportverschlüsselung, die sie beim Versand der streitgegenständlichen Email – von der Beklagten bestritten – verwendet haben will (in Form von SMTP über TLS), nicht für ausreichend und damit auch nicht für „geeignet“ im Sinne der Datenschutzgrundverordnung hält. Es kann damit auch dahinstehen, ob eine solche Transportverschlüsselung tatsächlich erfolgt ist. Das von der Klägerin zum Beweis dafür und für die Frage, ob eine Transportverschlüsselung dem üblichen Sicherungsmaß entspricht oder sogar darüber hinausgeht, angebotene Sachverständigengutachten ist insoweit nicht einzuholen.

(aaa) Der Senat verkennt dabei nicht, dass es konkrete gesetzliche Anforderungen an eine Verschlüsselung von Emails nicht gibt.

Auch in der Datenschutzgrundverordnung ist eine Verschlüsselung nicht zwingend vorgeschrieben. Sie wird jedoch mehrfach im Text der Verordnung erwähnt, jedes Mal als Empfehlung. In Artikel 32 heißt es, dass unter Berücksichtigung des Stands der Technik, der Implementierungskosten und der Art, des Umfangs, des Kontexts und der Zwecke der Verarbeitung sowie der Risiken und der Schwere der Folgen für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen der für die Verarbeitung Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter geeignete technische und organisatorische Maßnahmen umsetzen müssen, um ein dem Risiko angemessenes Sicherheitsniveau zu gewährleisten, wozu unter anderem die Pseudonymisierung und Verschlüsselung personenbezogener Daten gehören. Da die DSGVO die Verschlüsselung jedoch nicht zwingend vorschreibt, bietet sie keine Klarheit darüber, wann die Verschlüsselung verwendet werden sollte und welche Standards dabei angewendet werden müssen.

Nach der „Orientierungshilfe des Arbeitskreises Technische und organisatorische Datenschutzfragen vom 27.05.2021“, die von der Konferenz der unabhängigen Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder entwickelt wurde und die Konkretisierung der Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 lit. f, Art. 25 und Art. 32 Abs. 1 DSGVO zum Ziel hat, sind ausgehend vom Stand der Technik, den typischen Implementierungskosten und deren Verhältnis zu den Risiken einer Übermittlung personenbezogener Daten per E-Mail Anforderungen an die Maßnahmen, die Verantwortliche und Auftragsverarbeiter zur ausreichenden Minderung der Risiken zu treffen haben, zu bestimmen. Die Verantwortlichen und Auftragsverarbeiter sind verpflichtet, die Besonderheiten ihrer Verarbeitungen, darunter insbesondere den Umfang, die Umstände und die Zwecke der vorgesehenen Übermittlungsvorgänge zu berücksichtigen, die ggf. in abweichenden Anforderungen resultieren können (vgl. https://www.datenschutzkonferenz-online.de/media/oh/20210616_orientierungshilfe_e_mail_verschluesselung.pdf).

Danach muss es im Ausgangspunkt heute jedem Unternehmen, das Daten seiner privaten Kunden computertechnisch verarbeitet, bewusst sein, dass der Schutz dieser Daten hohe Priorität – auch beim Versenden von Emails - genießt. Es ist daher zur Überzeugung des Senats auch verpflichtet, diesen Schutz durch entsprechende Maßnahmen so weit wie möglich zu gewährleisten.

Der Europäische Gerichtshof hat die Anforderungen des Art. 32 DSGVO dahingehend ausgelegt, dass die Geeignetheit der vom Verantwortlichen nach diesem Artikel getroffenen technischen und organisatorischen Maßnahmen vor den nationalen Gerichten konkret zu beurteilen ist, wobei die mit der betreffenden Verarbeitung verbunden Risiken zu berücksichtigen sind und zu beurteilen ist, ob Art, Inhalt und Umsetzung dieser Maßnahmen diesen Risiken angemessen sind (vgl. EuGH, Urteil v. 14.12.2023 – C-340/21, juris Rn. 40ff., 47).

(bbb) Tastet man sich an die Frage einer „geeigneten“ Verschlüsselung „von unten“ heran, ist es nach Ansicht des Senats für einen Geschäftsbetrieb wie den der Klägerin ausgeschlossen, geschäftliche Emails mit personenbezogenen Daten völlig ohne jede Verschlüsselung zu versenden.

Nach einer Information des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zu aktuell möglichen und gebräuchlichen Verschlüsselungsmethoden kommen für den Email-Versand die folgenden Verfahren in Betracht:

„Bei E-Mail-Verschlüsselung gibt es grundsätzlich zwei verschiedene Arten: die Punkt-zu-Punkt- beziehungsweise Transportverschlüsselung und die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung.

Wo der entscheidende Unterschied liegt, wird im Folgenden erklärt:

Transportverschlüsselung

Bei der Transportverschlüsselung wird zwischen dem E-Mail-Programm (Client) und dem E-Mail-Server eine Verbindung aufgebaut und diese z.B. gemäß dem weit verbreiteten Protokoll "Transport Layer Security" (TLS) verschlüsselt. Dies wird inzwischen von den allermeisten E-Mail-Anbietern unterstützt. Alle Daten, die zwischen dem Client und dem E-Mail-Server ausgetauscht werden, sind damit während des Versands verschlüsselt. E-Mails werden beim Versand allerdings über unterschiedliche Knotenpunkte im Web zwischen den Servern der E-Mail-Anbieter zur Empfängerin oder dem Empfänger weitergeleitet und sind in diesen Punkten nicht verschlüsselt und dazwischen nicht immer. Sowohl beim E-Mail-Anbieter als auch an den Knotenpunkten des Versands liegt die E-Mail im Klartext vor.

Internetkriminelle könnten einen "Man-in-the-Middle-Angriff" durchführen, der auf diese Punkte ausgerichtet ist. Bei diesem Angriff platziert sich ein Angreifer "in der Mitte" der Kommunikation zwischen zwei Kommunikationspartnerinnen oder -partnern und kann ohne deren Wissen Daten (z.B. E-Mails) abfangen, kopieren oder verändern.

Ende-zu-Ende-Verschlüsselung

Zwar ist eine Transportverschlüsselung einer unverschlüsselten Kommunikation vorzuziehen, doch gerade bei sensiblen oder persönlichen Inhalten empfiehlt es sich, auf den Einsatz einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung Wert zu legen. Bisher gestaltete sich der Einsatz dieser Kryptografietechnik noch als mühsam. Anwenderinnen und Anwender müssen bei der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung oft selbst aktiv werden und zusätzliche Plugins in den meisten E-Mail-Clients aktivieren, um die Technologie nutzen zu können. Eine weitere Hürde ist der Austausch der öffentlichen Schlüssel. Allerdings ist dies unter anderem mit einem vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik entwickelten Protokoll richtungsweisend vereinfacht und so Anwenderinnen und Anwendern zugänglicher gemacht worden.“

(https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationenund-Empfehlungen/Onlinekommunikation/Verschluesselt-kommunizieren/E-Mail-Verschlu esselung/e-mail-verschluesselung_node.html)

In der bereits zitierten Orientierungshilfe der Datenschutzkonferenz (vgl. https://www.datenschutzkonferenz-online.de/media/oh/20210616_orientierungshilfe_e_mail_verschluesselung.pdf) heißt es weiter zu dem von einem Verarbeiter danach zu verlangenden Schutzniveau, dass sowohl End-to-End-Verschlüsselung als auch Transportverschlüsselung für ihren jeweiligen Anwendungszweck Risiken für die Vertraulichkeit der übertragenen Nachrichten mindern. Daher müssten Verantwortliche beide Verfahren in der Abwägung der notwendigen Maßnahmen berücksichtigen. Der durchgreifendste Schutz der Vertraulichkeit der Inhaltsdaten werde durch End-to-End-Verschlüsselung erreicht. End-to-End-Verschlüsselung schütze nicht nur den Transportweg, sondern auch ruhende Daten; der Einsatz von Transportverschlüsselung biete einen Basis-Schutz und stelle eine Mindestmaßnahme zur Erfüllung der gesetzlichen Anforderungen dar. Die Verantwortlichen müssten die Risiken sorgfältig einschätzen, die mit dem Bruch der Vertraulichkeit und Integrität von E-Mail-Nachrichten verbunden seien, die sie versendeten oder gezielt empfingen.

(ccc) Nach Ansicht des Senats ist danach eine Transportverschlüsselung beim Versand von geschäftlichen Emails mit personenbezogenen Daten zwischen Unternehmer und Kunden jedenfalls bei dem hier bestehenden hohen finanziellen Risiko durch Verfälschung der angehängten Rechnung der Klägerin für den Kunden nicht ausreichend und kann keinen „geeigneten“ Schutz im Sinne der DSGVO darstellen. Vielmehr ist die End-to-End-Verschlüsselung zurzeit das Mittel der Wahl.

Soweit in der Orientierungshilfe der Datenschutzkonferenz zur Einzelfallentscheidung darauf abgestellt wird, dass in Verarbeitungssituationen mit normalen Risiken bereits durch die Transportverschlüsselung eine ausreichende Risikominderung erreicht wird, zeigt der zu entscheidende Fall nach Ansicht des Senats deutlich, dass hier keine „Verarbeitungssituation mit normalen Risiken“ vorliegt. Er ist zwar anders gelagert als die üblicherweise für die Annahme eines hohen Risikos herangezogenen Emails z.B. mit Arztbriefen oder Rechtsanwaltsschreiben im Anhang, die vor allem wegen des hohen Umfangs und der Intensität der persönlichen Daten besonders schutzwürdig sein sollen. Bei der hier streitgegenständlichen Email mit der Rechnung der Klägerin im Anhang sind die persönlichen Daten der Beklagten als Privatkundin wie Name und Adresse und die Tatsache, dass die Beklagte einen Werkvertrag abgeschlossen hat, nicht in dem Maße tiefgreifend persönlich. Der Zugriff durch einen unbefugten Dritten darauf führte aber im konkreten Fall in Verbindung mit der ebenfalls „gehackten“ und unberechtigt veränderten Kontoverbindung der Klägerin dazu, dass die Beklagte auf ein falsches Konto gezahlt hat und ‒ wie die Ausführungen unter 1. zeigen ‒ den Werklohn nunmehr erneut zahlen soll, so dass ihr ein massiver finanzieller Schaden von über 15.000,-- € entstanden ist. Dass Kunden von Unternehmen bei einem Datenhacking solche Vermögenseinbußen drohen, ist ein Risiko, das dem Versand von Rechnungen per Email immanent ist, von der Klägerin bei ihrer Planung zur Emailsicherheit erkannt werden musste und bei ihren Überlegungen zu Schutzmaßnahmen beim Versand von Rechnungen per Email mit einzubeziehen war. Anders, als das Landgericht meint, kommt es darauf, dass bei der Klägerin bislang ein Hackerangriff noch nicht vorgekommen war, nicht an. Die stetig wachsende Gefahr von Hackerangriffen auf Unternehmen ist allgemein bekannt und die hohe Schadensträchtigkeit des Versands von Rechnungen per Email verlangt von einem Unternehmen wie der Klägerin eine entsprechende Voraussicht und ein entsprechendes proaktives Handeln.

Der Senat verkennt dabei nicht, dass die hier für einen Email-Versand mit angehängter Rechnung verlangte End-to-End-Verschlüsselung für ein Unternehmen wie die Klägerin einen gewissen technischen Aufwand erfordert, der sich möglicherweise nicht darauf beschränkt, in dem benutzten Standard-Email-Programm lediglich eine Aktivierung vorzunehmen. Vielmehr dürfte hier vielfach eine technische Beratung und der Einsatz von gesonderten Programmen erforderlich sein. Dies ändert aber nach Ansicht des Senats die an die Verschlüsselung von geschäftlichen Emails mit angehängten Rechnungen zu stellenden Anforderungen nicht. Angesichts der allgemein bekannten und vielfältig veröffentlichten Hackermöglichkeiten, des gerichtsbekannt rasanten Anstiegs von Hackerangriffen und den im Einzelfall weitreichenden finanziellen Folgen für den einzelnen Kunden, dessen Rechnung verfälscht wird und der selbst keinen Einfluss auf die Verarbeitung seiner Daten hat, ist daher auch von einem kleineren Unternehmen – wie der Klägerin als mittelständischem Handwerksbetrieb – zu erwarten, dass es sich zum Schutz der Daten seiner Kunden zu computertechnischen Sicherheitsanforderungen informiert und sich diesbezüglich beraten, fortbilden und mit der notwendigen Software ausstatten lässt. Die Klägerin kann sich nicht darauf berufen, dass es sich bei der End-to-End-Verschlüsselung im Geschäftsleben um eine unübliche Verschlüsselung handeln würde, die von ihr nicht verlangt werden könne. Vielmehr beschäftigen sich vielfache, allgemein zugängliche Empfehlungen und Informationen aktuell mit den entsprechenden Möglichkeiten, so auch die Information des BSI zur Praxis der Emailverschlüsselung unter Nennung verschiedener Email-Tools, die eine solche Verschlüsselung ermöglichen (s. https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationen-und-Empfehlungen/Onlinekommunikation/Verschluesselt-kommunizieren/E-Mail-Verschluesselung/E-Mail-Verschluesselung-in-der-Praxis/e-mail-verschluesselung-in-der-praxis_node.html). Dass einer End-to-End-Verschlüsselung im konkreten Fall technische, organisatorische und/oder finanzielle Hindernisse im Weg gestanden hätten, hat die Klägerin nach entsprechendem Hinweis des Senats in der mündlichen Verhandlung, welche Schutzmaßnahmen er erwarte, nicht vorgetragen.

Soweit dieser zu erwartende hohe Standard zum Schutz der personenbezogenen Daten beim Versand von Emails mit angehängten Rechnungen nicht sichergestellt werden kann, bleibt für ein Unternehmen – ohne dass hierfür größerer technischer und/oder finanzieller Aufwand betrieben werden müsste – wie eh und je der Versand von Rechnungen per Post das Mittel der Wahl.

(dd) Die Klägerin trifft auch ein Verschulden.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist einer kombinierten Analyse der verschiedenen Bestimmungen von Art. 82 DSGVO zu entnehmen, dass dieser Artikel ein Haftungsregime für Verschulden vorsieht, bei dem die Beweislast nicht der Person obliegt, der ein Schaden entstanden ist, sondern dem Verantwortlichen (EuGH, Urteil v. 21.12.2023 - C-667/21, juris Rn. 92 ff.).

Gemäß Art. 82 Abs. 3 DSGVO wird der Anspruchsverpflichtete von der Haftung – hier für unzureichende Schutzmaßnahmen in Bezug auf die Versendung personenbezogener Daten - befreit, wenn er in keinerlei Hinsicht für den schadensverursachenden Umstand verantwortlich ist. Verantwortung ist dabei das Verschulden im Sinne der deutschen Rechtsterminologie und nicht die datenschutzrechtliche Verantwortung (LG Mainz, Urteil vom 12.11.2021 - 3 O 12/20, juris Rn. 73; Quaas, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, 50. Edition, Stand 01.08.2024, Art. 82 DSGVO Rn. 17 und 17.2; Geissler/Ströbel, in: NJW 2019, 3414 (3415)). Das Verschulden wird nach dem Wortlaut der Norm grundsätzlich vermutet. Um die Feststellung treffen zu können, der Verantwortliche sei "in keinerlei Hinsicht" verantwortlich, hat dieser nachzuweisen, dass er alle Sorgfaltspflichten erfüllt hat und ihm damit nicht die geringste Fahrlässigkeit vorgeworfen werden kann (Quaas, in: Wolff/Brink, BeckOK Datenschutzrecht, a.a.O., Art. 82 DSGVO Rn. 18). Diesen Nachweis hat die Klägerin nicht zu führen vermocht. Ihr ist insofern – wie oben dargestellt - der Vorwurf eines unzureichenden Schutzniveaus für den Versand von Emails mit personenbezogenen Daten – insbesondere mit der hier angehängten Rechnung - zu machen.

Die Klägerin kann sich auch nicht darauf berufen, dass sie sich ausreichend hätte beraten lassen und auch ihr IT-Berater, der Zeuge C., im Rahmen zu treffender Schutzmaßnahmen lediglich eine Transportverschlüsselung vorgeschlagen habe. Da es keine gesetzlich festgelegten Schutzmaßnahmen gibt, obliegt es letztlich allein der Klägerin zu entscheiden, wie sie ihren Email-Versand mit personenbezogenen Daten sichern will und muss. Ihr IT-Berater konnte insofern lediglich die Optionen nennen; die Entscheidung hatte sie zu treffen. Diesbezüglich hat sie zumindest fahrlässig nicht auf ein ausreichendes Schutzniveau geachtet.

(2) Der Beklagten ist unstreitig ein Schaden entstanden, der in dem – wie oben dargestellt – mangels Erfüllung erneut zu zahlenden Werklohn liegt.

(3) Dieser von der Beklagten geltend gemachte Schaden ist auch eine kausale Folge des Verstoßes gegen die Datenschutzgrundverordnung.

Da nach den obigen Darlegungen die Klägerin bei Versand ihrer Email mit der angehängten Rechnung kein ausreichendes Schutzniveau zur Sicherung der personenbezogenen Daten der Beklagten eingehalten hat, obliegt ihr der Beweis dafür, dass der der Beklagten entstandene Schaden nicht durch ihr Fehlverhalten entstanden ist (EuGH, Urteil v. 14.12.2023 – C-340/21, juris Rn. 72). Dies ist ihr vorliegend nicht gelungen.

Unstreitig ist bei der von der Klägerin (maximal) verwendeten Transportverschlüsselung ein Zugriff durch unbefugte Dritte auf ihrem Computer, ihrem Server oder auf weiteren Servern auf dem Weg zum streitverkündeten Zeugen A. ohne Weiteres möglich; die Email ist definitionsgemäß nur auf dem Transport verschlüsselt. Einen Beweis dafür, dass im konkreten Fall der Zugriff nicht im Bereich der Klägerin, sondern erst im Bereich der Beklagten bzw. des Zeugen A. erfolgt ist, hat die Klägerin, der – wie ausgeführt und auch in der mündlichen Verhandlung erörtert – die Darlegungs- und Beweislast dafür obliegt, nicht angeboten. Die Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen scheidet aus, da es sich mangels Anknüpfungstatsachen um einen Ausforschungsbeweis handeln würde. Auch die bei dem Zeugen A. vorhandenen Schutzmaßnahmen sind aus diesem Grund nicht weiter aufzuklären.

Im Übrigen wäre der Klägerin – selbst wenn der unbefugte Zugriff im Bereich des Zeugen A. und nicht schon im Bereich der Klägerin erfolgt sein sollte – weiterhin anzulasten, dass sie einen solchen Zugriff durch den von ihr gewählten Versand der Daten per Email lediglich mit Transportverschlüsselung und damit mit unzureichender Sicherung erst ermöglicht hätte, denn auch bei einem von der Klägerin angesprochenen Datenhacking im Bereich des Zeugen A. wäre die streitgegenständliche Email samt Anhang aufgrund der End-to-End-Verschlüsseluung wegen des eigenen erforderlichen Schlüssels bei Einhaltung entsprechender Standards auch auf dem Server/Computer des Zeugen jedenfalls ganz weitgehend geschützt gewesen.

(4) Ein Mitverschulden an der Schadensentstehung gem. § 254 BGB trifft die Beklagte nicht.

Anders als das Landgericht meint, oblag der Beklagten bzw. dem Zeugen A., dessen Verschulden ihr möglicherweise gem. § 278 BGB zuzurechnen wäre, nach Ansicht des Senats keine genaue Überprüfung der letztlich auf dem Computer des Zeugen verfälscht, da hinsichtlich der Kontoverbindung manipuliert vorliegenden Rechnung. Die von der Klägerin aufgezeigten Unterschiede zu früheren (Abschlags-)Rechnungen betreffend die Farbe, Angaben zum Geschäftsführer, fehlenden QR-Code der Bankverbindung und fehlendes Siegel stellen geringfügige äußere Abweichungen dar, die weder der Beklagten noch dem Zeugen A. bei oberflächlicher Betrachtung auffallen mussten. Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Beklagte erkannt hat, dass die Kontoverbindung verändert war. Angesichts der Tatsache, dass im Geschäftsleben die Kontoverbindung eines Unternehmens aus diversen Gründen geändert wird, kann einer privaten Kundin wie der Beklagten nicht vorgeworfen werden, dass sie vor der Überweisung des offenen Werklohns keine Rücksprache mit der Klägerin genommen hat.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Karlsruhe: Kein Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten nach § 13 Abs. 3 UWG wenn Anspruch innerhalb der Frist zur Unterwerfung verjähren würde

OLG Karlsruhe
Urteil vom 13.11.2024
6 U 38/24

Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass kein Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten nach § 13 Abs. 3 UWG besteht, wenn der Anspruch innerhalb der Frist zur Unterwerfung verjähren würde.

Aus den Entscheidungsgründen:
3. Auch der vom Landgericht zuerkannte Anspruch auf Zahlung einer Kostenpauschale in Höhe von 243,51 € zuzüglich der nach §§ 288, 291 BGB ab Rechtshängigkeit geschuldeten Zinsen ist unbegründet.

a) Ein solcher Anspruch folgt hier nicht aus § 13 Abs. 3 UWG.

aa) Es fehlt schon an den Anspruchsvoraussetzungen nach dieser Vorschrift.

Im Fall einer berechtigten Abmahnung (d.h. einer berechtigten Aufforderung zur Unterlassung, die dem Schuldner Gelegenheit gibt, den Streit durch Abgabe einer mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrten Unterlassungsverpflichtung beizulegen, § 13 Abs. 1 UWG), kann der Abmahnende nach § 13 Abs. 3 UWG vom Abgemahnten Ersatz der erforderlichen Aufwendungen verlangen, wenn die Abmahnung den Anforderungen nach § 13 Abs. 2 UWG entspricht. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

(1) Die Abmahnung konnte sich zwar auf einen Verletzungsunterlassungsanspruch nach § 8 Abs. 1 Satz 1 UWG stützen, der dem Kläger gegen den Beklagten wie ausgeführt zusteht (deren Erfüllung der Beklagte aber inzwischen wegen Verjährung verweigern darf).

(2) Sie hielt auch die Anforderungen nach § 13 Abs. 2 UWG ein, was der Beklagte nicht in Abrede stellt.

(3) Unerheblich ist in diesem Zusammenhang der Einwand des Beklagten, der Kläger habe eine zu kurze Frist gesetzt; die Abmahnung entfaltet unabhängig davon ihre rechtliche Wirkung, zumal lediglich statt einer unangemessen kurzen Frist eine angemessene Frist in Lauf gesetzt würde (vgl. Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 22 unter Hinweis auf u.a. BGH, GRUR 1990, 381, 382 - Antwortpflicht des Abgemahnten).

(4) Die beanspruchte Kostenpauschale entspricht auch der Höhe nach den Aufwendungen, die im Sinn von § 13 Abs. 1 UWG bei einer berechtigten Abmahnung erforderlich für den Kläger sind. Auch dies wird vom Beklagten nicht bezweifelt. Der Kläger hat unter Bezugnahme auf die substantiierten tatsächlichen Ausführungen der Abmahnung (Anlage K 3, dort S. 3) unwidersprochen dargelegt, dass die geltend gemachte Pauschale dem durchschnittlichen Personalkostenaufwand entspricht, der ihm bei selbst verfassten Abmahnungen in der Höhe entstehen würde.

(5) Die Abmahnung erweist sich aber schon deshalb als im Ergebnis nicht berechtigt, weil bei der Abmahnung feststand, dass der Unterlassungsanspruch verjähren würde, bevor die eingeräumte Frist zur Unterwerfung endet.

(a) Allein der Umstand, dass der Unterlassungsanspruch im Zeitpunkt der darüber zu treffenden gerichtlichen Entscheidung wegen Verjährung nicht (mehr) durchsetzbar ist, mag allerdings entgegen der Ansicht des Beklagten nicht dazu führen, dass die Kostenerstattungsforderung nicht (mehr) durchzusetzen wäre. Eine solche Akzessorietät zwischen nachträglichem Verjährungseintritt des Unterlassungsanspruchs und der Kostenerstattungsforderung besteht möglicherweise nicht.

(aa) Der Anspruch nach § 13 Abs. 3 UWG ist allein auf die geschehene Zuwiderhandlung, den deshalb bei Abmahnung bestehenden Unterlassungsanspruch und die daran geknüpfte Abmahnung gestützt. Der Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten hängt namentlich davon ab, ob die Abmahnung berechtigt ist. Soweit dies insbesondere vom Bestehen des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs abhängt (vgl. nur BGH, GRUR 2016, 412 Rn. 11 mwN - lernstark; jurisPK-UWG/Spoenle, 5. Aufl., § 13 Rn. 35), ist der Erstattungsanspruch kein im Verhältnis dazu unselbstständiger Nebenanspruch, der als solcher das Schicksal des Hauptanspruchs teilt. Der Anspruch ist nur insofern unselbstständig, als er dann nicht entsteht, wenn im Zeitpunkt des Zugangs der Abmahnung kein Unterlassungsanspruch (mehr) besteht und die Abmahnung daher unberechtigt ist. Der beim Vorliegen eines Unterlassungsanspruchs im Zeitpunkt der Abmahnung entstandene Erstattungsanspruch besteht dagegen alsdann unabhängig davon fort, ob der mit der Abmahnung geltend gemachte Unterlassungsanspruch fortbesteht, durch die Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung erloschen ist oder der späteren gerichtlichen Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs die Rechtsmissbräuchlichkeit der Klage entgegensteht (vgl. BGH, GRUR 2021, 752 Rn. 32 ff - Berechtigte Gegenabmahnung; GRUR 2022, 658 Rn. 12 - Selbstständiger Erstattungsanspruch).

(bb) Insbesondere mag der Zahlungsanspruch nach § 13 Abs. 3 UWG daher gegebenenfalls mit Erfolg auch noch geltend gemacht werden, wenn der Unterlassungsanspruch verjährt, nachdem die Abmahnung ausgesprochen wurde.

Der Beklagte stützt seine abweichende Auffassung zu Unrecht auf die – allerdings mindestens im Ergebnis zutreffende – Kommentierung von Bornkamm/Feddersen (in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 103), wonach die Abmahnung aufgrund eines nach § 11 UWG verjährten, mithin (nur) einredebehafteten Unterlassungsanspruchs im Sinn von § 13 Abs. 3 UWG berechtigt sein könne, solange die Verjährungseinrede nicht erhoben sei, aber als von Anfang an unberechtigt zu behandeln sei, sobald der Schuldner die Verjährungseinrede erhebe, mit der Folge, dass ein Ersatzanspruch nach § 13 Abs. 3 UWG dann nicht (mehr) bestehe (ebenso MünchKomm UWG/Ottofülling, 3. Aufl., § 13 Rn. 266, 269 mwN; im Ergebnis dahin neigend BeckOK-UWG/Scholz, Stand Juli 2024, § 13 Rn. 135; siehe auch Senat, Urteil vom 12. Oktober 1983 - 6 U 250/82, WRP 1984, 100, 102, zu § 683 BGB). Diese Auffassung betrifft einen bereits im Abmahnzeitpunkt verjährten Unterlassungsanspruch. Sie enthält keine Aussage dazu, welche Auswirkungen eine erst nach Zugang der Abmahnung eingetretene Verjährung des Unterlassungsanspruchs auf den Ersatzanspruch nach § 13 Abs. 3 UWG hat. Die angeführte Kommentierung (Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 104) teilt im Übrigen gerade die Auffassung des Bundesgerichtshofs, dass der Kostenerstattungsanspruch nicht davon abhängt, ob der Unterlassungsanspruch nach Zugang der Abmahnung entfällt.

Jedenfalls unter dem in der vom Beklagten angeführten Literaturstelle angesprochenen Gesichtspunkt, dass es an der Berechtigung der Abmahnung, die nach Verjährung des Unterlassungsanspruchs erfolgt (also zugeht, s.o.), zumindest dann (rückwirkend) fehlt, wenn die Verjährungseinrede anschließend erhoben wird (Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 103), erweist sich die vorliegende Abmahnung nicht als unberechtigt. Umstände, wonach der damit geltend gemachte Verletzungsunterlassungsanspruch schon bei Zugang der Abmahnung am 24. Mai 2023 verjährt gewesen wäre, sind nicht vorgetragen. Der Beklagte behauptet keinen konkreten Zeitpunkt der Kenntnis des Klägers vor Ende November 2022 oder gar vor dem 24. November 2023. Für eine dahingehende Mutmaßung lägen auch keine greifbaren Anhaltspunkte vor, zumal S mit E-Mail vom letztgenannten Tag die – offenbar noch ausstehende – Einschaltung einer Verbraucherschutzeinrichtung angedroht hat.

(cc) Eine andere Frage ist in diesem Zusammenhang indes, ob die Verjährungsfrist betreffend den Kostenerstattungsanspruch selbst zwischenzeitlich abgelaufen ist. Allerdings beginnt auch diese nicht etwa gleichzeitig mit der Verjährungsfrist für den Unterlassungsanspruch schon mit Kenntnis von der Zuwiderhandlung (vgl. nur BeckOK-UWG/Scholz, Stand Juli 2024, § 13 Rn. 136; aA Ungewitter, GRUR 2012, 697, 698 f; Teplitzky/Bacher, Wettbewerbsrechtliche Ansprüche und Verfahren, 13. Aufl., Kap. 41 Rn. 166). Nach der eindeutigen gesetzlichen Regelung in §§ 194 ff BGB und § 11 Abs. 1 UWG beträgt die Verjährungsfrist (auch) bei dem Ersatzanspruch nach § 13 Abs. 3 UWG sechs Monate (§ 11 Abs. 1 UWG) und beginnt nach § 11 Abs. 2 Nr. 1 UWG nicht, bevor „der Anspruch“, also der auf Verjährung zu prüfende Ersatzanspruch entstanden ist. Dieser Ersatzanspruch kann erst mit der Abmahnung entstehen.

(dd) Allerdings wird die Ansicht vertreten, der Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten verjähre – gegebenenfalls schon vor Vollendung der ihn selbst betreffenden Verjährungsfrist – gemäß § 217 BGB mit dem Unterlassungsanspruch, der mit der Abmahnung geltend gemacht wurde, sofern der Schuldner sich nicht vorher unterwerfe (LG Hamburg, Urteil vom 30. Januar 2015 - 324 O 62/14, juris Rn. 55; Ahrens/Bornkamm, Wettbewerbsprozess, 9. Aufl., Kap. 33 Rn. 23 f; wohl auch Ungewitter, GRUR 2012, 697, 698 Fn. 13). Ob dem zu folgen ist, also im Sinn dieser Vorschrift der Anspruch auf Kostenersatz nach §13 Abs. 3 UWG (wie) ein Anspruch auf eine Nebenleistung ist, die von einem als Hauptanspruch anzusehenden Unterlassungsanspruch abhängt und daher mit diesem verjährt, kann hier dahinstehen. Denn aus den nachfolgenden Gründen ist der Ersatzanspruch schon als nicht entstanden anzusehen.

(b) An der Berechtigung der Abmahnung fehlt es jedenfalls entsprechend den allgemeinen Erwägungen der oben zitierten Kommentierung (Bornkamm/Feddersen (in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 103) im Ergebnis unter dem Gesichtspunkt einer Verjährung des Unterlassungsanspruchs. Dies folgt daraus, dass die Verjährung des Unterlassungsanspruchs im Zeitpunkt der Abmahnung nicht nur unmittelbar bevorstand, sondern die dem Beklagten eingeräumte Gelegenheit zur Unterwerfung sich über den Zeitpunkt des Verjährungseintritts hinaus erstreckte.

(aa) Sinn der vorgerichtlichen Abmahnung nach § 13 Abs. 1 Satz 1 UWG ist, dem Schuldner Gelegenheit zu geben, den Streit durch Abgabe einer mit einer angemessenen Vertragsstrafe bewehrten Unterlassungserklärung außergerichtlich beizulegen (vgl. BT-Drucks. 15/1487, S. 25). Die Abmahnung soll dem Schuldner den Weg weisen, wie er den Gläubiger klaglos stellen kann, ohne dass die Kosten eines Gerichtsverfahrens anfallen. Nur wenn die Abmahnung diese Funktion erfüllt, handelt es sich um eine berechtigte Abmahnung im Sinn von § 13 Abs. 3 UWG. Denn der gesetzliche Kostenerstattungsanspruch rechtfertigt sich daraus, dass die Abmahnung auch im Interesse des Schuldners liegt (vgl. BGH, GRUR 2010, 354 Rn. 8 - Kräutertee; Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 99). Insbesondere eine entbehrliche Abmahnung ist in diesem Sinn nicht berechtigt und erlaubt nicht, Kostenerstattung zu verlangen (vgl. Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 13 Rn. 56 ff; 100 f).

(bb) Eine Abmahnung ist dementsprechend nicht berechtigt, wenn eine außergerichtliche Streitbeilegung durch Unterwerfung deshalb – aus Sicht des Gläubigers erkennbar – nicht im Interesse des Schuldners ist und damit vernünftigerweise auch nicht zu rechnen ist, weil im Rahmen der Abmahnung bereits aus Sicht des Schuldners erkennbar feststeht, dass der Schuldner im Fall einer anschließenden gerichtlichen Inanspruchnahme auf Unterlassung nicht zu unterliegen fürchten muss, da dieser wegen bis dahin eigetretener Verjährung nicht mehr durchsetzbar sein würde. Dies gilt namentlich für den Fall, dass der Gläubiger in der Abmahnung eine Frist zur Unterwerfung einräumt, die sich für den Schuldner erkennbar über den unmittelbar bevorstehenden Ablauf der Verjährungsfrist hinaus erstreckt.

Mit einer vor Vollendung der Verjährungsfrist eintretenden Hemmung der Verjährung dadurch, dass der Gläubiger noch vor Ablauf der gesetzten Frist Klage erheben würde, muss der Schuldner dann nicht rechnen. Der Gläubiger kann daher nicht, schon gar nicht redlicherweise darauf hoffen, dass der Schuldner sich schon allein wegen des theoretischen Risikos, dass der Gläubiger doch vor Ablauf der selbst gesetzten Frist Klage erheben könnte, noch vor Ablauf jener Frist und insbesondere der Verjährungsfrist unterwerfen werde. Eine Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens vor Ablauf der mit der Abmahnung gesetzten Frist stünde auch in Widerspruch zu dem Zweck, dem Schuldner Gelegenheit zu geben, den Streit außergerichtlich beizulegen, und würde die Abmahnung als objektiv nutzlos erscheinen lassen. Der Gläubiger kann auch nicht ernsthaft darauf hoffen, dass der Schuldner sich schon allein aus dem Grund unterwirft, einer erst nach Verjährung zu erwartenden Inanspruchnahme zuvorzukommen, die ihm lediglich Aufwendungen verursachen würden, die er vorbehaltlich der fernliegenden Möglichkeit einer gerichtlichen Fehlbeurteilung oder des Risikos der Zahlungsunfähigkeit des Abmahnenden vom – dann wegen Verjährung unterliegenden – Gegner nach § 91 ZPO ersetzt erwarten könnte. Der Unterlassungsgläubiger kann auch vernünftigerweise nicht erwarten, dass der Schuldner die Möglichkeit der Erhebung einer Verjährungseinrede übersieht oder darauf gar bewusst verzichtet. Er kann auch redlicherweise nicht darauf setzen, dass Schuldner mangels sicherer Kenntnis vom genauen Zeitpunkt des Verjährungseintritts die Gefahr sieht, eine – in Wirklichkeit und aus Sicht der besseren Erkenntnis des Gläubigers vor Ablauf der gesetzten Frist eintretende – Verjährung nicht verlässlich geltend machen zu können und deshalb zur Unterwerfung bereit sein wird. In dem Fall, dass eine Frist zur Unterwerfung auf einen Zeitpunkt gesetzt wird, der für den Gläubiger erkennbar nach Verjährungseintritt liegt, unterscheidet sich die Interessenlage daher nicht wesentlich von dem Fall, dass die Verjährung bereits im Zeitpunkt des Zugangs der Abmahnung abgelaufen war.

All dies gilt namentlich dann, wenn – wie hier – die Verjährungseinrede im späteren Unterlassungsprozess auch tatsächlich erhoben wird. Ebenso wie im Fall eines bereits bei Abmahnung verjährten Unterlassungsanspruchs ist die Abmahnung dann als (gegebenenfalls rückwirkend) unberechtigt anzusehen.

(cc) So liegen die Dinge hier. Der Kläger hat dem Beklagten nämlich zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung eine Frist bis zum 5. Juni 2023 eingeräumt. Wie ausgeführt stand bei der hier festzustellenden Kenntnis des Klägers von den den Unterlassungsanspruch begründenden Umständen spätestens Ende November 2022 objektiv fest, dass die Verjährungsfrist dafür mit dem 30. Mai 2022 enden würde. Er musste auch damit rechnen, dass der Beklagte erkennen oder zumindest vermuten würde, dass der Kläger noch im November 2022, jedenfalls aber mehr als sechs Monate vor Ablauf der gesetzten Frist die verjährungsauslösende Kenntnis erlangt hat. Der Kläger konnte damit insbesondere nach seinen eigenen Erkenntnissen nicht damit rechnen, dass der Beklagte, der wegen der eingeräumten Frist keine verjährungshemmenden Schritte des Klägers vor objektivem Verjährungseintritt fürchten musste, sich dem Unterlassungsanspruch unterwerfen würde.

bb) Nach alledem kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob ein Ersatzanspruch, wäre er entstanden, verjährt wäre. Dies wäre allerdings – selbst für einen der kurzen Verjährungsfrist von sechs Monaten nach § 11 Abs. 1 UWG unterfallenden Anspruch nach § 13 Abs. 3 UWG – nicht der Fall, weil der Ersatzanspruch jedenfalls nicht vor Versendung der Abmahnung frühestens am 22. Mai 2023 entstanden ist und somit bei der – die Verjährung spätestens seither hemmenden (§ 204 Abs. 1 Nr. 2 BGB) – Klagezustellung im Juli 2023 nicht verjährt war.

b) Aus den zuvor angegebenen Gründen ist auch ein Ersatzanspruch nach §§ 667, 670, 683 Satz 1 BGB wegen berechtigter Geschäftsführung ohne Auftrag nicht entstanden, weil die Abmahnung nicht dem Interesse und dem wirklichen oder dem mutmaßlichen Willen des Beklagten entsprach. Auf die Anwendbarkeit dieser Anspruchsgrundlage neben § 13 Abs. 3 UWG kommt es daher nicht an.

4. Dahinstehen kann, ob im Übrigen dem Verletzungsunterlassungsanspruch und der Kostenersatzforderung ein Unzulässigkeitseinwand nach § 8c UWG wegen Missbrauchs unter dem Gesichtspunkt entgegenstünde, dass der Kläger mit der späten Abmahnung mangelndes Interesse an einer in der Sache erfolgversprechenden Durchsetzung der Unterlassung gezeigt haben könnte.

Wollte man die Geltendmachung des Unterlassungsanspruchs mit der vorliegenden Abmahnung aus diesem Grund für unzulässig erachten, hätte dies allerdings nicht nur zur Folge, dass die Abmahnung nicht berechtigt im Sinn von § 13 Abs. 3 UWG wäre und daher der Erstattungsanspruch auch aus diesem Grund unbegründet wäre (vgl. BGH, GRUR 2019, 199 Rn. 40 mwN - Abmahnaktion II), sondern würde darüber hinaus auch zur Unzulässigkeit der gerichtlichen Geltendmachung desselben Unterlassungsanspruchs führen (vgl. BGHZ 149, 371, 379 - Missbräuchliche Mehrfachabmahnung; BGH, GRUR 2012, 730 Rn. 47 mwN - Bauheizgerät; GRUR 2023, 1116 Rn. 14 mwN - Aminosäurekapseln). Da die Rechtsprüfung vorliegend ergibt, dass der Verletzungsunterlassungsanspruch jedenfalls als unbegründet abzuweisen ist, kann indes die Zulässigkeitsfrage, ob seine gerichtliche Durchsetzung missbräuchlich im Sinn von § 8c Abs. 1 UWG ist, offenbleiben (vgl. BGH, GRUR 1999, 509 - Vorratslücken; Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 42. Aufl., § 8c Rn. 3).


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OLG Karlsruhe: Wettbewerbswidrige Irreführung durch Bewerbung von Globuli mit "radionisch informiert"

OLG Karlsruhe
Urteil vom 19.03.2024
14 U 63/23


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass eine wettbewerbswidrige Irreführung durch Bewerbung von Globuli mit "radionisch informiert" vorliegt.

Aus den Entscheidungsgründen:
bb) Die klägerseits gerügte Produktpräsentation der Globuli „Babytraum Globuli für Ihn“/„Babytraum für den Mann“ und „Babytraum Globuli für Sie“/„Für die Frau“ mit dem Zusatz „radionisch informiert“ ist irreführend im Sinne des § 5 Abs. 1 Nr. 1 UWG a. F., was der Senat aus eigener Sachkunde beurteilen kann.

(1) Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 UWG a. F. handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Eine geschäftliche Handlung ist irreführend, wenn sie unwahre Angaben oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über wesentliche Merkmale der Ware enthält.

Irreführend ist eine Angabe, wenn sie bei den Adressaten eine Vorstellung erzeugt, die mit den wirklichen Verhältnissen nicht im Einklang steht. Maßgeblich ist auch hier das Verständnis der angesprochenen Verkehrskreise (Köhler/Bornkamm/Feddersen/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl. 2023, § 5 Rn. 1.56).

Eine Irreführung des Käufers kann vorliegen, wenn die Etikettierung, die alle Angaben, Kennzeichnungen, Hersteller und Handelsmarken, Abbildungen oder Zeichen umfasst, die sich auf ein Lebensmittel beziehen und auf dessen Verpackung angebracht sind, unwahre, falsche, mehrdeutige, widersprüchliche oder unverständliche Elemente enthält. In bestimmten Fällen kann das Verzeichnis der Zutaten, auch wenn es richtig und vollständig ist, gleichwohl nicht geeignet sein, einen falschen oder missverständlichen Eindruck des Verbrauchers bezüglich der Eigenschaften eines Lebensmittels zu berichtigen, der sich aus den anderen Elementen der Etikettierung dieses Lebensmittels ergibt (OLG Karlsruhe, Urteil vom 21.08.2020 - 4 U 214/18, Rn. 26, juris).

(2) Gemessen hieran stellt sich die gerügte Produktpräsentation in Zusammenschau mit dem Zusatz „radionisch informiert“ als irreführend in diesem Sinne dar. Die Präsentation der Globuli erfolgt in einer Weise, die der durchschnittliche Verbraucher mit homöopathischen Mitteln assoziiert, worauf auch der Zusatz „radionisch informiert“ verweist. Dies erweckt bei den angesprochenen Verkehrskreisen den Eindruck, dass es sich hierbei nicht nur um reine Zuckerkügelchen handelt. Vielmehr wird durch die Aufmachung und den Textzusatz der Eindruck erweckt, es handle sich um ein (zugelassenes) homöopathisches Mittel zur Steigerung der Zeugungs- bzw. Empfängnisfähigkeit, was nicht der Fall ist. Zwar wird vorliegend offengelassen, womit genau die Globuli „radionisch informiert“ sein sollen bzw. was der Inhalt dieser „Information“ sein soll. Die Präsentation der Globuli enthält auch kein klares Wirkversprechen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der durchschnittliche Verbraucher aufgrund der Aufmachung und Präsentation mehr als reinen Zucker erwartet, worum es sich hier aber handelt. Denn wie auf die Globuli „radionische Informationen“ (welchen Inhalts auch immer) - also etwas, was die Globuli von schlichtem Zucker unterscheiden könnte - aufgebracht worden sein sollen, wird beklagtenseits schon nicht hinreichend dargelegt (vgl. hierzu auch OLG Celle, Beschluss vom 22.08.2022 - 13 U 18/22, Rn. 55, juris).


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OLG Karlsruhe: Kein Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten wenn entgegen § 13 Abs. 2 Nr. 3 UWG in der Abmahnung die Berechnung der Abmahnkosten fehlt

OLG Karlsruhe
Urteil vom 10.01.2024
6 U 28/23


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass kein Anspruch auf Erstattung von Abmahnkosten besteht, wenn entgegen § 13 Abs. 2 Nr. 3 UWG in der Abmahnung die Berechnung der Abmahnkosten fehlt.

Aus den Entscheidungsgründen:
Auf die Berufung ist hingegen die Verurteilung der Beklagten zur Zahlung zu beseitigen und die Klage insoweit abzuweisen. Denn der vom Landgericht zugesprochene Anspruch auf Erstattung von Kosten ist unbegründet.

Es fehlt an den Voraussetzungen, von denen ein Anspruch nach § 13 Abs. 3 UWG mit Blick auf Anforderungen an die ihm zugrunde gelegte Abmahnung abhängt. Insoweit können die Anspruchsvoraussetzungen im Streitfall auch nicht durch Zubilligung eines Anspruchs nach der vom Kläger ergänzend angeführten Vorschrift in § 9 UWG oder nach §§ 670, 677, 683 Satz 1 BGB unterlaufen werden (vgl. BT-Drucks. 19/12084, S. 32; Sosnitza in Ohly/Sosnitza, UWG, 8. Aufl., § 13 Rn. 47), zumal ein ersatzfähiger Schaden oder eine ersatzfähige Aufwendung nur den Kosten solcher Maßnahmen liegen könnten, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung erforderlich waren (siehe BGH, GRUR 2011, 754 Rn. 15 ff - Kosten des Patentanwalts II), was auf eine die gesetzlichen Anforderungen verfehlende Abmahnung nicht zutrifft.

a) Nach § 13 Abs. 3 UWG kann der Abmahnende vom Abgemahnten Ersatz der erforderlichen Aufwendungen nicht schon dann verlangen, wenn und soweit die Abmahnung berechtigt ist; Voraussetzung des Ersatzanspruchs ist nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut zudem, dass die Abmahnung den Anforderungen des § 13 Abs. 2 UWG entspricht (Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 13 Rn. 99; MünchKommUWG/Schlingloff, 3. Aufl., UWG § 13 Rn. 241; Sosnitza in Ohly/Sosnitza, UWG, 8. Aufl., § 13 Rn. 47).


b) Entgegen der Ansicht der Beklagten verfehlt die Abmahnung allerdings nicht die Anforderungen an die Angaben zu Name oder Firma des Abmahnenden nach § 13 Abs. 2 Nr. 1 UWG. Ob dazu auch im Allgemeinen die Angabe der Anschrift des Abmahnenden gehört, kann dahinstehen. Sie war jedenfalls im Streitfall zur Angabe des Namens oder der Firma des Abmahnenden nicht erforderlich, der aus Sicht der früher bei diesem beschäftigten Beklagten zweifelsfrei identifiziert war. Abgesehen davon, dass der Beklagten aus dem früheren beruflichen Verhältnis zum Kläger zudem dessen Anschrift des Klägers bekannt gewesen sein musste, war dieser auf die Abmahnung hin über dessen in der Abmahnung mit Anschrift genannten Bevollmächtigten erreichbar.

c) Die Abmahnung war auch entgegen der Ansicht der Beklagten nicht unzureichend, soweit nach § 13 Abs. 2 Nr. 2 UWG die Voraussetzungen der Anspruchsberechtigung nach § 8 Abs. 3 UWG anzugeben sind. Diese ergaben sich ohnehin für jedermann klar und verständlich aus der Information im Abmahnschreiben, der Abmahnende sei Inhaber des Friseurbetriebs […] in […], wo er die typischen Dienstleistungen des Friseurhandwerks anbiete. Erst recht waren weitere Angaben nicht gegenüber der Beklagten erforderlich, der die geschäftliche handwerkliche Tätigkeit des Klägers aus ihrer früheren Beschäftigung zudem näher bekannt war.

d) Die Abmahnung ist auch nicht mit Blick auf die Anforderungen an die Bezeichnung der Rechtsverletzung unter Angabe der tatsächlichen Umstände (§ 13 Abs. 2 Nr. 4 UWG) und die im Abmahnschreiben des Klägers erhobene Unterlassungsforderung ungeeignet, einen Anspruch auf Kostenerstattung zu begründen.

Erforderlich ist (nur), den Sachverhalt, der den Vorwurf rechtswidrigen Verhaltens begründen soll, genau anzugeben und den darin erblickten Verstoß so klar und eindeutig zu bezeichnen, dass der Abgemahnte die gebotenen Folgerungen ziehen kann (vgl. BGH, GRUR 2021, 752 Rn. 26 mwN - Berechtigte Gegenabmahnung). Der Abmahnende muss daher (nur) die begangene Verletzungshandlung in tatsächlicher Hinsicht so detailliert schildern, dass dem Abgemahnten deutlich wird, was der Abmahnende konkret beanstandet und was der Abgemahnte abstellen oder künftig unterlassen soll (BGH, GRUR 2021, 752 Rn. 26 mwN - Berechtigte Gegenabmahnung). Dem genügen die Darlegungen des Abmahnschreibens dazu, welches Verhalten beanstandet wurde. Dazu wies die Abmahnung im Übrigen im Kern rechtlich zutreffend auf die „marktverhaltensregelnden Normen“ zur Ausübung des Friseurhandwerks im stehenden Gewerbe und die Kriterien zur Abgrenzung vom Reisegewerbe hin, beanstandete (als die abgemahnte Handlung), dass die Beklagte im Internet herausstelle, dass sich Interessierte unter Zuhilfenahme der vorgegebenen Angaben an sie wenden sollten, um sie mit der Leistungserbringung zu beauftragen, und verlangte, dass die Beklagte sich stattdessen vielmehr werbemäßig an die Vorgaben des Reisegewerbes halten müsse. Dass die Abmahnung das beanstandete Verhalten rechtlich unzutreffend als Irreführung im Sinn von § 5 UWG durch Umgehung der Berufsausübungsregeln des Reisegewerbes einordnete, kennzeichnete die geltend gemachte Verletzungshandlung nicht und steht der Erfüllung der Anforderungen an eine ordnungsgemäße Abmahnung nicht entgegen.

Die Abmahnung war dabei auch nicht etwa deshalb (teilweise) unberechtigt, weil die darin für die Beklagte vorformulierte Unterlassungserklärung zu weit gefasst war. Eine Abmahnung ist zwar nur berechtigt, wenn sie dem Schuldner den Weg weist, wie er sich zu verhalten hat, damit ein Prozess vermieden wird. Dementsprechend muss die Abmahnung die Aufforderung zur Abgabe einer strafbewehrten Unterlassungserklärung enthalten. Es ist aber unschädlich, wenn der Gläubiger mit der von ihm vorgeschlagenen Unterwerfungserklärung mehr fordert, als ihm zusteht; denn es ist Sache des Schuldners, aufgrund der Abmahnung die zur Beseitigung der Wiederholungsgefahr erforderliche Erklärung abzugeben (BGH, GRUR 2019, 82 Rn. 35 mwN - Jogginghosen). Da die vorgeschlagene Unterlassungsverpflichtung eher sprachlich missglückt scheint, als dass sie offensichtlich über die abgemahnte Rechtsverletzung hinausginge, ist auch kein Ausschluss von Ansprüchen wegen Rechtsmittbrauchs nach § 8c Abs. 1, 2 Nr. 5, Abs. 5 UWG zu erkennen.

d) Zu den Inhalten der Abmahnung, die für einen Erstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 UWG erforderlich sind, gehört aber nach § 13 Abs. 2 Nr. 3 UWG auch, dass in der Abmahnung klar und verständlich angegeben wird, ob und in welcher Höhe ein Aufwendungsersatzanspruch geltend gemacht wird und wie sich dieser berechnet. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt.

aa) Die Abmahnung gibt zwar – entgegen der Rüge der Berufung – eine Höhe des geltend gemachten Aufwendungsersatzanspruchs und deren Einforderung an.

bb) Sie genügt aber nicht der Anforderung, diese Angabe klar und verständlich zu machen und dabei anzugeben, wie sich der Aufwendungsersatzanspruch berechnet. Die Abmahnung gibt nur an, die zu erstattenden Kosten machten aufgrund eines Streitwerts von 10.000 € einen Betrag von 1.192,86 € aus. Sie gibt weder an, welche Art von Gebühr(en) und welcher Gebührensatz der Berechnung zugrunde liegen, noch ob in dem geforderten Betrag Umsatzsteuer enthalten ist.

Dabei kann dahinstehen, ob eine Angabe des geforderten Betrags in Verbindung mit einer Angabe des Gegenstandswerts genügt, wenn der Abgemahnte aus diesen Angaben durch eigene Rück- oder Proberechnung erschließen kann, dass eine der Kostenforderung eine – regelmäßig angesetzte – 1,3-fachen Geschäftsgebühr gemäß Nr. 2300 VV-RVG bei nebst Pauschale für Entgelte für Post- und Telekommunikationsdienstleistungen in Höhe von 20 % der Gebühren, höchstens 20 € zugrundeliegt, wobei sich aus dem angegeben Kostenbetrag ferner erschließen lässt, ob diese mit oder ohne Umsatzsteuer erstattet verlangt wird (siehe aber etwa MünchKommUWG/Schlingloff, 3. Aufl., UWG § 13 Rn. 255). Dies ist im Streitfall nämlich ebenso wenig möglich wie sonstige Berechnungen zur Feststellung, welche Parameter zu dem in der Abmahnung genannten Kostenbetrag führen konnten. Bei dem angegebenen Streitwert von 10.000 € würden sich Gebühren in Höhe einer 1,3-fachen Geschäftsgebühr und einer Pauschale von 20 € selbst zuzüglich Umsatzsteuer lediglich auf 973,66 € belaufen. Es ist der Abmahnung nicht zu entnehmen, welche anderen (höheren) Ansätze eines Streitwerts und/oder Gebührensatzes mit oder ohne Umsatzsteuer zu dem von der Abmahnung genannten Betrag geführt haben könnten.

cc) Ob der Kläger seine – nun abweichend bezifferte – Klageforderung mit der darauf gerichteten Klageerweiterung vom 17. August 2022 (AS I 18) hinreichend erläutert hat, kann dahinstehen. § 13 Abs. 2 Nr. 3 UWG verlangt ausreichenden Angaben gerade in der Abmahnung. Eine nachvollziehbare Kostenberechnung in einer späteren Klagebegründung genügt zumindest nach den Umständen des Streitfalls nicht, um einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Abmahnung (nachträglich) zu begründen.

Es kann offenbleiben, ob eine Heilung formaler Verstöße gegen § 13 Abs. 2 UWG ausnahmsweise möglich ist und dann auch zur Wahrung des Aufwendungsersatzanspruchs nach § 13 Abs. 3 UWG führt, solange dem Abgemahnten noch keine Aufwendungen für die Rechtsberatung oder -verteidigung entstanden sind (so Sosnitza in Ohly/Sosnitza, UWG, 8. Aufl., § 13 Rn. 59 unter Hinweis auf BT-Drucks. 19/12084 S. 33; siehe auch Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 41. Aufl., § 13 Rn. 93a). Eine Heilung dadurch, dass die in § 13 Abs. 2 UWG aufgezählten Informationen vom Abmahnenden nachgereicht werden, wurde in der Begründung des Gesetzesentwurfs ohnehin nur im Hinblick auf die Grundlage für einen Gegenanspruch des Abgemahnten in Betracht gezogen und dort jedenfalls nicht für möglich gehalten, wenn die Informationen erst in einem Gerichtsverfahren nachgereicht werden (BT-Drucks. 19/12084 S. 33).

Im Übrigen hat der Kläger auch mit der Klageerweiterung keine Informationen dazu gegeben, die den im Abmahnschreiben geforderten Betrag nachvollziehen ließen, und zudem nicht angegeben, ob er die (außergerichtliche) Forderung in der im Abmahnschreiben angegebenen Höhe aufrechterhält. Letzteres scheint insbesondere deshalb unklar, weil der Kläger sich bei der Klageerweiterung ausdrücklich insbesondere die Geltendmachung weitergehender Schadensersatzansprüche vorbehalten hat. Daher lässt sich eine Heilung auch nicht damit rechtfertigen, dass die Beklagte außergerichtlich und bis zur (erst nach der Klageerweiterung) erfolgten Verteidigungsanzeige möglicherweise noch keinen Rechtsanwalt beauftragt haben mag und eine Kostenfolge womöglich durch sofortiges Anerkenntnis gemäß § 93 ZPO hätte vermeiden können. Im Übrigen wären ihr auch für ein Anerkenntnis im vorliegenden Anwaltsprozess vor dem Landgericht Rechtsverteidigungskosten entstanden und hätten darauf beruht, dass der Kläger seine Forderung erst im Prozess nachvollziehbar dargelegt hat. Die Beklagte hätte allenfalls einen Erstattungsanspruch gegen den Kläger gehabt und somit dessen Insolvenzrisiko getragen. Schon deshalb ist die Annahme einer allenfalls in engen Grenzen möglichen Heilung des Verstoßes der Abmahnung gegen § 13 Abs. 2 Nr. 3 UWG nicht gerechtfertigt. Denn der Grund dafür, dass nach § 13 Abs. 3 UWG schon bloße formale Verstöße gegen § 13 Abs. 2 UWG zum Nachteil des Abgemahnten führen sollen, liegt darin, den Abmahnenden dazu anzuhalten, die Abmahnung formal sorgfältig zu gestalten, um nicht durch fehlende Angaben (vermeidbare) Kosten bei dem Abgemahnten zu verursachen (vgl. BT-Drucks. 19/12084, S. 33). Eine unzureichende Angabe des Kostenerstattungsanspruchs ist geeignet, den Abgemahnten von der außergerichtlichen Erfüllung abzuhalten und dazu zu veranlassen, das damit einhergehende Risiko einer mit Kostenaufwand verbundenen gerichtlichen Inanspruchnahme einzugehen.

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OLG Karlsruhe: Für immateriellen Schadensersatz aus Art. 82 DSGVO bei einem Datenleck muss ein konkreter kausaler Schaden als Folge der Rechtsverletzung nachgewiesen werden

OLG Karlsruhe
Urteil vom 07.11.2023
19 U 23/23


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass für einen immateriellen Schadensersatz aus Art. 82 DSGVO bei einem Datenleck ein konkreter kausaler Schaden als Folge der Rechtsverletzung nachgewiesen werden muss.

Leitsätze des Gerichts:
1. Im Fall einer geltend gemachten Verletzung der Grundrechte auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh und auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh reicht bereits die Möglichkeit des Eintritts eines Schadens für die Annahme eines Feststellungsinteresses aus.

2. Das Vorliegen eines „Verstoßes gegen diese Verordnung“ im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DSGVO erfordert nicht mehr als die „unbefugte Offenlegung“ von oder den „unbefugten Zugang“ zu personenbezogenen Daten im Sinne von Art. 4 Nr. 12 DSGVO.

3. Ein potentieller oder hypothetischer Schaden oder die bloße Beunruhigung wegen des Diebstahls der eigenen personenbezogenen Daten reicht für das Vorliegen eines immateriellen Schadens im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DS-GVO nicht aus.

4. Stellt sich der geltend gemachte immaterielle Schaden als Folge der Rechtsgutsverletzung in Gestalt der Verletzung der Grundrechte der betroffenen Person auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 GRCh und auf Schutz personenbezogener Daten aus Art. 8 GRCh dar (Sekundärschaden), ist das Beweismaß des § 287 ZPO anzuwenden.

5. Die betroffene Person muss nachweisen, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen dem Verstoß gegen die Verordnung im Sinne von Art. 82 Abs. 1 DSGVO und dem ihr entstandenen Schaden besteht.

6. Gem. Art. 82 Abs. 3 DSGVO reicht jedes fahrlässige (Mit-)Verschulden oder Versehen des Verantwortlichen aus, um die Anwendung der Befreiung auszuschließen. Dabei stellt indes nicht schon das Vorliegen einer Systemverletzung einen Beweis dafür dar, dass die von der verantwortlichen Person ergriffenen Maßnahmen nicht im Sinne von Art. 32 DSGVO geeignet waren.

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OLG Karlsruhe: Fernsehbeitrag „MAKE BORIS R!CH AGAIN“ von Oliver Pocher verletzt allgemeines Persönlichkeitsrecht von Boris Becker

OLG Karlsruhe
Urteil vom 28.11.2023
14 U 620/22


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass der Fernsehbeitrag „MAKE BORIS R!CH AGAIN“ von Oliver Pocher das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Boris Becker verletzt.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Berufungssache Becker gegen Pocher – Oberlandesgericht Karlsruhe untersagt die Veröffentlichung von Bildsequenzen aus der Sendung „Pocher – gefährlich ehrlich“

Anlass der zivilrechtlichen Streitigkeit zwischen dem Kläger (Boris Becker) und dem Beklagten (Oliver Pocher) ist ein am 29.10.2020 ausgestrahlter etwa 15-minütiger Beitrag in der vom Beklagten moderierten RTL-Fernsehsendung „Pocher – gefährlich ehrlich“. In dem Beitrag wird dem Kläger ein „Fake“-Modepreis („Fashion Brand Award“) einer frei erfundenen Zeitschrift für eine vom Kläger betriebene Modelinie verliehen.

Der Kläger sieht durch die Verwendung der durch Täuschung erlangten Videoaufnahmen sein Persönlichkeitsrecht verletzt und hatte den Beklagten beim Landgericht Offenburg auf Unterlassung der Verbreitung sowie auf Löschung der aufgezeichneten Film- und Bildaufnahmen in Anspruch genommen.

Das Landgericht hatte die Klage mit Urteil vom 15. November 2022 abgewiesen, weil im konkreten Fall die Meinungs- und Rundfunkfreiheit, auf die sich der Beklagte berufen könne, gegenüber dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Klägers Vorrang genieße.

Der Kläger hatte gegen dieses Urteil beim Oberlandesgericht Karlsruhe Berufung eingelegt und hat durch ein heute verkündetes Urteil Recht bekommen. Dem Beklagten ist es nun untersagt, die strittigen Bildsequenzen weiterhin zu verbreiten. Außerdem muss er die Bildsequenzen löschen, soweit sie im Rahmen seiner eigenen Internetpräsenz veröffentlicht sind.

Zur Begründung seiner Entscheidung hat der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts ausgeführt, dass keine wirksame Einwilligung des Klägers zur Verwendung der angefertigten Bildsequenzen vorgelegen habe, weil der Kläger vom Beklagten bewusst über den Zweck der Aufnahmen getäuscht worden sei. Während dem Kläger vorgespiegelt worden sei, einen ernst gemeinten, echten Preis für sein Modelabel zu erhalten, habe der tatsächliche Zweck darin bestanden vorzuführen, wie der Kläger ohne sein Wissen zur Annahme einer in die Trophäe eingearbeiteten „Spendensumme“ veranlasst wird.

Eine Verwendung der Bildsequenzen ohne Einwilligung des Klägers wäre nur dann gerechtfertigt, wenn die strittigen Aufnahmen dem Bereich der „Zeitgeschichte“ zuzuordnen wären. Dies sei – nach einer Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Klägers und der Meinungs- und Rundfunkfreiheit des Beklagten – allerdings nicht anzunehmen.

Zwar sei bei Ausstrahlung der Sendung aufgrund des Insolvenzverfahrens und der Berichte über die strafrechtlichen Ermittlungen das öffentliche Interesse an der persönlichen und wirtschaftlichen Situation des Klägers erheblich gewesen. Dieses Informationsinteresse habe jedoch nicht dazu geführt, dass der Kläger jede Form der Verwendung seines Bildes – gleich, auf welche Weise es gewonnen wurde – habe hinnehmen müssen. Die Herstellung und Präsentation der Bildsequenzen sei durch die breit vom Beklagten in den Vordergrund gestellte Täuschung des Klägers geprägt gewesen. Der Kläger sei durch die Täuschung zu einem Objekt degradiert und zugleich dahingehend manipuliert worden, aktiv daran mitzuwirken, seine eigene Person ins Lächerliche zu ziehen. Da sich der Sendungsinhalt zudem nur ganz am Rande mit der Insolvenz und ihrer Folgen für den Kläger befasst habe, müsse dem Persönlichkeitsrecht des Klägers der Vorrang eingeräumt werden.

Der Senat hat keine Revision gegen sein Urteil zugelassen. Dennoch ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. Binnen eines Monats könnte beim Bundesgerichtshof Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegt werden.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Zivilsenate in Freiburg, Urteil vom 28.11.2023, Aktenzeichen: 14 U 620/22



OLG Karlsruhe: Unzureichende Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit dem Versand geschäftlicher E-Mails können Schadensersatzansprüche auslösen

OLG Karlsruhe
Urteil vom 27.07.2023
19 U 83/22


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass unzureichende Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit dem Versand geschäftlicher E-Mails Schadensersatzansprüche auslösen können.

Leitsätze des Gerichts:
1. Mangels gesetzlicher Vorgaben für Sicherheitsvorkehrungen beim Versand von E-Mails im geschäftlichen Verkehr bestimmen sich Art und Umfang der erforderlichen Sicherheitsvorkehrungen, soweit hierzu von den Parteien keine ausdrückliche Vereinbarung getroffen wurde, nach den berechtigten Sicherheitserwartungen des maßgeblichen Verkehrs unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit.

2. Verstößt der Gläubiger einer Geldforderung gegen von ihm geschuldete Sicherheitsvorkehrungen im Zusammenhang mit dem Versand einer geschäftlichen E-Mail und hat dieser Verstoß zur Folge, dass der Schuldner der Forderung den geschuldeten Geldbetrag auf das Konto eines deliktisch handelnden Dritten überweist, führt dies nicht zum Erlöschen der Forderung gem. § 362 BGB, sondern begründet allenfalls einen Schadensersatzanspruch des Schuldners, den dieser gem. § 242 BGB der Forderung entgegenhalten kann (dolo-agit-Einwendung).

Aus den Entscheidungsgründen:
Die Berufung der Klägerin ist begründet. Die Klägerin hat gegen die Beklagte gem. § 433 Abs. 2 BGB einen Anspruch auf Kaufpreiszahlung in Höhe von 13.500 EUR, gem. § 280 Abs. 2, § 286 BGB auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 953,40 EUR und gem. §§ 286, 288 BGB auf Zahlung der zugesprochenen Verzugszinsen.

1. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass sie einen Kaufvertrag über einen gebrauchten Pkw zum Preis von 13.500 EUR abgeschlossen haben und dass eine Zahlung dieses Betrages auf das Konto eines Dritten erfolgt ist. Durch diese Zahlung ist indes der Anspruch der Klägerin auf Kaufpreiszahlung nicht gem. § 362 BGB erloschen.

a) Eine Leistung an die Klägerin gem. § 362 Abs. 1 BGB ist nicht erfolgt, da es sich bei dem Konto, auf das die Beklagte den Kaufpreis überwiesen hat, um das Konto eines Dritten und nicht der Klägerin handelt und daher der geschuldete Leistungserfolg nicht eingetreten ist. Die gegenteilige Auffassung des Landgerichts ist nicht frei von Rechtsfehlern. Die Voraussetzungen, unter denen eine Leistung an einen Dritten Erfüllungswirkung hat, sind in § 362 Abs. 2 BGB geregelt und liegen hier nicht vor (dazu nachstehend b]).

Eine Zurechnung „des unbefugten Zugriffs des Dritten in Bezug auf die unerlaubte Handlung“ an die Klägerin, wie vom Landgericht angenommen, erfolgt nicht. Soweit das Landgericht insoweit auf eine Entscheidung des I. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (Urteil vom 11. März 2009 - I ZR 114/06, BGHZ 180, 134 Rn. 16) Bezug nimmt, ging es dort um die Frage der deliktischen Haftung für eine Verletzung von Immaterialgüter- und Leistungsschutzrechten; eine bei der Verwahrung der Zugangsdaten für das ebay-Mitgliedskonto dort bejahte Pflichtverletzung wurde als zusätzlicher selbständiger Zurechnungsgrund neben die Grundsätze der Störerhaftung und die Verkehrspflichten im Bereich des Wettbewerbsrechts gestellt (BGH a.a.O.). Vorliegend steht aber nicht eine deliktische Verantwortlichkeit der Klägerin im Streit, sondern die vertragliche Frage der Erfüllungswirkung einer Zahlung an einen Dritten; die für den Bereich der deliktischen Haftung vom I. Zivilsenat entwickelten Grundsätze lassen sich nicht auf die Zurechnung von Erklärungen im Rahmen von vertraglichen Verhältnissen übertragen (vgl. BGH, Urteil vom 11. Mai 2011 - VIII ZR 289/09, BGHZ 189, 346 Rn. 19). Es ist daher ohne Bedeutung, dass im angefochtenen Urteil auch Feststellungen dazu fehlen, inwieweit die vom Landgericht bejahte Pflichtverletzung der Klägerin in Gestalt unterlassener Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, Transportverschlüsselung und Verschlüsselung der als pdf-Datei versandten Rechnung für den Zugang der ge- oder verfälschten Rechnung bei der Beklagten kausal geworden sein soll.

Hätte ein etwaig schuldhaftes Verhalten der Klägerin dazu geführt, dass es dem Dritten ermöglicht wurde, die Rechnung mit veränderten Kontodaten der Beklagten wie geschehen zuzuleiten und die Beklagte so über die von der Klägerin verlangte Zahlung zu täuschen, könnte dies Schadensersatzansprüche der Beklagten wegen Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht gem. § 280 Abs. 1 BGB begründen (vgl. OLG München, Urteil vom 21. Dezember 2016 - 7 U 3206/16, juris Rn. 5, 7 ff.; so im Übrigen auch das von der Beklagten im Rechtsstreit in Bezug genommene Urteil des LG Lüneburg [n.v.] vom 16. Februar 2017 - 7 O 71/16, Seite 4 f.; zum Schadensersatzanspruch siehe nachstehend 2.), führte aber nicht dazu, dass eine nicht vorliegende Leistung an die Klägerin zu fingieren wäre.

b) Die Leistung an einen Dritten hat nur unter den Voraussetzungen des § 362 Abs. 2 BGB befreiende Wirkung, die im Streitfall nicht erfüllt sind.

Unter anderem hat die Leistung an einen Dritten dann befreiende Wirkung, wenn dieser vom Gläubiger rechtsgeschäftlich ermächtigt ist, die Leistung im eigenen Namen in Empfang zu nehmen. Statt einen Dritten zum Empfang der Leistung zu ermächtigen (§ 362 Abs. 2, § 185 BGB), kann der Gläubiger auch dem Schuldner nach § 362 Abs. 2, § 185 BGB die Ermächtigung erteilen, die Leistung an einen Dritten zu erbringen.Die Ermächtigung braucht nicht ausdrücklich erteilt zu werden; schlüssiges Verhalten kann selbst dann genügen, wenn der Ermächtigende kein Erklärungsbewusstsein hat, aber der redliche Empfänger hiervon ausgehen darf. Die Leistung an einen nichtberechtigten Dritten erlangt - von gesetzlich besonders geregelten Fällen (vgl. etwa §§ 169, 370, 407, 408 BGB) abgesehen - nur dann befreiende Wirkung, wenn der Gläubiger sie nachträglich genehmigt oder wenn einer der beiden anderen Fälle des § 185 Abs. 2 BGB eintritt. Dass der Schuldner den Nichtberechtigten gutgläubig für empfangsberechtigt hält, führt also - sofern keine gesetzlichen Sonderregelungen bestehen - allein nicht zum Freiwerden des Schuldners. Vielmehr tritt Erfüllungswirkung in einem solchen Fall erst dann ein, wenn der nicht empfangsbefugte Dritte die Leistung entsprechend den Weisungen des Schuldners an den Gläubiger weiterleitet oder der Gläubiger die Leistungserbringung an den Dritten ausdrücklich oder schlüssig genehmigt (BGH, Urteil vom 14. Februar 2023 - XI ZR 537/21, juris Rn. 29).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Zwischen den Parteien ist unstreitig, dass die um 11:46 Uhr von der Beklagten empfangene zweite E-Mail nebst Anlage tatsächlich nicht von der Klägerin stammt, so dass durch die Angabe des Namens P. D. nebst Bankverbindung bei der S-Bank in der angehängten Rechnung keine Ermächtigung im vorgenannten Sinne erfolgt ist. Eine nachträgliche Genehmigung durch die Klägerin ist ebensowenig erfolgt wie eine Weiterleitung der 13.500 EUR durch den Dritten an die Klägerin.

c) Schließlich ergibt sich auch nicht aus einer entsprechenden Anwendung des § 370 BGB, dass die tatsächlich nicht von der Klägerin stammende zweite E-Mail, in deren Anhang der Inhaber des dort genannten Kontos bei der S-Bank - möglicherweise - als zum Leistungsempfang ermächtigt bezeichnet wird, als tatsächlich ermächtigt gilt mit der Folge, dass die Leistung an diesen Dritten gem. § 362 Abs. 2 BGB zum Erlöschen der Kaufpreisforderung geführt hätte. Das Landgericht missversteht die von ihm nicht wortgetreu zitierte Kommentarstelle (Dennhardt in BeckOK BGB, 66. Edition, § 370 Rn. 1) dahin, dass die Regelung in entsprechender Anwendung eine allgemeine Haftung für die Enttäuschung berechtigten Vertrauens begründe. Tatsächlich ist an der angegebenen Stelle lediglich formuliert, die Vorschrift werde heute allgemein als Ausprägung des Vertrauensschutzes im Rechtsverkehr verstanden.

Bei der streitgegenständlichen Rechnung handelt es sich bereits nicht um eine Quittung im Sinne von § 368 BGB. Selbst wenn man mit dem Landgericht - was sonst, soweit ersichtlich, nirgends vertreten wird - eine entsprechende Anwendung des § 370 BGB auf Rechnungen bejahen wollte, lägen die übrigen Voraussetzungen der Vorschrift nicht vor. Hierzu gehört, dass eine echte Quittung - bzw. Rechnung - überbracht werden muss (vgl. BGH, Urteil vom 5. März 1968 - 1 StR 17/68, juris Rn. 3; BAG, Urteil vom 11. November 1960 - 4 AZR 361/58, juris Rn. 22). Dies war vorliegend nicht der Fall, nachdem die als Anhang zur zweiten E-Mail übersandte Rechnung unstreitig gerade nicht von der Klägerin, sondern von einem Dritten erstellt oder die von der Klägerin zuvor erstellte Rechnung von einem Dritten verfälscht worden war.

2. Die Beklagte hat gegen die Klägerin keinen Schadensersatzanspruch gem. § 280 Abs. 1, § 241 Abs. 2 BGB in einer der auf das Drittkonto getätigten Überweisung von 13.500 EUR entsprechenden Höhe, den sie der Klageforderung unter dem Gesichtspunkt der dolo-agit-Einwendung gem. § 242 BGB entgegenhalten könnte (vgl. zu letzterem OLG München, Urteil vom 21. Dezember 2016 - 7 U 3206/16, juris Rn. 5).

a) Es liegt keine Nebenpflichtverletzung der Klägerin dergestalt vor, dass sie schuldhaft eine Ursache dafür gesetzt hätte, dass der Beklagten im Nachgang zur Übersendung der vorgenannten E-Mail um 10:46 Uhr die zweite E-Mail mit der angehängten ge- oder verfälschten Rechnung zuging, die neben der nach wie vor richtigen Angabe der Bankverbindung der Klägerin im Kopfbereich im Fußzeilenbereich auch die Bankverbindung des P. D. bei der S-Bank auswies. Für den dadurch verursachten Schaden, der darin besteht, dass die Beklagte durch Überweisung auf ein nicht der Klägerin zugeordnetes Konto die Forderung der Klägerin nicht zum Erlöschen bringen konnte (s.o. 1.), schuldet die Klägerin der Beklagten deshalb keinen Schadensersatz.

aa) Die Darlegungs- und ggf. Beweislast für das Vorliegen einer Pflichtverletzung im Sinne des § 280 Abs. 1 BGB sowie für die Kausalität dieser Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden liegt bei der Beklagten als derjenigen, die den Anspruch geltend macht.

bb) Das Vertragsverhältnis der Parteien kam ohne schriftliche Willenserklärung in einem Telefonat der beiden Geschäftsführer zustande. Dementsprechend wurde der Vertrag auch ohne ein Schreiben der Klägerin auf Geschäftspapier mit Angabe der Bankverbindung abgeschlossen. Die Parteien haben nachträglich vereinbart, dass die Zahlung durch Überweisung auf ein von der Klägerin mitzuteilendes Bankkonto erfolgen sollte (E-Mail der Beklagten vom 8. Oktober 2021, 10:15 Uhr, Anlage K 2, und der Klägerin vom 8. Oktober 2021, 10:44 Uhr, Anlage K 3). Die Klägerin traf dabei gem. § 241 Abs. 2 BGB die Nebenpflicht, sich bei der Abwicklung des Schuldverhältnisses so zu verhalten, dass Person, Eigentum und sonstige Rechtsgüter - auch das Vermögen - des anderen Teils nicht verletzt werden (vgl. BGH, Urteil vom 10. März 1983 - III ZR 169/81, juris Rn. 12).

cc) Die Beklagte behauptet, es sei zum Versand der zweiten E-Mail an sie durch einen Dritten dadurch gekommen, dass auf das E-Mail-Konto der Klägerin eine Hacking-Attacke ausgeführt worden sei, die das Ausspionieren der Geschäftsbeziehung der Parteien und der Rechnungs-E-Mail ermöglicht habe. Dies sei durch mangelnde Vorsichtsmaßnahmen der Klägerin ermöglicht worden, wofür ein Anscheinsbeweis spreche; konkret nennt die Beklagte insoweit die nicht erfolgte Verwendung des „sender policy framework (SPF)“ bei der Kommunikation sowie eine unterlassene Verschlüsselung der pdf-Datei. Nach den Ausführungen im angefochtenen Urteil, die die Beklagte sich im Berufungsverfahren zu Eigen gemacht hat, sei der Klägerin vorzuwerfen, dass sie keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung oder Transportverschlüsselung verwendet habe. Die Beklagte macht sinngemäß geltend, die Verwendung der genannten Verfahren sei im Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen wie den Parteien des Rechtsstreits üblich und zu erwarten.

dd) Eine Pflichtverletzung der Klägerin liegt insoweit schon deshalb nicht vor, weil sie zur Verwendung dieser Verfahren und Maßnahmen nicht verpflichtet war.

Konkrete gesetzliche Vorgaben für Sicherheitsvorkehrungen beim Versand von E-Mails im geschäftlichen Verkehr gibt es nicht; insbesondere ist der sachliche Anwendungsbereich der Datenschutz-Grundverordnung im Streitfall nicht eröffnet, da diese nur für die Verarbeitung von Informationen gilt, die sich auf eine natürliche Person beziehen (vgl. Art. 2 Abs. 1, Art. 4 Nr. 1 DS-GVO). Auch eine ausdrückliche Vereinbarung zwischen den Parteien ist insoweit nicht erfolgt; insbesondere hat die Beklagte, von der die Initiative dafür ausging, dass die Rechnung überhaupt per E-Mail verschickt wurde, anlässlich der Äußerung ihrer entsprechenden Bitte in der E-Mail ihres Geschäftsführers vom 8. Oktober 2021, 10:15 Uhr (Anlage K 2) keinerlei Sicherheitsvorkehrungen, die sie für erforderlich halte, ausdrücklich erwähnt. Welches Maß an Sicherheitsvorkehrungen von der Klägerin zu fordern war, bestimmt sich daher nach den berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs unter Berücksichtigung der Zumutbarkeit (vgl. Riem/Meier, MMR 2020, 571, 573).

Nicht maßgeblich für die berechtigten Sicherheitserwartungen des Verkehrs ist dabei die vom Landgericht herangezogene „Orientierungshilfe des Arbeitskreises Technische und organisatorische Datenschutzfragen“. Ausweislich deren Zielstellung dient sie zur Konkretisierung der Vorgaben des Art. 5 Abs. 1 lit. f, Art. 25 und Art. 32 Abs. 1 DS-GVO. Letztere ist aber, wie soeben ausgeführt, im Verhältnis der Parteien zueinander überhaupt nicht anwendbar. Ohnehin wird hierin die Verwendung einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung anders als vom Landgericht dargestellt nicht als stets erforderlich angesehen, sondern sollte „in der Abwägung der notwendigen Maßnahmen berücksichtigt“ werden und wird nur für den Fall, dass „der Bruch der Vertraulichkeit ein hohes Risiko für die Rechte und Freiheiten der betroffenen natürlichen Personen darstellt“, als „Muss“ bezeichnet.

(1) Sender Policy Framework (SPF)

Die Beklagte hält die Klägerin für verpflichtet, das Verfahren Sender Policy Framework (SPF) anzuwenden. Angaben dazu, weshalb dieses Verfahren in der konkreten Geschäftsbeziehung der Parteien bzw. im maßgeblichen Verkehr zu den berechtigten Sicherheitserwartungen zu zählen sein soll, hat die Beklagte dabei schon nicht gemacht.

Laut öffentlich zugänglichen Quellen - die Informationen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (im Folgenden: BSI), abrufbar unter https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Internetsicherheit/isi_mail_server_studie_pdf.pdf?__blob=publicationFile&v=1 - handelt es sich beim Verfahren Sender Policy Framework um ein Verfahren, mit dem geprüft werden kann, ob der sendende E-Mail-Server berechtigt ist, für die Domäne E-Mails zu verschicken. Endnutzer wie die Klägerin, die selbst keinen E-Mail-Server betreiben, haben mithin auf die Verwendung des Verfahrens überhaupt keinen Einfluss. Eine berechtigte Sicherheitserwartung des Verkehrs an ein Unternehmen wie die Klägerin, das seinen E-Mail-Verkehr über einen Diensteanbieter wie hier W. abwickelt, auf Anwendung des SPF-Verfahrens kann schon deshalb nicht bestehen.

(2) Verschlüsselung der pdf-Datei

Dass eine Verschlüsselung von pdf-Dateien im geschäftlichen Verkehr außerhalb des Austauschs besonders sensibler Dateien, die beispielsweise Betriebs- oder Geschäftsgeheimnisse enthalten, üblich wäre, behauptet die Beklagte schon selbst nicht. Auf dieser Grundlage kann nicht angenommen werden, dass insoweit eine berechtigte Sicherheitserwartung des Verkehrs besteht. Hinzu kommt, dass im Fall der Verschlüsselung der Datei Klägerin und Beklagte ein Passwort hierzu hätten austauschen müssen, was nicht geschehen ist. Die Beklagte hatte also bei Erhalt der ge- oder verfälschten Rechnung Kenntnis davon, dass die Datei nicht durch Verschlüsselung gesichert war. Bereits dieser Umstand, dass erkennbar eine derartige Sicherheitsmaßnahme nicht getroffen war, steht der Annahme einer insoweit vorliegenden Pflichtverletzung der Klägerin entgegen.

(3) Ende-zu-Ende-Verschlüsselung

Auch zu diesem Verfahren hat die Beklagte nicht vorgetragen, woraus folgen soll, dass es in der konkreten Geschäftsbeziehung der Parteien bzw. im maßgeblichen Verkehr zu den berechtigten Sicherheitserwartungen zu zählen sein soll. Das BSI empfiehlt zwar für E-Mails die Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, äußert aber gleichzeitig die Einschätzung, dass diese bisher nur sehr selten eingesetzt werde (https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/Verbraucherinnen-und-Verbraucher/Informationen-und-Empfehlungen/Onlinekommunikation/Verschluesselt-kommunizieren/E-Mail-Verschluesselung/E-Mail-Verschluesselung-in-der-Praxis/e-mail-verschluesselung-in-der-praxis_node.html). Dies steht einer entsprechenden allgemeinen Sicherheitserwartung des Verkehrs entgegen und bei den vorliegend versendeten Daten handelt es sich auch nicht um solche, bei deren Versand - wie etwa im Fall von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen - ohne gesonderte Absprache erhöhte Anforderungen zu stellen wären. Hinzu kommt, dass die Verwendung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung nicht vom Versender einer E-Mail allein durchgeführt werden kann. Die Beklagte hat schon nicht vorgetragen, dass ihr eigenes System die Voraussetzungen für den Empfang von Ende-zu-Ende-verschlüsselten Nachrichten erfüllt hätte.

(4) Transportverschlüsselung

Die Beklagte hält die Klägerin schließlich für verpflichtet, das Verfahren der Transportverschlüsselung anzuwenden. Angaben dazu, weshalb dieses Verfahren in der konkreten Geschäftsbeziehung der Parteien bzw. im maßgeblichen Verkehr zu den berechtigten Sicherheitserwartungen zu zählen sein soll, hat die Beklagte allerdings auch insoweit nicht gemacht.

Ausweislich der öffentlich zugänglichen Informationen des BSI handelt es sich bei der Transportverschlüsselung um einen Prozess, bei dem der Inhalt der Übermittlung zwischen Absender und E-Mail-Anbieter, zwischen zwei E-Mail-Anbietern und zwischen E-Mail-Anbieter und Empfänger verschlüsselt wird, wobei dieser automatisiert abläuft und in der Regel keine Aktion des Absenders oder Empfängers erfordert (https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Glossareintraege/DE/T/Transportverschluesselung.html). Die Klägerin hat ihren im erstinstanzlichen Verfahren gehaltenen Vortrag, wonach W. alle Vorkehrungen zum Schutz seiner Kunden, einschließlich der Klägerin, trifft und getroffen hat, im Berufungsverfahren unter Angabe einer URL von W. dahin vertieft, dass bei der Übertragung der E-Mails das sogenannte SSL/TLS-Protokoll zum Einsatz komme. Dabei handele es sich um einen Verschlüsselungsstandard, der die E-Mails auf dem Transportweg sichere. Hierbei handelt es sich um Transportverschlüsselungen der vorstehend beschriebenen Art. Den Angaben von W. ist weiter zu entnehmen, dass die Transportverschlüsselung nur im Verbund der dort genannten Anbieter zur Anwendung kommt, also bei E-Mails, die zwischen E-Mail-Konten dieser Anbieter versendet werden. Die Beklagte, die soweit ersichtlich kein Konto bei einem dieser Anbieter unterhält, sondern einen eigenen Server betreiben lässt, hat weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass eine Transportverschlüsselung an Umständen gescheitert wäre, die in der Sphäre der Klägerin liegen.

Der Berücksichtigung des Vortrags der Klägerin zum Vorhandensein einer Transportverschlüsselung beim Anbieter W. steht zwar zunächst die Tatbestandswirkung des angefochtenen Urteils entgegen (§ 314 ZPO), in dem festgestellt ist, die Klägerin habe keine Transportverschlüsselung verwendet. Der neue Vortrag der Klägerin im Berufungsverfahren ist aber gem. § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zuzulassen, weil er infolge eines Verfahrensmangels in Gestalt eines Gehörsverstoßes des Landgerichts im ersten Rechtszug nicht geltend gemacht wurde. Das Landgericht hätte die Parteien darauf hinweisen müssen, dass es beabsichtige, die „Orientierungshilfe des Arbeitskreises Technische und organisatorische Datenschutzfragen“ zur Bestimmung der die Klägerin beim E-Mail-Versand treffenden Pflichten heranzuziehen und ihnen insoweit Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen. Indem es dies unterlassen hat, hat es den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.

Soweit die Beklagte meint, die Klägerin habe zur Verwendung einer Transportverschlüsselung schon nicht vorgetragen, und derartigen Vortrag „höchstfürsorglich“ mit Nichtwissen bestreitet, ist Folgendes zu berücksichtigen: Soweit eine Partei ihr günstige Tatsachen darzulegen und notfalls zu beweisen hat, nützt ihr das Bestreiten nichts, sondern sie hat die Tatsachen unabhängig davon vorzutragen, ob sie eigene Handlungen betreffen oder Gegenstand ihrer eigenen Wahrnehmung waren (BGH, Urteil vom 8. Juni 1988 - IVb ZR 51/87, juris Rn. 25). Hier trägt die Beklagte, wie ausgeführt, für das Vorliegen einer Pflichtverletzung der Klägerin die Beweislast und damit auch die Darlegungslast. Der zugrundeliegende Vortrag ist daher prozessuales Behaupten, für das § 138 Abs. 4 ZPO nicht gilt (BGH a.a.O.).

(5) Auch andere, von der Beklagten nicht ausdrücklich geltend gemachte Pflichtverletzungen der Klägerin sind nicht ersichtlich. Im unstreitigen Tatbestand des angefochtenen Urteils sind Feststellungen zur Art des von der Klägerin verwendeten Passwortes fürs E-Mail-Konto, dem Personenkreis, der davon Kenntnis hat und deren regelmäßiger Änderung sowie der Nutzung einer aktuellen Virensoftware und Firewall getroffen, die von der Klägerin im Berufungsverfahren - von der Beklagten unbestritten - vertieft wurden und die der Annahme einer Pflichtverletzung im Bereich des Passwortschutzes sowie des allgemeinen Schutzes der von der Klägerin verwendeten Computer entgegenstehen.

(6) Auf welcher Grundlage genau sich das Landgericht Lüneburg (Urteil vom 16. Februar 2017 - 7 O 71/16) - auf dessen unveröffentlichte Entscheidung sich die Beklagte beruft - die Überzeugung gebildet hat, dass die dortige Gläubigerin der Schuldnerin durch nicht hinreichende Sicherung ihrer EDV einen Schaden zugefügt hat, ist dem übersandten Urteilsumdruck nicht zu entnehmen. Der Senat vermag sich im vorliegenden Fall aus dem vorgetragenen Tatsachenmaterial bereits nicht die von vernünftigen Zweifeln freie Überzeugung davon zu verschaffen, dass der zugrunde liegende Angriff in der von der Klägerin beherrschbaren Sphäre geschehen ist. Soweit dem Urteil des Landgerichts Lüneburg im Übrigen der Rechtssatz entnommen werden könnte, dass der Verwender einer E-Mail-Adresse jeden Missbrauch durch Dritte vollständig ausschließen müsse, ist dies nach der Überzeugung des Senats schon wegen der zahlreichen und sich ständig weiter entwickelnden Angriffsmöglichkeiten zu weitgehend.

b) Selbst wenn man in einem der vorstehend behandelten Umstände eine Pflichtverletzung der Klägerin sehen wollte, fehlte es am Nachweis der Kausalität dieser Pflichtverletzung für den eingetretenen Schaden. Nach dem übereinstimmenden Vortrag der Parteien ist nicht geklärt, wie es tatsächlich dazu kam, dass die zweite E-Mail mit der ge- oder verfälschten Rechnung die Beklagte erreichte. Ein erfolgreicher Angriff auf die Sphäre der Klägerin liegt im Hinblick darauf zwar nahe, dass zwischen den Parteien unstreitig ist, dass auch andere Kunden der Klägerin entsprechend veränderte Rechnungen empfingen. Wodurch dieser Angriff ermöglicht worden sein könnte, ist aber im Hinblick auf die unbekannte Vorgehensweise des oder der unbekannten Dritten gänzlich unklar. Entgegen der Auffassung der Beklagten spricht für eine hierfür kausale Pflichtverletzung der Klägerin auch kein Beweis ersten Anscheins.

c) Schließlich wäre ein unterstellter Schadensersatzanspruch der Beklagten nach § 254 BGB zu kürzen, weil ein erhebliches Mitverschulden zu berücksichtigen wäre. Die zweite E-Mail vom 8. Oktober 2021 wie auch die als Anhang hierzu übersandte Rechnung selbst enthalten auffällige Unstimmigkeiten, die der Beklagten Anlass dazu geben mussten, bei der Klägerin nachzufragen, auf welches Bankkonto der Kaufpreis tatsächlich gezahlt werden sollte. In der E-Mail selbst wird die förmliche Anrede „Sie“ verwendet, obwohl die beiden Geschäftsführer sich duzen und dies auch in den kurz zuvor gewechselten E-Mails getan hatten. Hinzu kommen sprachliche Fehler („ausgestelltes“ Bankkonto), die sich bis zu einem inhaltlich vollkommen unverständlichen Satz hin steigern („Bitte senden Sie uns nach der Herstellung der Decke eine Kopie nach der Banküberweisung“). Soweit der Geschäftsführer der Beklagten im Rahmen seiner informatorischen Anhörung angegeben hat, die Nachricht nicht vollständig gelesen und diesen Satz nicht wahrgenommen zu haben, wäre ein unvollständiges Lesen einer Nachricht, in der es immerhin um die Änderung der Kontoverbindung geht, auf die ein fünfstellige Kaufpreis gezahlt werden soll, auch für sich betrachtet unsorgfältiges Handeln. Dazu kommen die widersprüchliche Gestaltung der mit der zweiten E-Mail übersandten Rechnung selbst, in der zwei Bankverbindungen angegeben sind, sowie der Umstand, dass bei der von der Beklagten hernach verwendeten Bankverbindung eine natürliche Person als Kontoinhaber angegeben war, die in keinerlei erkennbarem Zusammenhang mit dem Geschäftsbetrieb der Klägerin stand.

3. Die von der Beklagten gegen den Anspruch der Klägerin auf Kaufpreiszahlung hilfsweise erklärte Aufrechnung mit einem Zahlungsanspruch in Höhe von 13.500 EUR gegen den Inhaber des Bankkontos, auf das sie die 13.500 EUR überwiesen hat, geht schon deshalb ins Leere, weil es sich hierbei nicht um eine Forderung der Beklagten gegen die Klägerin handelt. Dies ist gem. § 387 BGB aber Voraussetzung für eine Aufrechnung.

4. Die von der Beklagten gegen den Anspruch der Klägerin auf Kaufpreiszahlung weiter hilfsweise erklärte Aufrechnung mit einem eigenen Schadensersatzanspruch in Höhe von 13.500 EUR wegen der Verletzung von IT-Sicherheitspflichten verhilft ihrer Rechtsverteidigung ebenfalls nicht zum Erfolg. Ein entsprechender Schadensersatzanspruch der Klägerin besteht nicht, auf die vorstehenden Ausführungen unter 2. wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.

5. Die Klägerin hat gem. § 280 Abs. 2, § 286 BGB einen Anspruch auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 953,40 EUR entsprechend einer 1,3-Gebühr gem. Nr. 2300 VV RVG aus einem Gegenstandswert von 13.500 EUR zuzüglich Auslagenpauschale. Sie hat - von der Beklagten unbestritten - vorgetragen, dass deren Geschäftsführer am 19. Oktober 2021 die Zahlung des Kaufpreises abgelehnt hat, so dass die Beklagte gem. § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB in Verzug geraten ist.

OLG Karlsruhe: Wettbewerbswidriger Verstoß gegen§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG durch Gewährung von Payback-Punkten bei Vorbestellung rezeptpflichtiger Arzneimittel

OLG Karlsruhe
Urteil vom 12.10.2022
6 U 108/21

Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass ein wettbewerbswidriger Verstoß gegen§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG durch Gewährung von Payback-Punkten bei der Vorbestellung rezeptpflichtiger Arzneimittel vorliegt. Geklagt hatte die Wettbewerbszentrale.

Aus den Entscheidungsgründen:
3. Zu Recht hat das Landgericht angenommen, dass das beanstandete Verhalten der Beklagten den Tatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG erfüllt.

a) Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 HWG ist es unzulässig, Zuwendungen und sonstige Werbegaben (Waren oder Leistungen) anzubieten, anzukündigen oder zu gewähren oder als Angehöriger der Fachkreise anzunehmen, es sei denn, es liegt einer der in § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 HWG gesetzlich geregelten Ausnahmefälle vor. Von dem Verbot des § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 HWG sind Zuwendungen oder Werbegaben ausgenommen, bei denen es sich um geringwertige Kleinigkeiten handelt (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 1 HWG) oder die in einem bestimmten oder auf bestimmte Art zu berechnenden Geldbetrag gewährt werden (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Nr. 2 Buchst. a HWG). Allerdings bleiben bei beiden Ausnahmen Zuwendungen oder sonstige Werbegaben für Arzneimittel unzulässig, soweit sie entgegen den Preisvorschriften gewährt werden, die aufgrund des Arzneimittelgesetzes gelten (BGH, GRUR 2019, 203 Rn. 28 – Versandapotheke; GRUR 2019, 1071 Rn. 9 ff – Brötchen-Gutschein; vgl. auch Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig/v. Jagow, 5. Aufl. 2021, UWG § 3a Rn. 81d).

Der Zweck der Regelung besteht vor allem darin, durch eine weitgehende Eindämmung der Wertreklame im Arzneimittelbereich der abstrakten Gefahr einer unsachlichen Beeinflussung zu begegnen, die von einer Werbung mit Geschenken ausgehen kann (BGH, GRUR 2015, 504, 505 – kostenlose Zweitbrille; GRUR 2019, 1071 Rn. 16 – Brötchen-Gutschein; GRUR 2020, 659 Rn. 13 – Gewinnspiel). Soweit Zuwendungen und Werbegaben gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Halbsatz 2 HWG grundsätzlich – und damit unabhängig von ihrem Wert – unzulässig sind, wenn sie entgegen den Preisvorschriften des Arzneimittelgesetzes (§ 78 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 3 Satz 1 AMG) gewährt werden, soll dadurch ein ruinöser Preiswettbewerb zwischen den Apotheken verhindert und so eine flächendeckende und gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sichergestellt werden (BGH, GRUR 2019, 203 Rn. 45 – Versandapotheke; GRUR 2019, 1071 Rn. 12 – Brötchen-Gutschein).

b) Die Bestimmung des § 7 Abs. 1 Satz 1 HWG ist im Streitfall anwendbar. Die in Rede stehende Gewährung von [X.]punkten weist den für die Anwendung des Heilmittelwerbegesetzes erforderlichen Produktbezug auf. Soweit die Berufung geltend macht, das beanstandete Verhalten stelle eine reine Unternehmens- und Imagewerbung dar, die nicht mit Bonussystemen von Apotheken vergleichbar sei, bei welchen die Werbegabe an den Erwerb (auch) verschreibungspflichtiger Arzneimittel gekoppelt ist, greift dieser Einwand nicht durch.

Zwar unterfällt nicht jede Werbung für Arzneimittel den Bestimmungen des Heilmittelwerbegesetzes. Einbezogen in den Geltungsbereich dieses Gesetzes ist nur die produktbezogene Werbung (Produkt- und Absatzwerbung) und nicht die allgemeine Firmenwerbung (Unternehmens- und Imagewerbung), durch die ohne Bezugnahme auf bestimmte Arzneimittel für Ansehen und Leistungsfähigkeit des Unternehmens allgemein geworben wird.

Jedoch handelt es sich vorliegend um eine den Anwendungsbereich eröffnende produktbezogene Arzneimittelwerbung.

aa) Die Beantwortung der für die Anwendbarkeit des Heilmittelwerbegesetzes entscheidenden Frage, ob die zu beurteilende Werbung Absatz- oder Firmenwerbung ist, hängt maßgeblich davon ab, ob nach dem Gesamterscheinungsbild der Werbung die Darstellung des Unternehmens oder aber die Anpreisung bestimmter oder zumindest individualisierbarer Produkte im Vordergrund steht (BGH, Urteil vom 24. November 2016 - I ZR 163/15, GRUR 2017, 635 Rn. 30 – Freunde werben Freunde). Auch eine Werbung für das gesamte Warensortiment der Apotheke kann produktbezogen sein (st. Rspr.; vgl. BGH, GRUR 2017, 635 Rn. 31 – Freunde werben Freunde; GRUR 2019, 203 Rn. 19 – Versandapotheke; GRUR 2019, 1071 Rn. 22 – Brötchen-Gutschein). Es gibt keinen überzeugenden Grund, den vom Gesetzgeber im Bereich der Heilmittelwerbung als grundsätzlich unerwünscht angesehenen Anreiz einer Wertreklame gerade dann hinzunehmen, wenn diese Form der Reklame für eine besonders große Zahl von Heilmitteln eingesetzt wird (BGH, GRUR 2009, 1082 Rn. 16 – DeguSmiles & more).

bb) Gemessen hieran kommt der in Rede stehenden Werbung mit der Gewährung von 50 [X.]punkten für die (Vor-)Bestellung eines rezeptpflichtigen Arzneimittels ein hinreichender Produktbezug zu.

Entgegen der Auffassung der Beklagten handelt es sich hierbei nicht um eine reine Unternehmens-/Imagewerbung für Apotheken. Insoweit ist schon nicht ersichtlich, auf welches Unternehmen sich diese Unternehmens-/Imagewerbung beziehen soll. Vielmehr werden die Kunden zur Einlösung eines Rezepts in einer beliebigen, an der App der Beklagten teilnehmenden Apotheke aufgefordert, wobei die Vorbestellung eines (rezeptpflichtigen) Arzneimittels mit 50 [X.]-Punkten begünstigt wird. Letztlich geht es weder um die Anpreisung der Leistungen der teilnehmenden Apotheken noch um eine Zuwendung aus anderen unternehmensbezogenen Gründen. Vielmehr ist die Gewährung von 50 [X.]punkten einzig mit der Vorbestellung und der Einsendung der Fotografie eines Rezepts zum Zwecke der Vorbestellung an eine Apotheke verknüpft, die der Kunde zum Zeitpunkt der Wahrnehmung der Werbung in der Regel noch nicht kennt. Damit bezieht sich die Werbung auf sämtliche verschreibungspflichtige Arzneimittel und ist damit ohne Weiteres produktbezogen (vgl. BGH, GRUR 2020, 659 Rn. 22 – Gewinnspielwerbung).

Soweit die Berufung auf die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 15.07.2021, Az. C-190/20) verweist, folgt hieraus keine abweichende Beurteilung. Im Gegenteil hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Werbung für ein gesamtes Arzneimittelsortiment einer Apotheke europarechtlich nicht harmonisiert ist, so dass es den nationalen Gesetzgebern freistehe, nationale Vorschriften betreffend die Werbung für ein gesamtes Warensortiment an Arzneimitteln zu erlassen. In seinem dieser Entscheidung zugrundeliegenden Vorabentscheidungsersuchen (BGH, GRUR 2020, 659) hat der Bundesgerichtshof indessen ausgeführt, dass eine Werbung im Sinne von § 1 HWG selbst dann als produktbezogene Arzneimittelwerbung zu gelten hat, wenn seitens einer Apotheke für ein Gewinnspiel geworben wird, dessen Teilnahme die Einsendung eines Arzneimittelrezepts voraussetzt und überdies keinen konkreten Bezug auf ein bestimmtes Arzneimittel aufweist. Nichts Anderes kann gelten, wenn für die Einsendung eines Arzneimittelrezepts im Rahmen einer Vorbestellung 50 [X.]punkte – und damit ein geldwerter Vorteil – gewährt werden. Soweit die Beklagte erneut anführt, die gewährten [X.]punkte sollten Verbraucher dazu motivieren, über die Nutzung der Vorbestellfunktion Unannehmlichkeiten, wie doppelte Apothekenbesuche aufgrund Nicht-Verfügbarkeit der Ware und unnötige, in Zeiten der Corona-Pandemie möglichst zu meidende Wartezeiten in vollen Geschäften zu umgehen, wodurch die Apotheken zugleich logistische und organisatorische Vorteile und den an sich selbst gesetzten Leistungsanspruch verwirklichen könnten, steht dies der Annahme der Produktbezogenheit nicht entgegen. Ein solcher Aussagegehalt lässt sich dem beanstandeten Werbeauftritt ohnehin nicht entnehmen. Zu Recht weist die Berufungsantwort in diesem Zusammenhang darauf hin, dass diese vermeintlichen Vorteile nicht einmal beiläufig erwähnt werden und vielmehr der Erhalt von [X.]punkten im Gegenzug für den Einkauf eines (rezeptpflichtigen) Arzneimittels im Vordergrund steht. Darüber hinaus kommt es nicht darauf an, welcher Zweck mit der Gewährung des den Preisvorschriften des Arzneimittelgesetzes widersprechenden Vorteils verfolgt wird (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 28 – Brötchen-Gutschein). Soweit die Berufung offenbar allgemein der Kundenbindung dienende, kundenfreundliche Aufmerksamkeiten vom Verbot der Wertreklame bei preisgebundenen Arzneimitteln ausnehmen will, bietet die Regelung des § 7 HWG hierfür keine Grundlage mehr. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber bei der Ergänzung des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG mit Wirkung zum 13.8.2013 (BGBl. I 2013, 3108) abhängig von der Motivation des Werbenden bestimmte Werbegaben vom Verbot hat ausnehmen wollen (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 30 – Brötchen-Gutschein).

Ohne Erfolg wendet die Beklagte schließlich ein, dass die Gewährung der ausgelobten [X.]punkte nicht an den Erwerb eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels gekoppelt sei, da der Kaufvertrag über die rezeptpflichtigen Arzneimittel erst in einem späteren Schritt vor Ort vollzogen werde. Der Apothekenkunde, der sich mittels einer ärztlichen Verordnung über die streitgegenständliche App an eine ihm örtlich genehme Apotheke wendet und dort rezeptpflichtige Arzneimittel vorbestellt, wird diese im Regelfall dort erwerben. Der angesprochene Verbraucher, der durch seine Vorbestellung an die Apotheke einen Auftrag zur Bestellung eines rezeptpflichtigen Arzneimittels erteilt hat, wird bei lebensnaher Betrachtung regelmäßig davon ausgehen, dass er über die Nutzung der App bzw. durch Einsendung eines Rezepts eine Verpflichtung zum Kauf des so bestellten Arzneimittels eingegangen ist und dabei davon ausgehen, dass er die 50 [X.]punkte nicht allein deshalb erhält, weil er eine unverbindliche Vorbestellung aufgegeben hat, sondern weil er bei der betreffenden Apotheke einen Arzneimittelkauf tätigt. Dessen ungeachtet hat das Landgericht zudem zutreffend ausgeführt, dass auch ohne eine unmittelbare Koppelung der Punkte an einen späteren Erwerb der rezeptpflichtigen Arzneimittel von einem hinreichenden Produktbezug auszugehen ist, denn im Unterschied zu Zugaben im Sinn der früheren ZugabeV kommt es bei den Zuwendungen und Werbegaben des § 7 HWG nicht darauf an, ob sie zusammen mit einer Hauptware gewährt werden. Erfasst sind vielmehr alle Leistungen, die angeboten, angekündigt oder gewährt werden, um den Absatz zu fördern (Zipfel/Rathke in LebensmittelR/Sosnitza, 182. EL November 2021, HWG § 7 Rn. 19;Spickhoff/Fritzsche, 3. Aufl. 2018, HWG § 7 Rn. 10 f). Das Inaussichtstellen einer Vergünstigung für die Einsendung eines Rezeptes (per App) im Rahmen einer Vorbestellung genügt hierfür.

c) Das Landgericht hat ferner zutreffend angenommen, dass es sich bei der Gewährung von 50 [X.]punkten um eine nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG i.V.m. § 78 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 3 Satz 1 AMG unzulässige Werbegabe handelt.

aa) Das Landgericht hat zu Recht einen Verstoß gegen die arzneimittelrechtlichen Preisbestimmungen bejaht.

Ein Verstoß gegen die arzneimittelrechtliche Preisbindung liegt nicht nur dann vor, wenn der Apotheker ein preisgebundenes Arzneimittel zu einem niedrigeren Preis abgibt. Die Bestimmungen der Arzneimittelpreisverordnung werden vielmehr auch dann verletzt, wenn für das preisgebundene Arzneimittel zwar der vorgeschriebene Preis angesetzt wird, dem Kunden aber gekoppelt mit dem Erwerb des Arzneimittels Vorteile gewährt werden, die den Erwerb für ihn wirtschaftlich günstiger erscheinen lassen (vgl. BGH, GRUR 2010, 1138 Rn. 17– UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE, mwN; GRUR 2017, 635 Rn. 37 – Freunde werben Freunde; GRUR 2019, 203 Rn. 29 – Versandapotheke; GRUR 2019, 1071 Rn. 27 – Brötchen-Gutschein).

So liegt der Fall hier. Die Beklagte gewährt Kunden beim Erwerb eines verschreibungspflichtigen Arzneimittels mit der Zuwendung von 50 [X.]punkten einen Vorteil, der den Erwerb des Arzneimittels wirtschaftlich günstiger erscheinen lässt. Nach der Lebenserfahrung können – gerade wenn der Abgabepreis in allen Apotheken identisch ist – auch Zuwendungen von geringem Wert den Kunden veranlassen, bei nächster Gelegenheit ein preisgebundenes Arzneimittel in der Hoffnung auf weitere Vergünstigungen wieder in derselben Apotheke zu erwerben. Entscheidend ist dabei, dass der gewährte Vorteil nach der Verkehrsauffassung den Erwerb des Arzneimittels bei der fraglichen Apotheke wirtschaftlich günstiger erscheinen lässt. Dies ist bei der Gewährung von 50 [X.]punkten zweifelsfrei der Fall, da dieser geldwerte Vorteil nicht nur als Ausdruck von Kundenfreundlichkeit aufgefasst werden kann.

bb) Der Arzneimittelpreisbindung unterfällt im Übrigen jede Werbegabe nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG, die dem Kunden einen geldwerten Vorteil gewährt. Die Berufung rügt deshalb im Ergebnis auch in diesem Zusammenhang ohne Erfolg, die beanstandete Werbung stelle lediglich eine der Kundenbindung dienenden Maßnahme dar. Es kommt nicht darauf an, welcher Zweck mit der Gewährung des den Preisvorschriften des Arzneimittelgesetzes widersprechenden Vorteils verfolgt wird (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 28 – Brötchen-Gutschein). Der Begriff der Werbegabe in § 7 Abs. 1 Satz 1 HWG ist mit Blick auf den Zweck der Regelung, durch eine weitgehende Eindämmung von Werbegeschenken im Heilmittelbereich der abstrakten Gefahr einer hiervon ausgehenden unsachlichen Beeinflussung zu begegnen, weit auszulegen. Er erfasst grundsätzlich jede aus der Sicht des Empfängers nicht berechnete geldwerte Vergünstigung (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2012 - I ZR 105/10, GRUR 2012, 1279 Rn. 22 = WRP 2012, 1517 - DAS GROSSE RÄTSELHEFT; Urteil vom 6. November 2014 - I ZR 26/13, GRUR 2015, 504 Rn. 14 = WRP 2015, 565 - Kostenlose Zweitbrille, jeweils mwN).

cc) Eine Werbegabe setzt schließlich voraus, dass die Zuwendung aus der Sicht des Empfängers unentgeltlich gewährt wird; er muss diese als ein Geschenk ansehen (vgl. BGH, GRUR 2012, 1279 Rn. 24 - DAS GROSSE RÄTSELHEFT; GRUR 2015, 504 Rn. 14 - Kostenlose Zweitbrille, jeweils mwN). Diese Voraussetzung ist ebenfalls gegeben, da die angesprochenen Verkehrskreise die Gewährung von 50 [X.]punkten als eine geldwerte Vergünstigung und als Geschenk verstehen. Soweit in der früheren Rechtsprechung die Unentgeltlichkeit von Zuwendungen verneint wurde, wenn sich der Empfänger der Vergünstigung dafür nicht unerheblichen Testanstrengungen unterziehen (OLG, Köln GRUR-RR 2008, 446, 447) oder beim Erwerb Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen musste (BGH, GRUR 2010, 1136 Rn. 18 – UNSER DANKESCHÖN FÜR SIE; so auch die durch die Berufung wiederholt bemühte Entscheidung des OLG Hamburg, Urteil vom 26. Juli 2007 – 3 U 21/07 –, Rn. 35, juris – Saartaler), liegt der Fall hier anders. Die [X.]punkte sollen vielmehr gerade nicht als eine Kompensation für etwaige Unannehmlichkeiten gewährt werden. Insbesondere werden die [X.]punkte aus der Sicht des adressierten Verbrauchers nicht als Kompensation für den Aufwand gewährt, der mit der Nutzung der Vorbestellfunktion der App einhergeht. Dieser Aufwand in Gestalt der Übersendung eines Fotos des Rezepts im Rahmen der Vorbestellung steht vielmehr typischerweise im Interesse des Verbrauchers, um eigene Unannehmlichkeiten zu vermeiden. Er wird die Vorbestellfunktion nutzen, um die Apotheke nicht (mehrfach) aufsuchen zu müssen und den mit der Vorbestellung verbundenen – nach Dafürhalten des Senats im Übrigen auch überschaubaren – Aufwand nur aus dieser Motivation heraus erbringen. Vor allem aber wird er die Nutzung der Vorbestellfunktion nicht als eine gegenüber dem Apothekenbetreiber zu erbringende Leistung begreifen und daher auch die Gewährung der [X.]punkte nicht als eine Entschädigung hierfür ansehen, sondern als eine unentgeltliche Zuwendung.

dd) Soweit die Berufung einwendet, das Landgericht habe sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Gewährung der 50 [X.]punkte mit einem Gegenwert von 50 Cent für die Nutzung der Vorbestellfunktion eine abstrakte Gefahr einer unsachlichen Beeinflussung der Verbraucher darstelle, erweist sich auch dieser Berufungsangriff als nicht durchgreifend.

Das in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG geregelte grundsätzliche Verbot von Werbegaben soll durch eine weitgehende Eindämmung der Wertreklame im Bereich der Heilmittel der abstrakten Gefahr begegnen, dass Verbraucher bei der Entscheidung, ob und gegebenenfalls welche Heilmittel sie in Anspruch nehmen, durch die Aussicht auf Werbegaben unsachlich beeinflusst werden. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Hs. 2 HWG verbietet entgegen den Preisvorschriften des Arzneimittelgesetzes gewährte Werbegaben generell und soll damit einen ruinösen Preiswettbewerb zwischen den Apotheken verhindern und so eine flächendeckende und gleichmäßige Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sicherstellen. Auch dieses Ziel dient dem Interesse der Verbraucher (vgl. BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 12 – Brötchen-Gutschein; GRUR 2019, 203 Rn. 45 – Versandapotheke). Die Gewährung von geringwertigen Werbegaben ist jedenfalls dann, wenn preisgebundene Arzneimittel erworben werden, nicht mehr zulässig, es sei denn, es liegt eine der in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 bis 5 HWG geregelten Ausnahmen vor (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 30 Brötchen-Gutschein). Hieraus folgt zugleich, dass vorliegend die abstrakte Gefahr einer unsachlichen Beeinflussung des Werbeadressaten durch die Gewährung von 50 [X.]punkten im Rahmen der Vorbestellung über die streitgegenständliche App zu bejahen ist. Diese Zuwendung wird durch die Verbraucher als eine geldwerte Vergünstigung und als Geschenk verstanden. Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers (BT-Drs. 17/13770, 20 f.) führt der Verstoß gegen aufgrund des Arzneimittelrechts geltende Preisvorschriften indessen unabhängig davon, ob mittels Barrabatten und Zugaben oder Werbegaben in Form von geringwertigen Kleinigkeiten betriebenen Rabattaktionen für Arzneimittel zur Unzulässigkeit der Werbegabe. Eine Unterscheidung zwischen der Bewertung von Barrabatten und zu einem späteren Zeitpunkt einlösbaren geldwerten Rabatten ist sachlich nicht gerechtfertigt. Der Verbraucher soll in keinem Fall durch die Aussicht auf Zugaben und Werbegaben unsachlich beeinflusst werden. Entgegen der Auffassung der Berufung ist hierbei nicht erforderlich, dass aus der unsachlichen Beeinflussung eine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit des Kunden folgen kann. Ein solches Erfordernis ist auch nicht der – in der Verhandlung vor dem Senat durch die Berufung hierfür angeführten – Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18.11.2021 (I ZR 214/18, BGH, GRUR 2022, 391 – Gewinnspielwerbung II) zu entnehmen. In dem dortigen Fall wurde eine unsachliche Beeinflussung bejaht, weil der Kunde sich für die Einlösung des Rezepts bei einer Versandapotheke entscheiden könnte, ohne zu erwägen, dass der Erwerb des Arzneimittels bei einer stationären Apotheke seinen persönlichen Bedürfnissen mehr entspreche (vgl. Rn. 44). Dies steht indessen nicht der Annahme einer unsachlichen Beeinflussung entgegen, die – wie hier – darin begründet liegt, dass der Kunde beim Erwerb des Arzneimittels bei einer an dem [X.]programm teilnehmenden Apotheke den – nach den Vorstellungen des Gesetzgebers schon im Ansatz zu unterbindenden – Preiswettbewerb zwischen den Apotheken fördert, was dem letztlich auch in seinem Interesse stehenden Ziel einer flächendeckenden und gleichmäßigen Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln abträglich sein könnte (vgl. BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 12 – Brötchen-Gutschein).

ee) Es liegt auch keine der in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 5 HWG geregelten Ausnahmen vom grundsätzlichen Verbot der Wertreklame vor. Im Streitfall kommt von vornherein allenfalls eine Einordnung des Gutscheins als handelsübliches Zubehör oder handelsübliche Nebenleistung i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HWG in Betracht. Die Ausnahmebestimmung greift zwar auch bei preisgebundenen Arzneimitteln, da sie insoweit keine Einschränkung enthält (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 29 – Brötchen-Gutschein). Bei der Gewährung von 50 [X.]punkten handelt es sich aber ersichtlich weder um ein Zubehör noch um eine Nebenleistung i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 HWG. Maßgeblich für die Eigenschaft als Zubehör ist eine funktionale Beziehung zur Hauptware (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 29 – Brötchen-Gutschein; GRUR 1968, 53, 55 – Probetube, zur ZugabeV), an der es im Streitfall fehlt. Eine Nebenleistung muss geeignet sein, die Durchführung der Hauptleistung sachlich zu ermöglichen oder zu fördern (vgl. BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 29 – Brötchen-Gutschein); auch dies trifft im Streitfall nicht zu. Soweit die Beklagte erstmals in der Berufungsinstanz vorträgt, dass die Gewährung von [X.]punkten im Rahmen der Bestellung von Arzneimitteln über eine App handelsüblich sei, ist dieser Vortrag zudem als neues Angriffsmittel in der Berufungsinstanz nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 531 Abs. 2 Satz 1 ZPO nicht vorliegen.

d. Die Zuwiderhandlung der Beklagten ist geeignet, die Interessen von Verbrauchern und Mitbewerbern i.S.d. § 3a UWG spürbar zu beeinträchtigen.

Die Werbung entgegen den Preisbindungsvorschriften führt nach der vom Gesetzgeber vorgenommenen Beurteilung des Sachverhalts zu einem Preiswettbewerb zwischen den Apotheken. Der Gesetzgeber ist bei der mit Wirkung vom 13.8.2013 vorgenommenen Änderung des Heilmittelwerbegesetzes davon ausgegangen, dass jede gesetzlich verbotene Abweichung vom Apothekenabgabepreis für verschreibungspflichtige Arzneimittel geeignet ist, einen unerwünschten Preiswettbewerb zwischen den Apotheken auszulösen. Für eine betragsmäßige Spürbarkeitsschwelle beim Erwerb preisgebundener Arzneimittel ist damit kein Raum mehr (BGH, GRUR 2019, 1071 Rn. 57 – Brötchen-Gutschein; OLG Hamm, Urteil vom 11.6.2015 – 4 U 12/15, BeckRS 2016, 3123; OLG München, GRUR-RR 2017, 451, 455 – Smiles®Plus Partnerprogramm). Die eindeutige gesetzliche Regelung, nach der jede Gewährung einer Zuwendung oder sonstigen Werbegabe i.S.v. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HWG, die gegen die Preisvorschriften des Arzneimittelgesetzes verstößt, unzulässig ist, darf nicht dadurch unterlaufen werden, dass ein solcher Verstoß als nicht spürbar eingestuft und damit als nicht wettbewerbswidrig angesehen wird.


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OLG Karlsruhe: Abgemahnter hat Zurückbehaltungsrecht hinsichtlich der Zahlung der Abmahnkosten solange keine Rechnungsstellung nach § 14 UStG erfolgt ist

OLG Karlsruhe
Urteil vom 14.12.2022
6 U 255/21


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass ein Abgemahnter ein Zurückbehaltungsrecht hinsichtlich der Zahlung der Abmahnkosten hat, solange keine Rechnungsstellung nach § 14 UStG erfolgt ist.

Aus den Entscheiodungsgründen:
Allerdings geht der Bundesgerichtshof (Beschluss vom 21. Januar 2021 - I ZR 87/20, HFR 2021, 943 Rn. 10) von einer nunmehr gefestigten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFHE 201, 339; 257, 154; 263, 560; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 27. Dezember 2019 - 1 BvR 1327/19) aus, wonach Zahlungen, die an einen Unternehmer als Aufwendungsersatz aufgrund von urheberrechtlichen oder wettbewerbsrechtlichen Abmahnungen zur Durchsetzung eines Unterlassungsanspruch geleistet werden, umsatzsteuerrechtlich als Entgelt im Rahmen eines umsatzsteuerbaren Leistungsaustauschs zwischen dem Unternehmer und dem von ihm abgemahnten Rechtsverletzer zu qualifizieren seien. Diese Rechtsprechung, die sich konkret nur auf das Wettbewerbs- und das Urheberrecht bezieht, wendet der Bundesgerichtshof auch im Kennzeichenrecht an und soll nach Auffassung des Bundesgerichtshofs auf den gesamten Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes auszudehnen sein (so BGH, HFR 2021, 943 Rn. 10 mwN; für die Abmahnung einer Patentverletzung auch OLG Düsseldorf, Urteil vom 23. Januar 2020 - 2 U 13/19, juris Rn. 97). Der Bundesgerichtshof (HFR 2021, 943 Rn. 12 mwN) geht insoweit von folgender Situation und Rechtslage aus: Der Anwalt, der den Rechtsverletzer im Auftrag des Rechtsinhabers abgemahnt habe, rechne in eigenem Namen gegenüber dem Rechtsinhaber ab; dieser rechne sodann über seine eigene Leistung („Vermeidung eines Gerichtsverfahrens“) gegenüber dem Abgemahnten ab; die Rechnung weise dabei regelmäßig den Nettobetrag der anwaltlichen Rechnung zuzüglich Umsatzsteuer aus; die in der Rechnung an den Abgemahnten ausgewiesene Umsatzsteuer müsse der Rechtsinhaber an das Finanzamt abführen (mit der Möglichkeit des Vorsteuerabzugs).

(2) Im Streitfall besteht aber kein Anspruch auf Erteilung einer Rechnung, weil die vorliegende Abmahnung im Ergebnis zumindest faktisch keiner Umsatzsteuer unterworfen wird.

Es kann dahinstehen, ob (insbesondere) zum Zeitpunkt des Zugangs der Abmahnung im Sinn der oben zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (noch) ernstlich zweifelhaft war, ob – ausgehend vom gesetzlichen Rahmen – die Abmahnung wegen Patent- und Wettbewerbsrechtsverletzung der Umsatzsteuer unterlag. Zwar hat das Bundesministerium der Finanzen mit Schreiben vom 1. Oktober 2021 (III C 2 - S 7100/19/10001:006, DOK 2021/0998752, MwStR 2021, 912) die – auch vom Bundesgerichtshof – der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entnommenen Grundsätze betreffend Abmahnungen bei Urheberrechtsverletzungen und bei unlauteren Wettbewerbshandlungen nachvollzogen, indem es den Umsatzsteuer-Anwendungserlass entsprechend geändert und ausgeführt hat, dass diese Grundsätze in allen offenen Fällen anzuwenden seien. Zugleich hat es indes bestimmt, dass es jedoch nicht beanstandet wird, wenn die Beteiligten bei der Zahlung für vor dem 1. November 2021 durchgeführte Abmahnleistungen übereinstimmend, d.h. auch hinsichtlich eines Vorsteuerabzugs beim Abgemahnten, von einem nicht steuerpflichtigen Entgelt ausgehen. Insbesondere Letzteres muss nach dem Zweck der Nichtbeanstandungsklausel entsprechend für Sachverhalte auf dem Gebiet sonstiger Rechte des geistigen Eigentums gelten, soweit dort ansonsten dieselben umsatzsteuerrechtlichen Grundsätze greifen würden (siehe auch Streit, GRUR-Prax 2021, 697, 700). Zumindest dies führt im Streitfall dazu, dass ein Anspruch auf Rechnungsstellung nach § 14 UStG ausscheidet.

Nach Auffassung des Senats besteht nämlich zumindest in einem Fall, in dem nach dem ministerialen Erlass die Behandlung der Abmahnung als nicht umsatzsteuerbare Leistung nicht beanstandet wird, auch kein Anspruch auf eine Rechnung nach § 14 UStG und kein Zurückbehaltungsrecht. Dann gilt erst Recht, was insoweit für den Fall gilt, wenn Zweifel an der Besteuerung bestehen. Es steht nämlich in unter die Nichtbeanstandungsklausel fallenden Fall sogar fest, dass eine – selbst nach dem Gesetz an sich vorgesehene – Erhebung der Umsatzsteuer auf die Leistung der Abmahnung nicht erfolgen wird. Dies schließt einen Anspruch auf Ausstellung einer Rechnung mit Umsatzsteuerausweis aus. Dessen Zweck liegt nämlich in dem Bedürfnis des Leistungsempfängers, die Rechnung als Ausübungsvoraussetzung für seinen Vorsteuerabzug (§ 15 UStG) zu erhalten (vgl. Leipold in Sölch/Ringleb, UStG, Stand Juni 2022, § 14 Rn. 72; OLG Düsseldorf, Urteil vom 23. Januar 2020 - 2 U 13/19, juris Rn. 97). Behandelt der Abmahnende die Abmahnung nicht als steuerbare Leistung an den Abgemahnten, indem er vom Abgemahnten lediglich die Erstattung des Nettobetrags der verauslagten Anwaltsgebühren verlangt und Umsatzsteuer auf diesen vom Abgemahnten verlangten Betrag weder vom Abgemahnten fordert noch an das Finanzamt abführt und auch nicht auf eine etwaige Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers hinweist, und behandelt auch der Abgemahnte den Vorgang nicht anders, indem er weder über den geforderten Betrag hinaus Umsatzsteuer an den Abmahnenden oder das Finanzamt leistet noch solche gegenüber dem Finanzamt im Weg des Vorsteuerabzugs geltend macht, so ist nach dem ministerialen Erlass keine Erhebung von Umsatzsteuer zu erwarten und wird sich folglich auch keine Möglichkeit für einen Vorsteuerabzug durch den Abgemahnten ergeben, dem die Belastung mit dem Umsatzsteuerbetrag gerade erspart geblieben ist. Der Abgemahnte hätte wirtschaftlich keinen Vorteil dadurch und somit kein schützenswertes Interesse daran, sich die Möglichkeit zum Vorsteuerabzug dadurch zu „erkaufen“, dass er den Abmahnenden dazu veranlasst, die Abmahnung als umsatzsteuerbare Leistung zu behandeln und dem Abgemahnten den sodann vorsteuerabzugsfähigen Umsatzsteuerbetrag unter entsprechender Rechnungstellung überhaupt erst (zusätzlich zum bisher wegen der Behandlung als nichtsteuerbarer Vorgang verlangten Nettobetrag) abzuverlangen (im Wesentlichen ebenso OLG Düsseldorf, Urteil vom 23. Januar 2020 - 2 U 13/19, juris Rn. 97). Entsprechendes gilt, wenn der Abgemahnte sich nicht dazu entschließt, aufgrund seiner Steuerschuldnerschaft, von der auch der Abmahnende nicht erkennbar ausgeht, nach § 13b Abs. 2 UStG Umsatzsteuer abzuführen.


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OLG Karlsruhe: US-Cloud-Anbieter bzw. deren europäische Tochterunternehmen sind nicht generell wegen fehlender DSGVO-Konformität von Vergabeverfahren auszuschließen

OLG Karlsruhe
Beschluss vom 07.09.2022
15 Verg 8/22


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass US-Cloud-Anbieter bzw. deren europäische Tochterunternehmen nicht generell wegen fehlender DSGVO-Konformität von Vergabeverfahren auszuschließen sind.

Aus den Entscheidungsgründen:
b) Das Angebot der Beigeladenen ist auch nicht auszuschließen, weil ihr Angebot von den Anforderungen der Antragsgegnerinnen an Datenschutz und IT-Sicherheit abweicht.

aa) Der öffentliche Auftraggeber darf ohne Widerspruch zu § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Bieter seine vertraglichen Zusagen erfüllen wird (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 26.08.2018, Verg 23/18, juris Rn. 71; KG, Beschluss vom 21.11.2014, Verg 22/13, juris, Rn. 36). Erst wenn sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass dies zweifelhaft ist, ist der öffentliche Auftraggeber gehalten, durch Einholung ergänzender Informationen die Erfüllbarkeit des Leistungsversprechens beziehungsweise die hinreichende Leistungsfähigkeit des Bieters zu prüfen (OLG Düsseldorf, a.a.O.; KG, a.a.O.; OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 16.06.201, 11 Verg 3/15, juris, Rn. 82; OLG Brandenburg, Beschluss vom 20.11.2012, Verg W 10/12, juris Rn. 21).

bb) Die Vergabeunterlagen verlangten die softwaretechnische Einhaltung des beigefügten DS-GVO-Vertragsentwurfs (4.1.1. lit. c der Vergabeunterlagen). Weiter heißt es, „die Einzelheiten ergeben sich aus dem Leistungsverzeichnis und dem Lastenheft der Vergabeunterlagen.“ Im Lastenheft heißt es unter 2.8 „Erfüllung der Anforderungen aus der DS-GVO und dem BDSG, insbesondere

- Erfüllung der datenschutzrechtlichen Grundsätze, Art. 5, 25 DS-GVO (insbesondere Datenminimierung, Datenschutz durch Technikgestaltung, Datenschutz durch datenschutzfreundliche Voreinstellungen)

- Umsetzung ausreichender technischer und organisatorischer Maßnahmen (Art. 32 DS-GVO) oder anderer geeigneter Garantien (z.B. Zertifizierung nach Art. 42 DS-GVO); Möglichkeit zur Vorortprüfung des Auftragnehmers muss gegeben sein.“

Im Lastenheft weisen die Antragsgegnerinnen darauf hin, dass die Anforderungen an die Leistungen als zum Ausschluss führende A-Kriterien und bewertungsrelevante B-Kriterien ausgestaltet sind. Danach ist allein die softwaretechnische Einhaltung des DS-GVO-Vertragsentwurfs Ausschlusskriterium (Lastenheft lfd. Nr. 19), während die DS-GVO konformen softwaretechnischen Möglichkeiten zur Berechtigungssteuerung (Lastenheft lfd. Nr. 20) und die Vorgabe, wonach die Daten ausschließlich in einem EU-/EWR-Rechenzentrum verarbeitet werden, bei dem kein Subdienstleister / Konzernunternehmen in Drittstaaten ansässig ist (Lastenheft lfd. Nr. 21), als B-Kriterien ausgestaltet.

Durch die Unterzeichnung der von den Antragsgegnerinnen vorgegebenen DS-GVO-Verträgen hat die Beigeladene erklärt, die gemachten Vorgaben einzuhalten. Sie hat zudem ihre Leistungen beim Einsatz von Dienstleistern und im Bereich von Datenschutz und IT-Sicherheit im Angebot im Einzelnen näher beschrieben und hierbei ein klares und eindeutiges Leistungsversprechen abgegeben. Sie hat in diesem Zuge zugesichert, dass personenbezogene Gesundheitsdaten ausschließlich an die A. S.à.r.l., L., übermittelt werden und auch zu ihrer Verarbeitung die EU nicht verlassen, sondern nur in Deutschland verarbeitet werden. Zudem hat die Beigeladene erklärt, dass die A. S.à.r.l., L. ihr gegenüber zugesichert habe, dass alle Daten der Beigeladenen in Deutschland verarbeitet werden und in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat zudem bestätigt, dass sie bis zur Angebotsverwirklichung sämtliche intern notwendigen Verträge mit A. schließen wird, die ihre Zusagen, wie sie im Angebot gemacht werden, umsetzen. Im Sinne einer solchen bindenden Zusicherung haben die Antragsgegnerinnen die Erklärungen der Beigeladenen in den Vergabeunterlagen auch verstanden. Auf dieses Leistungsversprechen dürfen die Antragsgegnerinnen vertrauen.

(1) Zweifel mussten die Antragsgegnerinnen nicht deshalb haben, weil A. Verträge im Allgemeinen unter Einbeziehung der A. DPA abschließt. Die A. DPA waren nicht Gegenstand des Angebots der Beigeladenen. Die Verträge mit A. waren nach den Vergabeunterlagen nicht vorzulegen und lagen dem Angebot auch nicht bei. Folglich bestand für die Antragsgegnerinnen keine Veranlassung, an den im Leistungsversprechen gemachten Zusicherungen zu zweifeln, weil die A. DPA möglicherweise datenschutzrechtliche Defizite aufweisen könnten, wie dies die Vergabekammer aufgezeigt hat oder weil deren Formulierung als dreiseitige Vereinbarung, in die auch die A. Inc., USA, einbezogen ist, Zweifel an der Einhaltung der DS-GVO begründen könnten. Aufgrund des im Angebot beschriebenen Leistungsversprechens und den abgegebenen Garantien in Bezug auf die konkrete Auftragsdurchführung können die Antragsgegnerinnen davon ausgehen, dass die Beigeladene sich hieran hält und ihre Verträge mit A. entsprechend gestaltet, ungeachtet etwaiger Bestimmungen in den als AGB ausgestalteten A. DPA. Die Beigeladene hat folglich dafür Sorge zu tragen, dass sie ihre Leistung entsprechend der abgegebenen Garantien umsetzt und durchführt.

(2) Anders als die Antragstellerin meint, musste nicht allein die Tatsache, dass die A. S.à.r.l ein Tochterunternehmen eines US-amerikanischen Konzerns ist, die Antragsgegnerinnen an der Erfüllbarkeit des Leistungsversprechens zweifeln lassen. Die Antragsgegnerinnen mussten nicht davon ausgehen, dass es aufgrund der Konzernbindung zu rechts- und vertragswidrigen Weisungen an das Tochterunternehmen kommen wird bzw. das europäische Tochterunternehmen durch seine Geschäftsführer gesetzeswidrigen Anweisungen der US-amerikanischen Muttergesellschaft Folge leisten wird.

(3) Die erstmals am Schluss der mündlichen Verhandlung vor dem Vergabesenat von der Antragstellerin erhobene Rüge, die Beigeladene setze C. ein, wobei von A. Daten in die USA übertragen würden, auch werde die IP-Adresse in die USA übertragen, was die Beigeladene bestritten hat, ist wegen des im Vergabenachprüfungsverfahren im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit an einer raschen Auftragsvergabe geltenden Beschleunigungsgrundsatzes unbeachtlich. Weshalb die Antragstellerin dies nicht hätte früher rügen können, hat sie nicht nachvollziehbar erklärt. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Recherche besonders aufwendig war, denn es genügte eine Eingabe in die R.-APP, um diese Informationen zu erhalten, wie die Antragstellerin erklärt hat. Der behauptete Verstoß gegen die DS-GVO wegen einer Datenübermittlung in die USA war bereits Kernargument des Rügeschreibens der Antragstellerin vom 09.05.2022.

Selbst wenn man den Vortrag als zulässig erachten würde, wird das Leistungsversprechen der Beigeladenen damit nicht in Zweifel gezogen. Denn daraus lässt sich nicht schließen, dass die Verwendung von C. und die Übermittlung der IP-Adresse in die USA Teil der den Antragsgegnerinnen angebotenen Leistung ist.

(4) Da die Antragsgegnerinnen folglich nicht davon ausgehen mussten, dass die personenbezogenen Gesundheitsdaten von der Beigeladenen im Rahmen der Vertragserfüllung in ein Drittland übermittelt werden, bedurfte es der Durchführung eines Transfer Impact Assessments nicht. Dessen Fehlen stellt keine Abweichung von den Ausschreibungsbedingungen dar.

(5) Im Hinblick auf das Versprechen der Beigeladenen, dass die Daten ausschließlich in Deutschland verarbeitet werden, kommt es nicht darauf an, ob die Beigeladene begleitende organisatorische und technische Maßnahmen, insbesondere auch im Hinblick auf eine sichere Verschlüsselung, zusagte, die erforderlich sind, damit die Übermittlung von Daten in die USA im Einklang mit den Bestimmungen der DS-GVO steht.

Allerdings weist der Senat darauf hin, dass die Vergabekammer, die einen anderen rechtlichen Ansatz wählte und für die es daher für die Einhaltung der DS-GVO unter anderem auf eine effiziente Verschlüsselungstechnik ankam, die von der Beigeladenen als geheimhaltungsbedürftig gekennzeichneten Angaben nicht hätte unberücksichtigt lassen dürfen. In Fällen, in denen eine Weitergabe von Informationen zum Schutz von Geschäftsgeheimnissen eines der Beteiligten unterbleiben muss, ist dem vielmehr durch eine entsprechende Verfahrensgestaltung (wegen der Einzelheiten: BGH, Beschluss vom 31.01.2017, X ZB 10/16, juris) Rechnung zu tragen.

c) Die Antragsgegnerinnen haben nicht gegen ihre Aufklärungspflicht nach § 60 Abs. 1 VgV verstoßen. Sie haben, weil die Beigeladene im zurückversetzten Verfahren teilweise erheblich günstigere Preise anbot als im ursprünglichen Vergabeverfahren, die Preise aufgeklärt. Die Preisprüfung erstreckt sich darauf, ob der angebotene Gesamtpreis im Verhältnis zur Leistung ungewöhnlich oder unangemessen niedrig ist und zur Leistung in einem Missverhältnis steht (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 08.06. 2016, VII-Verg 57/15, juris). Eine darauf gerichtete Preisprüfung haben die Antragsgegnerinnen vorgenommen. Die Erklärungen der Beigeladenen und die hierzu vorgelegten Unterlagen haben die Antragsgegnerinnen als zufriedenstellend bewertet und dies in den Vergabeunterlagen nachvollziehbar dargestellt und dokumentiert. Ergänzend wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Ausführungen der Vergabekammer Bezug genommen. Folglich ist das Angebot der Beigeladenen nicht nach § 60 Abs. 3 VgV von der Wertung auszuschließen.


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


OLG Karlsruhe: Strafgefangene haben keinen Anspruch auf Zugang zum Internet in der Justizvollzugsanstalt

OLG Karlsruhe
Beschluss vom 28.4.2022
2 Ws 55/22


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass Strafgefangene keinen Anspruch auf Zugang zum Internet in der Justizvollzugsanstalt haben.

Die Pressemitteilung des Gerichts:
Kein Internet für Strafgefangenen

Nach einem jetzt veröffentlichten Beschluss des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 28. April 2022 hat ein Strafgefangener grundsätzlich keinen Anspruch auf Zugang zum Internet in der Justizvollzugsanstalt.

Zur Entscheidung kam der Fall eines Strafgefangenen in der Justizvollzugsanstalt Freiburg. Die Anstalt hatte den Antrag des Häftlings abgelehnt, ihm den Besitz eines Tablets mit Internetzugang zu gestatten oder Internetzugang „über eine sichere vertrauenswürdige Quelle“ zu gewähren. Dem dagegen gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 des Strafvollzugsgesetzes gab das Landgericht Freiburg mit Beschluss vom 10. Februar 2022 keine Folge. Daraufhin erhob der Strafgefangene Rechtsbeschwerde zum Oberlandesgericht Karlsruhe.

Diese Rechtsbeschwerde hat der 2. Strafsenat des Oberlandesgerichts verworfen. Soweit der Strafgefangene die Überlassung eines Tablets mit Internetzugang verlangte, hat sich der Senat dabei der gefestigten Rechtsprechung anderer Oberlandesgerichte angeschlossen, wonach Computer und ähnliche Geräte schon wegen der damit verbundenen Speichermöglichkeiten generell geeignet sind, die Sicherheit und Ordnung in einer Justizvollzugsanstalt zu gefährden, ohne dass dem durch Kontrollmaßnahmen der Anstalt hinreichend begegnet werden kann. Der 2. Strafsenat hat aber auch keinen darüber hinausgehenden Rechtsanspruch auf einen Internetzugang in anderer Weise gesehen. Zur Begründung hat der Senat zunächst darauf hingewiesen, dass der baden-württembergische Landesgesetzgeber im Justizvollzugsgesetzbuch für Strafgefangene nur den Zugang zu Hörfunk und Fernsehen sowie Zeitungen und Zeitschriften geregelt, nicht aber auch einen Zugang zum Internet vorgesehen hat (§§ 59, 60 JVollzGB III). Ein genereller Anspruch auf Zugang zum Internet ergibt sich nach dem Beschluss des Senats auch nicht aus übergeordnetem Recht, etwa der im Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Informationsfreiheit. Dass der antragstellende Strafgefangene aus besonderen Gründen des Einzelfalls eines Internetzugangs zur Erlangung nicht anderweitig zugänglicher Informationen bedurfte, hatte er bereits selbst nicht behauptet.

Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss vom 28.4.2022, Aktenzeichen: 2 Ws 55/22
Vorinstanz: Landgericht Freiburg, Beschluss vom 10.2.2022, Aktenzeichen: 13 StVK 582/21



OLG Karlsruhe: Online-Shop muss Kunden Auswahl einer nichtbinären Geschlechtsidentität ermöglichen - Unzulässige Diskriminierung aber kein Entschädigungsanspruch

OLG Karlsruhe
Urteil vom 14.12.2021
24 U 19/21


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass ein unzulässige Diskriminierung vorliegt, wenn ein Online-Shop seinen Kunden die Auswahl einer nichtbinären Geschlechtsidentität nicht ermöglicht. Das Gericht führt weiter aus, dass insoweit keine schwerwiegende Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vorliegt, so dass kein Schmerzensgeldanspruch besteht.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Unerlaubte Diskriminierung durch Auswahlmöglichkeit von nur zwei Geschlechtern beim Online-Shopping – aber kein Entschädigungsanspruch

Eine Person nichtbinärer Geschlechtsidentität, die beim „Online-Shopping“ nur zwischen den Anreden „Frau“ oder „Herr“ auswählen kann, wird unter Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz wegen des Geschlechts benachteiligt und in ihrem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt. Ein Anspruch auf Entschädigung eines deswegen geltend gemachten immateriellen Schadens besteht jedoch nicht, weil die festgestellte Diskriminierung im konkreten Fall nicht die dafür erforderliche Intensität erreichte. Mit dieser Begründung hat der 24. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe mit Urteil vom 14. Dezember 2021 einer Berufung gegen ein klageabweisendes Urteil des Landgerichts Mannheim keine Folge gegeben.

Die klagende Person, in deren Personenstandsdaten beim Standesamt „keine Angabe“ unter der Rubrik „Geschlecht“ eingetragen ist, hatte im Herbst 2019 auf der Website des beklagten Bekleidungsunternehmens verschiedene Kleidungsstücke bestellt. Für die Registrierung und den Kauf war eine Auswahl zwischen den beiden Anreden „Frau“ oder „Herr“ erforderlich. Eine dritte Auswahl gab es zum damaligen Zeitpunkt nicht. Die getätigten Käufe wurden unter der Anrede „Herr“ bestätigt.

Die klagende Person macht aufgrund dieses Sachverhalts eine Entschädigung in Geld in Höhe von jedenfalls 2.500 Euro sowie einen Unterlassungsanspruch geltend. Damit hatte sie aber weder außergerichtlich noch vor dem Landgericht Mannheim Erfolg. Dessen klageabweisendes Urteil vom 7. Mai 2021 hat das Oberlandesgericht Karlsruhe jetzt im Ergebnis bestätigt.

Nach den Ausführungen des 24. Zivilsenats liegt zwar eine nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz verbotene unmittelbare Benachteiligung der klagenden Person wegen des Geschlechts bei der Begründung eines zivilrechtlichen Schuldverhältnisses im Rahmen eines sog. Massengeschäfts vor. Die klagende Person konnte – anders als eine Person mit männlichem oder weiblichem Geschlecht – den Kaufvorgang nicht abschließen, ohne im dafür vorgesehenen Feld eine Angabe zu machen, die der eigenen geschlechtlichen Identität nicht entspricht. Hierdurch wurde zugleich das Allgemeines Persönlichkeitsrecht der klagenden Person in seiner Ausprägung des Schutzes der geschlechtlichen Identität verletzt.

Ansprüche auf Unterlassung oder eine Entschädigung in Geld können aufgrund der konkreten Gestaltung des Einzelfalls jedoch nach den weiteren Ausführungen des Senats nicht mit Erfolg geltend gemacht werden.

Ein Anspruch auf Unterlassung besteht mangels einer dafür erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht. Zwischenzeitlich hat das beklagte Unternehmen im Anredefeld neben den Bezeichnungen „Frau“ und „Herr“ die Auswahlmöglichkeit „Divers/keine Anrede“ aufgenommen. Sie hat damit eine geschlechtsneutrale Anrede für die Zukunft sichergestellt. Die klagende Person wird bei der Auswahl dieses Feldes nur noch mit der Höflichkeitsform „Guten Tag [Vorname Nachname]“ angesprochen. Ihr wird nicht mehr zugemutet, sich mit der Wahl einer geschlechtsspezifischen Anrede einer Identität zuzuordnen, die der eigenen nicht entspricht. Deshalb sowie nach den weiteren Umständen des Streitfalles sind weitere Verletzungen des Benachteiligungsverbots nicht mehr ernsthaft zu erwarten.

Auch ein Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung in Geld steht der klagenden Person nicht zu. Nicht jede Berührung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts löst einen Anspruch auf Geldentschädigung aus. Dafür erforderlich ist vielmehr eine schwerwiegende Verletzung des Benachteiligungsverbots, die eine gewisse Intensität der Herab- und Zurücksetzung erreicht. Diese Voraussetzungen liegen im vorliegend zu entscheidenden Einzelfall jedoch nicht vor. Die Benachteiligung wurde nur im privaten Bereich und nicht in der Öffentlichkeit vorgenommen; sie wiegt deshalb weniger schwer. Der Grad des Verschuldens der Beklagten ist gering. Ihr kam es ersichtlich nicht darauf an, einer kaufinteressierten Person eine Angabe zu ihrer geschlechtlichen Zuordnung abzuverlangen; Zweck der vorzunehmenden Auswahl war lediglich, eine im Kundenverkehr übliche korrekte Anrede der bestellenden Person im Rahmen der weiteren Abwicklung des Massengeschäfts zu ermöglichen. Zudem hat sich die Beklagte bereits auf eine erste Beschwerde der klagenden Person hin bemüht, deren Anliegen durch eine Änderung des Internetauftritts Rechnung zu tragen.

Die Entscheidung ist rechtskräftig.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 14.12.2021, Aktenzeichen: 24 U 19/21
Vorinstanz: Landgericht Mannheim, Urteil vom 7.5.2021, Aktenzeichen: 9 O 188/20



OLG Karlsruhe: EncroChat-Daten sind ein zulässiges Beweismittel und können im Strafverfahren verwertet werden

OLG Karlsruhe
Beschluß vom 10.11.2021
2 Ws 261/21; HEs 2 Ws 311/21


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass EncroChat-Daten ein zulässiges Beweismittel sind und im Strafverfahren verwertet werden können.

Aus den Entscheidungsgründen:

Hinsichtlich des dringenden Tatverdachts und der Beweislage wird zunächst auf die Anklageschrift vom 9.8.2021 verwiesen. Der dringende Tatverdacht gründet sich dabei im Wesentlichen auf die Erkenntnisse aus der zwischen den Tatbeteiligten über EncroChat geführten Kommunikation, die den deutschen Ermittlungsbehörden von den französischen Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt wurden.

Entgegen der von der Verteidigung insoweit erhobenen Einwendungen sind diese Erkenntnisse nach vorläufiger Bewertung auf der Grundlage des Akteninhalts verwertbar.

1. Dabei ist unter Berücksichtigung der in anderen obergerichtlichen Entscheidungen (KG, Beschluss vom 30.8.2021 – 2 Ws 93/21 - 161 AR 134/21, juris; OLG Brandenburg, Beschluss vom 3.8.2021 – 2 Ws 102/21 [S]; 2 Ws 96/21, juris; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 21.7.2021 – III 2 Ws 96/21; OLG Rostock, Beschluss vom 11.5.2021 – 20 Ws 121/21BeckRS 2021, 11981 = NJ 2021, 372-374; OLG Schleswig SchlHA 2021, 197; OLG Rostock, Beschluss vom 23.3.2021 – 20 Ws 70/21, juris; OLG Hamburg, Beschluss vom 29.1.2021 – 1 Ws 2/21 –, juris; OLG Bremen NStZ-RR 2021, 158) mitgeteilten Erkenntnisse von folgendem Verfahrensgang auszugehen:

Den in Frankreich durchgeführten und aufeinander aufbauenden Ermittlungsmaßnahmen lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Im Rahmen von sieben nicht im Zusammenhang stehenden Ermittlungsverfahren - in fünf Fällen handelte es sich ausschließlich um Betäubungsmitteldelikte (436 kg Cannabisharz / 100 kg Cannabisharz / 30 kg Cannabisharz / 30 kg Cannabisharz / 12 kg Cannabiskraut, 6 kg Heroin, 1 kg Crack), in einem Fall um ein Betäubungsmitteldelikt (6 kg Cannabisharz) sowie um eine Diebstahlsserie von Luxuskraftfahrzeugen und in einem weiteren Fall um bandenmäßig organisierten Kraftfahrzeugdiebstahl - der französischen Behörden in den Jahren 2017 und 2018 wurden verschlüsselte Telefone unter „EncroChat-Lizenz“ sichergestellt.

Weitere Recherchen ergaben, dass diese Telefone auf einer frei zugänglichen Internetseite mit folgenden Produktmerkmalen beworben wurden: „Garantie der Anonymität, personalisierte Android Plattform, doppeltes Betriebssystem, allerneueste Technik, automatische Löschung von Nachrichten, schnelles Löschen, Unantastbarkeit, Kryptografie-Hardwaremodul“. Folgende Anwendungen waren auf dieser Art von Telefonen verfügbar: „EncroChat (lnstant-Secure Messaging Kunde), EncroTalk (Chiffrierung der Sprachkonversationen auf IP), EncroNotes (Chiffrierung der lokal auf dem Gerät gespeicherten Notizen)“. Ein Erwerb solcher Endgeräte war jedoch nicht über die offizielle Webseite dieses Unternehmens möglich.

Auf der Verkaufsplattform eBay wurden derartige Geräte für 1.610 EUR angeboten, wobei dieser Preis eine Nutzerlizenz für die Dauer von (nur) sechs Monaten beinhaltete. Personen, die sich nach außen als Verantwortliche der Firma EncroChat präsentierten, existierten nicht. Einen offiziellen Sitz eines Unternehmens EncroChat gab es ebenfalls nicht.

Anhand der Auswertung eines der beschlagnahmten Mobiltelefone konnten die Ermittlungsbehörden aufgrund der aus- und eingehenden Datenströme feststellen, dass eine Datenverbindung zu einem in Roubaix (Frankreich) betriebenen Server bestand. Dieser Server war von der Gesellschaft „Virtue Imports“ mit Sitz in Vancouver/Kanada angemietet.

Nach Einholung eines richterlichen Beschlusses wurden am 21.12.2018 die Daten des vorgenannten Servers kopiert und in der Folgezeit ausgewertet. Die Ermittlungen wurden zu diesem Zeitpunkt wegen des Verdachts der Bildung einer „kriminellen Vereinigung zur Begehung von Straftaten oder Verbrechen, die mit zehn Jahren Haft bestraft werden“, (und insbesondere Verbrechen des Betäubungsmittel-/Drogenhandels laut Artikel 222-37 des französischen Strafgesetzbuches) sowie wegen weiteren Tatbeständen im Zusammenhang mit der Lieferung, dem Transfer und dem Import eines Verschlüsselungsmittels geführt.

Die kopierten Serverdaten förderten unter anderem zutage, dass die verwendeten SIM-Karten von einem niederländischen Betreiber stammten und im System insgesamt 66.134 SIM-Karten eingetragen waren. Es konnten knapp 3.500 Dateien mit Notizen entschlüsselt werden, die nach Lage der Dinge in Verbindung mit illegalen Aktivitäten, insbesondere dem Drogenhandel, standen. So zeigten beispielsweise die Notizen eines Nutzers hochwahrscheinlich dessen Einbindung in den Drogenhandel über Häfen und dessen Möglichkeiten zur Geldwäsche in Paris durch Zahlungsströme in Richtung Marokko.

Aufgrund richterlicher Genehmigungen des Gerichts in Lille vom 30.1.2020 für den Einsatz einer Computerdaten-Abfangeinrichtung erfolgte sowohl auf dem Server als auch auf den mit diesem Server verbundenen Endgeräten die Installation einer „Trojanersoftware“ und schließlich mangels anderweitiger Ermittlungsmöglichkeiten – ebenfalls mit richterlicher Genehmigung desselben Gerichts vom 20.3.2020 – eine Umleitung aller Datenströme (DNS-Umleitung) des vorgenannten Servers in Roubaix ab dem 1.4.2020. Dabei wurde bekannt, dass von der Datenabfangmaßnahme 32.477 Nutzer in 121 Ländern betroffen waren. Hiervon befanden sich 380 Nutzer ganz oder teilweise im französischen Hoheitsgebiet, von denen nach Einschätzung der französischen Behörden mindestens 242 Personen – mithin über 60 % – das verschlüsselte Kommunikationssystem zu kriminellen Zwecken nutzten. Das Nutzungsverhalten der übrigen Personen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgewertet oder diese waren inaktiv.

Am 7.4.2020 wurden die Ermittlungen auf Transport, Besitz, Erwerb, Anbieten oder Abgabe von Drogen/Betäubungsmitteln und den Besitz und Erwerb von Waffen ohne Genehmigung ausgedehnt, nachdem nähere Informationen zum Netzwerk der Händler der EncroChat-Telefone bekannt geworden waren. In einem an einen australischen Händler versandten „Leitfaden“ zur Vermarktung der chiffrierten Telefone, der den Ablauf der unterschiedlichen Kaufphasen bis hin zum endgültigen Verkauf an die Nutzer schilderte, wurde unter anderem auch erklärt, dass die Zahlung vorzugsweise in Kryptowährung (Bitcoin) erfolgen solle, dass man sich gegenüber der Polizei verdeckt halten und insbesondere vermeiden müsse, durch mengenmäßig zu große Lieferungen aufzufallen. Dem Händler, dessen Hauptaktivität der Kokainhandel gewesen sein soll, wurde auch versichert, dass die Geräte weder „abgehört“ noch unrechtmäßig genutzt werden könnten, wenn sie „in schlechte Hände“ fielen. Insbesondere wurde darauf hingewiesen, dass der Polizei eine Lokalisierung nicht möglich sei, wenn diese an die IMEI und die SIM des Telefons gelange.

Aufgrund dieser Erkenntnisse wurden die aufgrund der richterlichen Anordnung zeitlich begrenzten technischen Maßnahmen zunächst für einen Monat ab 1.5.2020 und darauffolgend für weitere vier Monate ab 1.6.2020 – jeweils mit richterlichem Beschluss – verlängert und die Deliktstatbestände, derentwegen ermittelt wurde, erweitert. Die Maßnahmen endeten in Frankreich jedoch bereits mit der Einstellung des Geschäftsbetriebs des Unternehmens EncroChat nach ihrem Bekanntwerden am 28.6.2020.

Zu einer Unterrichtung der Bundesrepublik Deutschland - als zu unterrichtender Mitgliedstaat - durch die Republik Frankreich - als überwachender Mitgliedsstaat im Sinne von Art. 31 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3.4.2014 (ABl. L 130/1) - RL-EEA - dahingehend, dass sich die Zielperson der Überwachung auf deutschem Hoheitsgebiet befindet oder befunden hat, kam es zunächst nicht. Ebenso unterblieb auch eine Mitteilung der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 31 Abs. 3 RL-EEA, dass die Überwachung durchzuführen oder zu beenden sei.

In der Folgezeit wurden die EncroChat-Daten dem BKA in der Zeit vom 3.4. bis zum 28.6.2020 übermittelt und dort aufbereitet. Von der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main wurden sodann getrennte Ermittlungsverfahren gegen die ermittelten Nutzer eingeleitet und den örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften über die jeweiligen Landeskriminalämter zugeleitet.

Vorangegangen war eine Mitteilung Frankreichs über die gewonnenen Erkenntnisse nach Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates vom 18.12.2006 über die Vereinfachung des Austausches von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. 386/89). Hiernach stellen nationale Strafverfolgungsbehörden den Strafverfolgungsbehörden anderer Mitgliedstaaten Informationen und Erkenntnissen unaufgefordert zur Verfügung stellen, wenn konkrete Gründe für die Annahme bestehen, dass diese dazu beitragen könnten, Straftaten nach Art. 2 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten aufzudecken, zu verhüten oder aufzuklären.

Am 2.6.2020 erließ die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main auf der Grundlage der Art. 5 ff. RL-EEA eine Europäische Ermittlungsanordnung, welche nach Art. 1 der Richtlinie auch auf die Erlangung von Beweismitteln, die sich bereits im Besitz der zuständigen Behörden des Vollstreckungsstaates befinden, erlassen werden kann. In Anhang A, Abschnitt C (Sonderheft Rechtshilfe, Bl. 1), in welchem die erbetenen Maßnahmen mitgeteilt werden, heißt es: Das BKA sei über Europol informiert worden, dass in Deutschland eine Vielzahl schwerster Straftaten (insbesondere Einfuhr und Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge) unter Nutzung von Mobiltelefonen mit der Verschlüsselungssoftware EncroChat begangen werden. In diesem Zusammenhang wurden die französischen Justizbehörden ersucht, die unbeschränkte Verwendung der betreffenden Daten bezüglich der über EncroChat ausgetauschten Kommunikation in Strafverfahren gegen die Täter zu genehmigen.

Diese Genehmigung ist am 13.6.2020 durch die Ermittlungsrichterin in Lille erteilt und sodann die Fortsetzung der – zuvor ohne Ersuchen erfolgten – Übermittlung der nunmehr ersuchten Daten über Europol angeordnet worden. Die französischen Behörden haben einer Verwendung der Daten im Rahmen eines jeden Ermittlungsverfahrens im Hinblick auf jedwedes Gerichts-, Strafverfolgungs- oder Untersuchungsverfahren zugestimmt.

In Bezug auf die Angeklagten im vorliegenden Verfahren erließ die Staatsanwaltschaft Freiburg am 26.4.2021 und am 31.5.2021 (bezüglich des mutmaßlich vom Mitangeklagten H. genutzten EncroChat-Accounts) sowie am 27.5.2021 (bezüglich des mutmaßlich vom Angeklagten L. genutzten EncroChat-Accounts) Europäische Ermittlungsanordnungen. Die entsprechenden Genehmigungen zur umfassenden Verwertung in deutschen Strafverfahren wurden von der Ermittlungsrichterin in Lille am 4.6./5.7.2021 (bezüglich H.) und am 18.6.2021 (bezüglich L.) erteilt.

2. Die jedenfalls die Grundlage der Verwertung im vorliegenden Verfahren bildenden Europäischen Ermittlungsanordnungen der Staatsanwaltschaft Freiburg sind rechtmäßig erlassen worden.
4
Außer den in § 91j Abs. 1 IRG enthaltenen formalen Vorgaben genügen diese Ermittlungsanordnungen auch den sich aus Art. 6 Abs. 1 RL-EEA ergebenden materiellen Anforderungen (vgl. Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 91j IRG Rn. 3). Danach darf eine Europäische Ermittlungsanordnung nur erlassen werden, wenn die im Ausland durchzuführende Maßnahme in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte angeordnet werden können (Art. 6 Abs. 1 lit. b RL-EEA). Zudem muss der Erlass der EEA auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. für die Zwecke des ihr zugrunde liegenden Strafverfahrens unter Berücksichtigung der Rechte der betroffenen Person notwendig und verhältnismäßig sein (Art. 6 Abs. 1 lit. a RL-EEA).

Ob sich die Prüfung dabei bloß auf die Frage der Genehmigung der Verwertung der bereits erhobenen Beweismittel beschränkt oder sich weitergehend auch auf die Rechtmäßigkeit der Erhebung der Beweise erstreckt, kann letztlich dahinstehen, nachdem bereits die Beweiserhebung auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre.

a) Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit des Zugriffs auf die Endgeräte ist dabei im Blick zu behalten, dass sich die Ermittlungen jedenfalls auch gegen die Vertreiber der Endgeräte richteten. Danach findet der Zugriff auf die von den Angeklagten genutzten Endgeräte und die darauf gespeicherten Daten seine Grundlage jedenfalls in § 100b StPO. Auf der Grundlage der zu Vertrieb und Nutzung der mit der EncroChat-Software versehenen Endgeräte bekannt gewordenen Besonderheiten - konspirativer Vertrieb hochpreisiger mit Verschlüsselungstechnik versehener Endgeräte, die für eine konventionelle Nutzung nicht eingesetzt werden können - bestand der Anfangsverdacht gegen die Vertreiber der Geräte, damit bewusst die Begehung schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität, die zum Katalog der in § 100b Abs. 2 StPO aufgeführten Taten gehören, zu unterstützen (vgl. KG a.a.O., Rn. 48 bei juris). Der Zugriff auf die Endgeräte war dabei gemäß § 100b Abs. 3 Nr. 2 StPO zulässig, weil direkte Ermittlungsmaßnahmen gegen die namentlich nicht bekannten Vertreiber nicht möglich waren und deshalb nur der Zugriff auf die mit den vertriebenen Endgeräten geführte Kommunikation weiteren Aufschluss über die Verwendung für die Begehung strafbarer, dem Katalog des § 100b Abs. 2 StPO unterfallender Handlungen erwarten ließ. Allein der Zugriff auf den Server, über den die Kommunikation geleitet wurde, erlaubte wegen der vorherigen Verschlüsselung bereits auf dem Endgerät keinen Zugriff auf die Kommunikationsinhalte.

b) Die Auswertung der auf den Endgeräten gespeicherten Kommunikationsinhalte, die die Beteiligung der Angeklagten an Betäubungsmittelstraftaten gemäß § 29a Nr. 2 BtMG und damit einer Katalogtat gemäß § 100a Abs. 2 Nr. 7 lit. b StPO belegten, hätten sodann auch nach deutschem Recht die Überwachung der laufenden Kommunikation gemäß § 100a Abs. 1 StPO gerechtfertigt, nachdem wegen des im Übrigen konspirativen Vorgehens der Beteiligten andere Ermittlungsmaßnahmen keinen Erfolg versprachen.

3. Soweit bei der Erhebung der Beweise durch die französischen Behörden nicht alle dafür maßgeblichen Rechtsvorschriften beachtet worden sind, führt dies im Ergebnis nicht zu einer Unverwertbarkeit der gewonnenen Beweismittel.

a) Ob das Vorgehen der französischen Behörden innerhalb des französischen Staatsgebiets den Vorgaben des französischen Rechts entsprach, ist grundsätzlich der Prüfung durch den Senat entzogen (BGHSt 58, 32); Verstöße gegen den ordre public sind insoweit nicht ersichtlich.

b) Der Zugriff auf die Endgeräte der Angeklagten in Deutschland ist aber an den rechtlichen Vorgaben der Art. 30, 31 RL-EEA zu messen (vgl. auch §§ 59 Abs. 3, 91c Abs. 2 Nr. 2 lit. c dd IRG). Die Unterrichtung der deutschen Behörden, zu der die französischen Behörden nach Art. 31 Abs. 1 RL-EEA jedenfalls ab dem Zeitpunkt verpflichtet waren, ab dem sie Kenntnis davon hatten, dass die von der Überwachung betroffenen Personen sich auf deutschem Staatsgebiet aufhielten, ist vorliegend jedoch nicht erfolgt, so dass eine - gemäß Art. 6 Abs. 1 lit. b RL-EEA zwingend durchzuführende - Prüfung der Zulässigkeit der Maßnahme nach deutschem Recht durch die zuständige Behörde nicht erfolgen konnte.

c) Dieser Verstoß führt jedoch nicht zu einem Beweisverwertungsverbot.

Ein allgemein geltender Grundsatz, demzufolge jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht, ist dem Strafverfahrensrecht fremd und auch weder von Verfassungs wegen noch durch die Europäische Menschenrechtskonvention oder das Recht der Europäischen Union geboten (BVerfG NJW 2008, 3053; 2011, 2417; BVerfGE 130, 1; KG a.a.O., jew. m.w.N.). Auch wenn die Strafprozessordnung nicht auf Wahrheitserforschung "um jeden Preis" gerichtet ist, schränkt die Annahme eines Verwertungsverbotes eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts ein, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn ausreichende Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden. Daran gemessen bedeutet ein Beweisverwertungsverbot eine begründungsbedürftige Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist (BVerfGE 33, 367, 383; 46, 214, 222; 122, 248, 272 f.; BGHSt 40, 211, 217; 44, 243, 249; 51, 285, 290; st. Rspr.). Ein Beweisverwertungsverbot ist aber zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen, bei denen die grundrechtlichen Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten (vgl. BVerfGE 113, 29, 61; NJW 1999, 273; NJW 2006, 2684). Ein absolutes Beweisverwertungsverbot unmittelbar aus den Grundrechten hat das Bundesverfassungsgericht nur in den Fällen anerkannt, in denen der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist (vgl. BVerfGE 34, 238, 245 f.; 80, 367, 374 f.; 109, 279, 320). Im Übrigen bedarf es einer Abwägung der für und gegen die Verwertung sprechenden Gesichtspunkte im Einzelfall. Für die Verwertbarkeit spricht stets das staatliche Aufklärungsinteresse, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, welches Gewicht der Rechtsverstoß hat. Dieses wird im konkreten Fall vor allem dadurch bestimmt, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde, welchen Schutzzweck die verletzte Vorschrift hat, ob der Beweiswert beeinträchtigt wird, ob die Beweiserhebung hätte rechtmäßig durchgeführt werden können und wie schutzbedürftig der Betroffene ist (BVerfGE 130, 1 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall ist dabei in die Abwägung einzustellen, dass bei Beachtung der rechtlichen Vorgaben der Überwachung aller Voraussicht nach von der zuständigen Behörde nicht widersprochen worden wäre (vgl. dazu Art. 31 Abs. 3 RL-EEA), nachdem die Beweiserhebung - wie gezeigt - auch nach deutschem Recht zulässig gewesen wäre. Zudem dienen die gewonnenen Beweise der Aufklärung und Verfolgung schwerer Straftaten der organisierten Kriminalität, die auf andere Weise nicht zu bewerkstelligen wäre. Weder sind mit der Beweisgewinnung durch die französischen Behörden Zuständigkeitsvorgaben umgangen worden (sog. Befugnis-Shopping) noch ist eine gezielte Missachtung der komplexen rechtshilferechtlichen Vorschriften erkennbar. Umgekehrt ist zwar zu berücksichtigen, dass mit den Ermittlungsmaßnahmen in die besonders sensiblen Bereiche des Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG) bzw. des Schutzes der Integrität informationstechnischer Systeme als Teil des ebenfalls grundrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 GG, vgl. dazu BVerfGE 120, 274) eingegriffen wurde. Dies wird allerdings dadurch relativiert, dass die Angeklagten diesen Schutz bewusst zur Begehung schwerer Straftaten missbraucht haben und nach den gesamten Umständen, insbesondere der fehlenden Möglichkeit, die überwachten Geräte für konventionelle Kommunikation zu verwenden, von vornherein nicht zu erwarten war, dass mit der Überwachung schutzbedürftige sensible Daten gesammelt werden würden. In der Zusammenschau wiegt der Rechtsverstoß danach vorliegend nicht so schwer, dass deswegen ein Beweisverwertungsverbot geboten wäre (ebenso OLG Hamburg a.a.O.; OLG Brandenburg a.a.O.; KG a.a.O.).

II. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO), die nicht durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen nach § 116 StPO in ausreichendem Maße gemindert werden kann.

Die im Falle einer Verurteilung unter Heranziehung der gesetzlichen Strafrahmen, auch unter Berücksichtigung anzurechnender Untersuchungshaft und einer möglichen, wenn auch angesichts der Schwere der vorgeworfenen Straftaten, die ihrem gesamten Gepräge nach dem Bereich der schweren, organisierten Kriminalität zuzuordnen sind, durchaus nicht selbstverständlichen vorzeitigen Entlassung, bestehende hohe Straferwartung in dem hier anhängigen Verfahren begründet für den Beschuldigten einen erheblichen Fluchtanreiz, dem keine ausreichenden fluchthemmenden Umstände entgegenstehen.

Dabei wird nicht verkannt, dass nicht allein aus der Straferwartung auf das Bestehen von Fluchtgefahr geschlossen werden kann (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 112 Rn. 24 m.w.N.; KK-Graf, StPO, 8. Aufl., § 112 Rn. 19) und dass bei der Beurteilung der Fluchtgefahr jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe ausscheidet, insbesondere die Annahme unzulässig ist, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets (oder nie) ein rechtlich beachtlicher Fluchtanreiz bestehe (KG Berlin, StV 2017, 450). Vielmehr ist eine umfassende Abwägung aller für und gegen eine bevorstehende Flucht sprechenden Umstände des konkreten Einzelfalles vorzunehmen, wobei eine hohe Straferwartung erfahrungsgemäß einen höheren Fluchtanreiz bietet (vgl. OLG Karlsruhe - Senat - StV 2010, 31). Die für eine Fluchtgefahr sprechenden „bestimmten Tatsachen“ brauchen dabei aber nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts festzustehen; es genügt derselbe Wahrscheinlichkeitsgrad wie beim dringenden Tatverdacht. Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr ist zudem nicht nur auf äußerlich zutage liegende Tatsachen abzustellen, sondern auch auf Erfahrungssätze und innere Tatsachen, auf die nach der Lebenserfahrung oder aufgrund äußerer Umstände geschlossen werden kann (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 8.4.2019 - 3 Ws 102/19 -, BeckRS 2019, 7771).

Gemessen hieran sind in dem hier zu beurteilenden Fall folgende Umstände zu berücksichtigen: Der Angeklagte hat im Falle seiner Verurteilung angesichts der ganz erheblichen gehandelten Mengen unterschiedlicher Betäubungsmittel (mindestens 5 Kilogramm Kokain, 335 Kilogramm Marihuana) ungeachtet des noch nicht feststehenden Wirkstoffgehalts, der teilweisen Sicherstellung der Betäubungsmittel und des Fehlens von Vorstrafen mit der Verhängung einer erheblichen, mehrjährigen Gesamtfreiheitsstrafe zu rechnen, die weit oberhalb des bewährungsfähigen Bereichs liegen dürfte. Die gesetzliche Mindeststrafe für die in Täterschaft begangenen Delikte beträgt jeweils ein Jahr. Die Annahme minder schwerer Fälle erscheint nach gegenwärtigem Erkenntnisstand angesichts der Menge der gehandelten Betäubungsmittel, darunter auch solche mit hohem Suchtpotential, aber auch wegen des sonstigen Tatbildes (Verwendung von Krypto-Handys, teilweise wöchentlicher Umsatz großer Betäubungsmittelmengen unter Einsatz erheblicher finanzieller Mittel) eher fernliegend.

Aus der Höhe der im Falle einer Verurteilung drohenden Straferwartung ergibt sich für den Angeklagten ein so erheblicher Fluchtanreiz, sei es eine Flucht ins europäische Ausland oder ein Untertauchen im Inland, dass den vorhandenen familiären und beruflichen Bindungen kein ausreichendes fluchthemmendes Gewicht beigemessen werden kann. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Fortführung des vom Angeklagten betriebenen Gewerbes im Hinblick auf die längere Inhaftierung, aber auch die im Raum stehende Einziehung von Wertersatz von mehr als 1,6 Millionen Euro erheblich in Frage gestellt ist. Allein die Beziehungen zu seiner Ehefrau und den beiden gemeinsamen Kindern sowie zu einem Sohn aus einer früheren Verbindung sind vor diesem Hintergrund nicht geeignet, die Fluchtgefahr ausreichend zu mindern, zumal es wahrscheinlich erscheint, dass er aufgrund der über einen längeren Zeitraum betriebenen Betäubungsmittelgeschäfte über Kontakte ins kriminelle Milieu, auch im Ausland - nach den vorliegenden Erkenntnissen wurde jedenfalls das Marihuana aus Spanien bezogen - verfügt, die ihm eine Flucht erleichtern.

Dass es dem Angeklagten gewisse Schwierigkeiten bereiten dürfte, dauerhaft unterzutauchen, und er bei einer Flucht ins Ausland mit seiner Auslieferung rechnen müsste, gilt für den Angeklagten in gleicher Weise wie für jeden anderen einer Straftat Verdächtigen. Mit dieser Argumentation lässt sich eine Fluchtgefahr jedoch nicht grundsätzlich verneinen, zumal es für die Annahme von Fluchtgefahr genügt, wenn der Beschuldigte sich dem Verfahren zumindest für eine gewisse Dauer zu entziehen sucht (vgl. KK-Graf, StPO, a.a.O., § 112 Rn. 17 m.w.N.).

III. Dem in Haftsachen zu beachtenden Beschleunigungsgebot (Art. 5 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 MRK, § 121 Abs. 1 StPO) wurde entsprochen. Vermeidbare, den Strafverfolgungsorganen anzulastende Verzögerungen liegen nicht vor.

Wegen des Ablaufs des Ermittlungsverfahrens wird Bezug genommen auf den Zuleitungsbericht der Staatsanwaltschaft vom 20.10.2021, der den Beteiligten bekannt gemacht wurde.

Angesichts des Schweigens des Angeklagten und der weiteren Tatbeteiligten waren komplexe Ermittlungen zur Identifizierung der hinter den benutzten EncroChat-Accounts stehenden Personen erforderlich. Obwohl der Vorsitzende der inzwischen zuständigen großen Strafkammer alsbald nach Anklageerhebung Anstrengungen unternahm, mit den Beteiligten Termine für eine Hauptverhandlung abzustimmen, ist ein Beginn der Hauptverhandlung vor allem wegen der Verhinderung des Verteidigers des Angeklagten erst ab dem 13.1.2022 möglich. Da die Termine aber mit den Beteiligten abgestimmt sind, kann danach von einem zügigen Fortgang des Verfahrens und dessen zeitnahem Abschluss ausgegangen werden.

Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:

OLG Karlsruhe: Verstoß gegen Unterlassungserklärung wenn Lichtbild noch per Direkteingabe der URL oder über Suchmaschine aufrufbar ist

OLG Karlsruhe
Urteil vom 14.04.2021
6 U 94/20


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass ein Verstoß gegen eine strafbewehrte Unterlassungserklärung vorliegt, wenn ein Lichtbild noch per Direkteingabe der URL oder über Suchmaschine aufrufbar ist.

Aus den Entscheidungsgründen:

" 1. Die Beklagte hat mit dem Verstoß am 28.05.2016 den Vertragsstrafeanspruch in der mit der Klage geltend gemachten Höhe verwirkt.

a) Die Abrufbarkeit des Lichtbildes unter der genannten URL verstößt gegen die vertragliche Unterlassungspflicht der Beklagten gegenüber dem Kläger.

aa) Die Beklagte hat sich mit ihrer Unterlassungserklärung vom 21.4.2016 gegenüber dem Kläger verpflichtet, es u.a. zukünftig zu unterlassen, die Fotografie „[...]“ oder Teile hieraus öffentlich zugänglich zu machen oder öffentlich zugänglich machen zu lassen, ohne hierbei den Unterlassungsgläubiger namentlich als Urheber anzugeben.

Für den Fall des Verstoßes hat sie eine Vertragsstrafe in Höhe von mindestens 5.100 EUR versprochen, die vom Unterlassungsgläubiger festzusetzen und im Streitfall der Höhe nach vom zuständigen Gericht zu überprüfen ist. Die Annahme des Versprechens durch den Kläger am 27.4.2016 steht nicht im Streit.

bb) Unstreitig ist das Lichtbild „[...]“ im Internet nach Abgabe der Unterlassungserklärung und deren Annahme am 28.5.2016 unter der im landgerichtlichen Urteil auf Seite 5 genannten URL ohne Urhebernennung für jedermann im Internet abrufbar gewesen, der diese URL-Adresse kennt oder auffindet. Die Beklagte hatte das Lichtbild von der Unterseite ihrer Website (einer russischen Website der Beklagten), in die das Bild zuvor noch eingebunden gewesen ist, zwar unmittelbar nach Abgabe der Unterlassungserklärung entfernt, sie hat es aber ohne Verlinkung zu Webseiten unter der genannten URL im Internet belassen.

cc) Zu dem als Verstoß geltend gemachten Zeitpunkt (28.5.2016) war das Lichtbild allerdings nicht in eine Website eingebunden und konnte daher nicht über Inhalte einer Website abgerufen werden. Der Abruf war damit nur in Kenntnis der URL des Lichtbildes durch Eingabe dieser URL in den Browser oder über eine Suche nach dem konkreten, also vorbekannten, Lichtbild über eine Suchmaschine möglich. Ob der Kläger oder das von ihm mit der Recherche und Dokumentation beauftragte Unternehmen das Lichtbild aufgrund der Kenntnis der URL des Lichtbildes zum Zeitpunkt der Einbindung in eine Website oder über eine Bildersuchmaschine im Internet auf der Domain der Beklagten aufgefunden hat, ist nicht vorgetragen. Unstreitig konnte das Lichtbild jedenfalls ohne Mithilfe der Beklagten im Internet zugänglich aufgefunden und abgerufen werden.

In der Rechtsprechung wird unterschiedlich beurteilt, ob der Umstand der Abrufbarkeit eines Lichtbildes im Internet durch Eingabe einer URL oder durch Suche nach einem Lichtbild mit einer Suchmaschine auf diese Weise ein öffentliches Zugänglichmachen i.S. eines an den Wortlaut des Gesetzes anknüpfenden Vertragsstrafeversprechens darstellt.

(1) Der Senat hatte mit Urteil vom 12.9.2012 – 6 U 58/11 Juris Rn. 22 entschieden, dass es für ein öffentliches Zugänglichmachen genügt, dass es für einen Dritten, wenn - wie im Streitfall - zuvor eine Verlinkung mit einer Website bestanden hatte, möglich bleibt, das Lichtbild im Internet auch ohne genaue Kenntnis der URL aufzufinden. Der Umstand, dass das Lichtbild zu diesem Zeitpunkt nicht in eine Homepage eingebettet war, steht danach der Annahme des öffentlich Zugänglichmachens im Sinne der Unterlassungserklärung nicht entgegen. Das Auffinden ist aufgrund der vorangegangenen Nutzung unter Einbindung in eine Website möglich. Im dortigen Fall hatte der Senat ausgeführt, das Lichtbild könne unter der auf dem Rechner gegebenenfalls noch gespeicherte URL, welche den Nutzer unmittelbar auf die noch vorhandene Datei führe und zum anderen unter Einsatz von Suchmaschinen aufgefunden werden. Entsprechend hatte der Senat auch mit Urteil vom 3.11.2012 – 6 U 92/11 Juris Rn. 29 angenommen, dass ein Beklagter bei einer Unterlassungserklärung dieses Inhalts verpflichtet sei, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass das betreffende Lichtbild nicht mehr über ihre Webseite oder die von ihr verwendete URL öffentlich zugänglich ist und dass das bloße Löschen eines Links zu dem redaktionellen Beitrag, in dessen Zusammenhang das Lichtbild Verwendung gefunden hatte, für die Erfüllung dieser Verpflichtung nicht genügt. Diese Auffassung vertreten auch das Kammergericht mit Urt. v. 29.07.2019 (24 U 143/18, Juris Rn. 20 f., ZUM-RD 2020, 497) und das Oberlandesgericht Hamburg mit Urt. v. 09.04.2008 (5 U 124/07, Juris Rn. 38; ZUM-RD 2009, 72). Den von der Beklagten zitierten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (ZUM 2013, 874) und des LG Kölns (Urt. v. 30.01.2014 ZUM-RD 2014, 220) ist nichts Gegenteiliges entnehmen.

(2) Das Oberlandesgericht Frankfurt (Urt. v. 16.6.2020 – 11 U 46/19 Juris Rn. 33 ff., ZUM-RD 2020, 508) hingegen ist der Ansicht, dass der Umstand, dass ein Lichtbild durch die Eingabe der URL-Adresse zugänglich sei, nicht die Anforderung an ein „öffentliches Zugänglichmachen“ i.S. des § 19a UrhG und eines daran anknüpfenden Unterlassungsvertrages erfülle. Denn der Begriff „öffentlich“ beinhalte bei europarechtlich zutreffender Auslegung des § 19a UrhG, der einer Umsetzung des Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 2001/29/EG diene, eine bestimmte Mindestschwelle, die bei einer allzu kleinen oder gar unbedeutenden Mehrzahl betroffener Personen nicht erreicht werde (EuGH, Urt. v. 26.4.2017 – C-527/15 Rn. 44 [dort zum Begriff der öffentlichen Wiedergabe]). Beschränke sich der Personenkreis, für den das Lichtbild zugänglich sei, faktisch auf diejenigen Personen, denen die URL-Adresse zuvor, als das Lichtbild vor Abgabe der Unterlassungserklärung noch im Rahmen der Anzeige frei zugänglich gewesen sei, zur Kenntnis gelangt sei, oder denen die Adresse von solchen Personen weitergegeben worden sei, und seien dies neben dem Kläger nicht „recht viele Personen“ i.S. der EuGH-Rechtsprechung, stelle dies keine ausreichende Zahl von Personen dar. Daher fehle es an einem öffentlichen Zugänglichmachen. Gegen die Entscheidung ist beim Bundesgerichtshof nach Juris unter dem Aktenzeichen I ZR 119/20 die vom Berufungsgericht zugelassene Revision anhängig.

(3) Der Senat hält an seiner oben unter (1) wiedergegeben Auffassung fest, nach der ein Schuldner – nach vorangegangener urheberrechtswidriger Nutzung eines Lichtbildes auf seiner Website – gegen seine nachfolgend eingegangene vertragliche Verpflichtung, es zu unterlassen, ein Lichtbild ohne Urheberbenennung öffentlich zugänglich zu machen, verstößt, wenn dasselbe Lichtbild im Anschluss durch Eingabe der URL oder durch Suche mit einer Suchmaschine im Internet weiterhin unter der Domainadresse des Schuldners von jedermann aufgerufen werden kann und der Urheber nicht benannt ist.

Im Streitfall ist es nicht maßgeblich, ob ein nicht mit einer Website verknüpftes und nur über die Direkteingabe einer URL im Internet abrufbares Lichtbild öffentlich zugänglich i.S. des § 19a UrhG gemacht wird. Daran bestehen Zweifel, da der Begriff „öffentlich“ erfordert, dass eine nicht allzu kleine oder unbedeutende Zahl das Lichtbild wahrnehmen können muss und dies nicht der Fall ist, wenn mangels Kenntnis von dem Lichtbild nach diesem nicht gesucht werden kann und die URL nur einem sehr eingeschränkten Personenkreis bekannt ist. So aber verhält es sich im Streitfall nicht: Denn die Beurteilung des Streitfalls ist von zwei Unterschieden gekennzeichnet. Zum einen wird kein Anspruch wegen eines Verstoßes gegen § 19a UrhG, sondern ein Anspruch auf Zahlung einer Vertragsstrafe wegen Verstoßes gegen eine vertragliche Unterlassungsverpflichtung geltend gemacht. Zum zweiten war das Lichtbild zuvor – ohne Urheberbenennung und unter Einbindung in eine Website – im Internet einem unüberschaubar großen Personenkreis zugänglich gemacht worden. Ob der Umstand, dass das Lichtbild ohne Benennung des Urhebers weiterhin über die Eingabe einer URL oder gegebenenfalls über eine Bildersuchmaschine, nicht aber über die Einbindung einer Website im Internet zugänglich ist, gegen die vorgenannte Unterlassungsverpflichtung verstößt, ist bei dieser Ausgangslage im Tatsächlichen durch Auslegung des Unterlassungsvertrages zu ermitteln.

Bei der Auslegung des Unterlassungsvertrages ist nach §§ 133, 157 BGB davon auszugehen, dass die Parteien mit der Formulierung der Verpflichtung, es zu unterlassen, „die Fotographie (…) öffentlich zugänglich zu machen (…), ohne hierbei den Unterlassungsgläubiger namentlich als Urheber anzugeben“ in jedem Fall das zuvor als rechtswidrig beanstandete Verhalten erfassen und mithin zumindest die Wiederholungsgefahr aus dem zuvor begangenen urheberrechtlichen Verstoß beseitigen wollten. Die Unterlassungsverpflichtung, die der Kläger angenommen hat, sollte damit jedenfalls geeignet sein, die Geltendmachung eines Unterlassungsanspruches wegen des beanstandeten Verhaltens als urheberrechtswidriges öffentliches Zugänglichmachen i.S. des § 19a UrhG des nach § 72, § 2 UrhG geschützten Lichtbildes auszuschließen. Gegenstand der damaligen Beanstandung war das öffentliche Zugänglichmachen des Lichtbildes auf der Homepage der Beklagten ohne Angabe des Urhebers. Zum damaligen Zeitpunkt war das Lichtbild unstreitig in eine verlinkte Website (die russische Unterseite der Beklagten) eingebettet und der Urheber nicht benannt. Die Beklagte hat damit gegen das Recht des Urhebers nach § 13 UrhG auf Anerkennung seiner Urheberschaft am Werk verstoßen. Der Urheber kann bestimmen, ob das Werk mit einer Urheberbezeichnung zu versehen und welche Bezeichnung zu verwenden ist. Der Anspruch auf Namensnennung folgt aus dem Persönlichkeitsrecht auf Anerkennung der Urheberschaft und ist daher in allen Fällen gegeben, in denen das Werk, sei es in bearbeiteter oder in unbearbeiteter Form, an die Öffentlichkeit herangeführt wird (BGH GRUR 1963, 40, 42 – Straßen - gestern und morgen). Das geschieht nicht nur durch das Original, sondern auch durch Vervielfältigungsstücke (BGH NJW 1994, 2621, 2622 - Namensnennungsrecht des Architekten; amtl. Begr. BT-Drucks IV/270, 44). Die damalige Nutzung auf der Website, die zur Abgabe der Unterlassungserklärung geführt hatte, war – falls ein Nutzungsvertrag zustande gekommen sein sollte – auch nicht durch die Nutzungsbedingungen von [P.] gedeckt. Denn nach Ziff. 8 der AGB v. 28.09.2007 hat „der Nutzer (…) am Bild selbst oder am Seitenende [P.] und den Urheber mit seinem beim Upload des Bildes genannten Fotografennamen bei [P.] in folgender Form zu nennen.“ Weder am Bild auf der Website (der russischen Unterseite der Beklagten) noch am Seitenende war der Kläger als Urheber benannt.

Der Umstand, dass es vorliegend an einer Einbettung des Lichtbildes in eine Website, wie dies Anlass der abgegebenen Unterlassungserklärung war, fehlt, führt aber nicht von vornherein zu der Annahme, dass die beanstandete Handlung nicht von der Unterlassungsverpflichtung umfasst ist. Denn eine Unterlassungsvereinbarung ist darüber hinaus dahin auszulegen, dass ein Schuldner nicht nur die Unterlassung derartiger Handlungen, sondern auch die Vornahme möglicher und zumutbarer Handlungen zur Beseitigung des Störzustandes schuldet (vgl. BGH Urt. v. 18.09.2014 – I ZR 76/13 Juris Rn. 67– CT-Paradies). Besteht die Verletzungshandlung in dem urheberrechtswidrigen öffentlichen Zugänglichmachen eines Lichtbildes ohne Urheberbenennung, kann aus der Unterlassungsverpflichtung auch verlangt werden, dass der Schuldner durch geeignete Maßnahmen sicherstellt, dass ein zuvor in das Internet eingestelltes Lichtbild vor dem Zugriff Dritter geschützt wird, nicht mehr öffentlich zugänglich ist (Senat Urt. v. 03.12.2012, aaO Juris Rn. 29; KG Urt. v. 29.07.2019 aaO Juris Rn. 21; insoweit auch OLG Frankfurt Urt. v. 16.06.2020 aaO Juris Rn. 29). Die Beklagte war daher aufgrund ihrer vertraglichen Verpflichtung dazu angehalten, alles dafür zu tun, dass das Lichtbild zukünftig nicht ohne Urhebernennung öffentlich zugänglich wird. Die vertragliche Handlungspflicht zum Schutz vor einem Zugriff Dritter im Internet auf das konkrete Lichtbild geht damit gegebenenfalls weiter als die allgemeinen gesetzlichen (Unterlassungs-)Pflichten. Deshalb genügt es zur Erfüllung dieser Handlungspflicht nicht, das Lichtbild von der Website zu entfernen, es aber ohne selbst ergriffene technische Maßnahmen zur Verhinderung des Auffindens weiterhin im Internet ohne Urheberbenennung unter ihrer Domainadresse abzuspeichern. Denn es besteht aufgrund der vorangegangenen Nutzung des Lichtbildes auf ihrer Website die nicht nur abstrakte Möglichkeit, dass Dritte nach dem Lichtbild suchen, und dieses im Internet auf ihrer Seite auch ohne Verlinkung auf einer URL der Beklagten auffinden. Dass die Beklagte technische Maßnahmen ergriffen habe, damit dies nicht möglich ist, hat sie nicht behauptet.

(4) Ob die Annahme des Landgerichts zutrifft, dass der Unterlassungsvertrag für sich genommen dahin ausgelegt werden kann, dass mit ihm eine in den [P.]-Nutzungsbedingungen nicht vorgesehen Vertragsstrafe vereinbart ist, im Übrigen aber die Nutzungsbedingungen weiterhin gelten, ist zweifelhaft. Denn nach Ziff. 5 Abs. 1 der Nutzungsbedingungen ist die Nutzung nur „für die zulässigen Nutzungen in Übereinstimmung mit den jeweiligen Lizenzen (…)“ eingeräumt. An einer vorangegangenen zulässigen Nutzung durch die Beklagte hat es aber wegen der Wiedergabe des Lichtbildes auf ihrer Homepage ohne Urheberbenennung unter Verstoß gegen Ziff. 8 der Nutzungsbedingungen unzweifelhaft gefehlt.

Jedenfalls aber kommt diese Auslegung im Streitfall schon deshalb nicht in Betracht, da die Beklagte sich wegen eines vorangegangenen Verstoßes dem Kläger gegenüber bereits mit Schreiben v. 08.10.2014 verpflichtet hatte, es „zukünftig zu unterlassen, die Fotografie „[...]“ Ihres Mandanten oder Teile dieser Fotografie zu veröffentlichen, zu vervielfältigen, öffentlich zugänglich zu machen, zu bearbeiten oder umzugestalten“ (LGU S. 4, Klageschrift AS I 4) und die Beklagte schon deshalb – unabhängig von der Urheberbenennung – zu Nutzungshandlungen nicht berechtigt war.

Die Beklagte macht in diesem Zusammenhang außerdem ohne Erfolg geltend, dass die mit den nach dem Verstoß eingeführten Nutzungsbedingungen einhergehende Einschränkung der Pflicht zur Urheberbenennung (es bedarf bei der isolierten Darstellung des Bildes durch direkten Aufruf der Bild-URL keiner Urheberbenennung) bereits in die früheren Nutzungsbedingungen hinein zu lesen sei. Denn in jedem Fall hat sich die Beklagte abweichend von den Nutzungsbedingungen und über diese hinausgehend mit ihrer Unterlassungserklärung verpflichtet, es zu unterlassen, das genannte Lichtbild öffentlich zugänglich zu machen, ohne hierbei den Unterlassungsgläubiger namentlich als Urheber anzugeben.

(5) Und schließlich macht die Beklagte noch geltend, die nach den Nutzungsbedingungen der [P.] vereinbarte Verpflichtung könne nicht der Kläger als Dritter gegen sie geltend machen, da die schuldrechtliche Verpflichtung nur [P.] gegenüber bestehe. Die Beklagte verkennt, dass der Kläger keinen Anspruch aus den Nutzungsbedingungen, sondern aus dem von ihr ihm gegenüber abgegebenen Vertragsstrafeversprechen geltend macht.

(6) Soweit die Beklagte einwendet, sie habe sich nur demjenigen gegenüber verpflichten wollen, der wirklich ihr gegenüber Urheberrechte geltend machen könne und sie bestreite, dass der Kläger Urheber des Bildes „[...]“ sei, geht dies fehl. Die Tatsachen, die zur rechtlichen Wertung führen, dass der Kläger Urheber des Lichtbildes ist, hat das Landgericht als unstreitig festgestellt (LGU S. 3, 2. Abs.). Ein Tatbestandsberichtigungsantrag ist nicht gestellt worden, Gründe für Zweifel an der Feststellung i.S. des § 529 Abs. 1 Ziff. 1 ZPO) sind nicht aufgezeigt. Im Weiteren handelt es sich allenfalls um einen unbeachtlichen Motivirrtum. Der Kläger macht außerdem vorliegend gegen die Beklagte auch keine (gesetzlichen) Ansprüche als Urheber, sondern Ansprüche als Vertragspartner der Beklagten geltend.

b) Die Vertragsstrafe ist nach den obigen Darlegungen verwirkt (§ 339 S. 2 BGB). Die Beklagte handelte auch schuldhaft, sie handelte zumindest fahrlässig. Fahrlässig handelt, wer das Maß der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt außer Acht lässt. Die positive Kenntnis der Beklagten bzw. ihrer Organe von dem Verbleib des Lichtbildes unter der vorne festgestellten URL steht außer Zweifel. Das Handeln von Erfüllungsgehilfen muss sie sich zurechnen lassen (§ 278 BGB). Bei Einhaltung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätte die Beklagte auch erkannt, dass der Verbleib des Lichtbildes im Internet ohne Benennung des Urhebers unter ihrer Domainadresse gegen die mit dem Unterlassungsversprechen selbst eingegangene vertragliche Verpflichtung verstößt.

Nachdem die Vertragsstrafe verwirkt ist, besteht der Zahlungsanspruch in der mit der Klage geltend gemachten Mindesthöhe der versprochenen Strafe (5.100 EUR). Darüber hinaus besteht auch der Zahlungsanspruch auf Erstattung der notwendigen Kosten für die Dokumentation des Verstoßes als Verfolgungs- und Ermittlungskosten in Höhe von 47,60 EUR und nach § 288 Abs. 1, § 286 Abs. 1 BGB der geltend gemachte Zinsanspruch. Mit Schreiben vom 22.7.2016 hat die Beklagte die Ansprüche des Klägers ernsthaft und endgültig verweigert.

2. Der Zahlungsanspruch ist nicht verjährt.

Die regelmäßige Verjährungsfrist nach § 195 BGB beträgt drei Jahre. Sie beginnt mit dem Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist und der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste (§ 199 Abs. 1 BGB). Der Verstoß gelangte dem Kläger frühestens nach seiner Abmahnung des vorangegangenen Verstoßes mit Schreiben v. 17.3.2016 und spätestens mit der Dokumentation des Verstoßes durch das von ihm beauftragte Unternehmen am 28.5.2016 zur Kenntnis, so dass die Verjährung frühestens mit Ablauf des 31.12.2019 hätte eintreten können. Allerdings hemmt nach § 204 Nr. 1 BGB die Erhebung der Klage die Verjährung. Zwar ging die Klage bei Gericht am 13.12.2019 ein, nach § 253 Abs. 1 ZPO erfolgt die Erhebung der Klage aber (erst) durch die Zustellung der Klageschrift. Die Zustellung ist im Streitfall am 03.03.2020 erfolgt (PZU AS I AS 61). Nach § 167 ZPO wirkt aber die Zustellung auf den Eingang des Antrags (im Streitfall also auf den 13.12.2019) zurück, wenn die Zustellung demnächst erfolgt. Ist die Zustellung also demnächst erfolgt, hat sie die mit Ablauf des 31.12.2019 eintretende Verjährung wirksam gehemmt. Die Parteien streiten darüber, ob die Zustellung am 03.03.2020 noch als „demnächst“ i.S. des § 167 ZPO bewertet werden kann. Das Landgericht hat, da es bereits das Bestehen eines Anspruchs verneint hat, in der angegriffenen Entscheidung aus seiner Sicht folgerichtig zur Frage der Verjährung keine Ausführungen gemacht.

Die Rückwirkung der Zustellung nach § 167 ZPO ist wegen des gebotenen Vertrauensschutzes für den Empfänger nur vertretbar, wenn die Zustellung in nicht allzu erheblichem zeitlichem Abstand vom Fristablauf erfolgt (Zöller/Greger, ZPO, 33. Aufl., § 167 Rn. 10). Die Rechtsprechung legt diesem Merkmal neben der zeitlichen Komponente allerdings eine wertende Komponente bei, indem sie darauf abstellt, ob der Zustellungsbetreiber alles ihm zumutbare für eine alsbaldige Zustellung getan hat und der Rückwirkung keine schutzwürdigen Belange des Gegners entgegenstehen (BGH NJW 1999, 3125). Denn die gerechte Abwägung der beteiligten Interessen ist auch davon abhängig, wer für die Dauer des Zustellungsverfahrens verantwortlich ist. Verzögerungen durch gerichtliche Sachbehandlung sind einem Kläger nicht anzulasten. Deshalb steht der Beurteilung der Zustellung als „demnächst“, nicht der Umstand entgegen, dass der Kläger die Klage beim örtlich unzuständigen Landgericht erhoben hat. Denn auch mit der Klage vor dem unzuständigen Gericht hätte der Kläger die Zustellung der Klage erreichen können. Dies ist nicht nur durch die Einreichung der Klage bei dem zuständigen, sondern auch durch die Einreichung der Klage bei einem örtlich oder sachlich unzuständigen Gericht möglich. Denn ein örtlich oder sachlich unzuständiges Gericht muss die Sache nicht sofort an das zuständige Gericht verweisen und so die rechtzeitige Zustellung ermöglichen, sondern kann auch zunächst selbst die Zustellung der Klage verfügen (vgl. BGH MDR 2014, 47 Juris Rn26 [zur Wahrung einer Ausschlussfrist nach Art. 237 § 2 Abs. 2 EGGBG]). Daher kann es nicht dem Kläger angelastet werden, dass das unzuständige Landgericht weder den Gebührenvorschuss erhoben (vergl. Vermerk vom 8.1.2029, AS I 43) noch die Zustellung der Klageschrift veranlasst hat. Mit Beschluss vom 14.1.2020 ist das Verfahren an das zuständige Gericht verwiesen worden. Die Vorschussanforderung folgte mit Verfügung der Kostenbeamtin des zuständigen Gerichts mit Verfügung vom 24.1.2020 (AS I 53). Unstreitig hat der Kläger mit dem in Anlage K 12 (AS I 73) vorgelegten Überweisungsauftrag vom 24.1.2020 seiner Bank eine Anweisung zur Zahlung des Kostenvorschusses erteilt. Dass die Beklagte die Richtigkeit einer (darin liegenden) Behauptung der Ausführung des Überweisungsauftrages hat dahingestellt sein lassen, steht dem nicht entgegen. Angesichts des erteilten Überweisungsauftrages kann dem Kläger ein Zuwarten mit einer Sachstandsanfrage an das Gericht bis zum 10.2.2020 nicht als zögerlich vorgeworfen werden. Auch im Weiteren liegt kein zögerliches Handeln des Klägers vor: Auf seine Sachstandsanfrage war ihm mit Verfügung vom 13.2.2020 (AS I 56) durch den Vorsitzenden mitgeteilt worden, dass der Kostenvorschuss zwar angefordert, bislang aber nicht eingegangen und die Klage daher nach § 12 GKG nicht zugestellt worden sei. Das Schreiben des Vorsitzenden ist am 19.2.2020 vom Landgericht abgegangen. Daraufhin ist der Eingang des Kostenvorschusses bereits am 25.2.2020 und somit fünf Tage nach Abgang der Verfügung vom 13.2.2020 verbucht worden (vgl. Zahlungsanzeige in der Vorakte). Bei wertender Betrachtung ist bei diesen Umständen davon auszugehen, dass nicht der Kläger als Zustellungsbetreiber die Verzögerung der Zustellung herbeigeführt hat. Die Erhebung der Klage vor dem örtlich unzuständigen Gericht steht der Annahme einer Zustellung demnächst nicht entgegen, die Sachstandsanfrage ist zeitnah erfolgt und nach Mitteilung des fehlenden Eingangs des Kostenvorschusses ist dieser unmittelbar bezahlt worden. Der Zeitablauf begründet auch keine entgegenstehenden schützenswerten Interessen der Beklagten. Unter Berücksichtigung dieser Umstände, ist die Zustellung der Klage als „demnächst“ im Sinne des § 167 ZPO erfolgt zu bewerten und hat die Erhebung der Klage den Ablauf der Verjährungsfrist gehemmt. Der Zahlungsanspruch des Klägers ist daher nicht verjährt."


Den Volltext der Entscheidung finden Sie hier:


OLG Karlsruhe: Anspruch aus Betriebsschließungsversicherung bei Schließung wegen Corona-Lockdowns hängt von Formulierung und Transparenz der Versicherungsbedingungen ab

OLG Karlsruhe
Urteil vom 30.06.2021 - 12 U 4/21
Urteil vom 30.06.2021 - 12 U 11/21


Das OLG Karlsruhe hat entschieden, dass ein möglicher Anspruch aus einer Betriebsschließungsversicherung bei Schließung wegen des Corona-Lockdowns von Formulierung und Transparenz der Versicherungsbedingungen abhängt.

Die Pressemitteilung des Gerichts:

Leistungspflicht von Betriebsschließungsversicherungen bei Schließung in Folge der Corona-Pandemie

Der für Rechtsstreitigkeiten über Versicherungsverhältnisse zuständige 12. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Karlsruhe hat in zwei heute verkündeten Urteilen darüber entschieden, ob eine Betriebsschließungsversicherung auch dann eingreift, wenn die Schließung eines Hotel- bzw. Gaststättenbetriebs im „Lock-down“ aufgrund der Corona-Pandemie erfolgt ist. In einem Fall hat der Senat dabei einen Leistungsanspruch bejaht und in dem anderen Fall – bei anders formulierten Versicherungsbedingungen – einen Anspruch des Betriebsinhabers verneint. Entscheidend war jeweils die Frage, ob es der Versicherung gelungen war, die von ihr gewollte Beschränkung des Versicherungsschutzes auf einen Katalog von Krankheiten und Erregern, welcher das neuartige Corona-Virus nicht umfasst, in ihren Versicherungsbedingungen ausreichend klar und verständlich – und damit wirksam – zu regeln.

Der erste Fall (Aktenzeichen 12 U 4/21) betraf die vorübergehende pandemiebedingte Schließung eines Hotels mit angeschlossener Gaststätte in Heidelberg mit einer zum 1. Januar 2020 abgeschlossenen Betriebsschließungsversicherung. In den Versicherungsbedingungen wird mehrfach auf das Infektionsschutzgesetz (IfSG) Bezug genommen und bestimmt, dass eine Entschädigung für eine Betriebsschließung „beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger (siehe Nr. 2)“ geleistet wird, wobei der in dieser Nr. 2 enthaltene Katalog auf die „folgenden, im Infektionsschutzgesetz in den §§ 6 und 7 namentlich genannten Krankheiten oder Krankheitserreger“ verweist. Die COVID-19-Krankheit bzw. der SARS-CoV-2-Krankheitserreger sind dort nicht aufgeführt.

Die Begrenzung des Versicherungsschutzes auf einen abschließenden Katalog von Krankheiten und Krankheitserregern, welcher hinter dem Umfang des Infektionsschutzgesetzes zurückbleibt, ist hier nach der Beurteilung des Senats nicht hinreichend klar und verständlich erfolgt, so dass sie wegen Verstoßes gegen das gesetzliche Transparenzgebot für Allgemeine Geschäftsbedingungen unwirksam ist. Durch die in den Versicherungsbedingungen zunächst erfolgte wiederholte Bezugnahme auf das Infektionsschutzgesetz wird dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer der Eindruck vermittelt, dass jede Betriebsschließung auf Grund des Infektionsschutzgesetzes vom Versicherungsschutz erfasst sei. Dass der Versicherungsschutz demgegenüber durch den abschließenden Katalog meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger eingeschränkt ist, wird dem Versicherungsnehmer nicht deutlich genug vor Augen geführt. Der Versicherungsnehmer erkennt nicht, dass der Katalog in den Versicherungsbedingungen bereits bei seiner Erstellung nicht mehr dem Stand des Infektionsschutzgesetzes entsprach und der gewährte Versicherungsschutz darüber hinaus maßgeblich von dem Verständnis meldepflichtiger Krankheiten und Krankheitserreger im Infektionsschutzgesetz mit den dort in §§ 6 und 7 IfSG enthaltenen Generalklauseln abweicht.

Die Unwirksamkeit der Klausel, die den Versicherungsschutz auf einen abschließenden Katalog von Krankheiten und Krankheitserregern begrenzt, führt dazu, dass gemäß der allgemeinen Regelung in den Versicherungsbedingungen jede Betriebsschließung „beim Auftreten meldepflichtiger Krankheiten oder Krankheitserreger“ versichert ist. Da eine Meldepflicht der COVID-19-Krankheit bzw. von SARS-CoV-2-Krankheitserregern nach den Generalklauseln in §§ 6 und 7 IfSG – unabhängig von der späteren ausdrücklichen Aufnahme in die Listen des Infektionsschutzgesetzes – bereits zum Zeitpunkt des Eintritts des Versicherungsfalles im März 2020 bestand, war die Betriebsschließung aufgrund der Corona-Pandemie auch vom Versicherungsumfang umfasst.

Der Senat hat klargestellt, dass der Versicherungsschutz sich nicht auf behördliche Einzelfallanordnungen bei im Betrieb aufgetretenen Infektionen beschränkt, sondern auch den „Lock-down“ durch Verordnung der Landesregierung mit Wirkung zum 21. März 2020 umfasst. Diese Verordnung hat sich trotz der noch möglichen begrenzten Beherbergung von Geschäftsleuten oder dem noch möglichen Außer-Haus-Verkauf von Speisen faktisch wie eine Betriebsschließung ausgewirkt.

Der Senat hat das klageabweisende Urteil des Landgerichts teilweise abgeändert und den beklagten Versicherer antragsgemäß zur Zahlung von ca. 60.000 € verurteilt. Die Revision zum Bundesgerichtshof hat der Senat wegen grundsätzlicher Bedeutung und unter Berücksichtigung abweichender Entscheidungen anderer Oberlandesgerichte zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.

Im zweiten Fall (Aktenzeichen 12 U 11/21) ging es um eine Hotel- und Gaststättenanlage in Hessen, für die im Jahr 2019 eine Betriebsschließungsversicherung abgeschlossen wurde. Die dortigen Versicherungsbedingungen erwähnen das Infektionsschutzgesetz an keiner Stelle und enthalten die ausdrückliche und mit einer hervorgehobenen Überschrift versehene Regelung, dass meldepflichtige Krankheiten und Krankheitserreger im Sinne dieses Vertrags „nur“ die in einem nachfolgenden Katalog aufgezählten sind, wobei weder die Krankheit COVID-19 noch der Krankheitserreger SARS-CoV-2 in dem Katalog enthalten ist.

Der Senat hat das klageabweisende Urteil des Landgerichts Mannheim bestätigt und entschieden, dass bei in dieser Weise formulierten Versicherungsbedingungen kein Versicherungsschutz für eine Betriebsschließung in Folge der Corona-Pandemie besteht. Angesichts der eindeutig gefassten Klausel ist die Risikobegrenzung durch den abschließenden Katalog von Krankheiten und Krankheitserregern weder mehrdeutig noch überraschend. Die Klausel begründet auch keine unangemessene Benachteiligung des Versicherungsnehmers, weil sie – anders als im ersten Fall – den Anforderungen des Transparenzgebotes entspricht und auch darüber hinaus nicht vom wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung abweicht oder wesentliche Rechte und Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist.

Die Revision hat der Senat im zweiten Fall nicht zugelassen, da zu der streitgegenständlichen Klausel in Literatur und Rechtsprechung keine abweichenden Auffassungen vertreten werden.

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 30. Juni 2021, Aktenzeichen 12 U 4/21
Vorinstanz: Landgericht Heidelberg, Urteil vom 8. Dezember 2020, Aktenzeichen 2 O 156/20

Oberlandesgericht Karlsruhe, Urteil vom 30. Juni 2021, Aktenzeichen 12 U 11/21
Vorinstanz: Landgericht Mannheim, Urteil vom 4. Dezember 2020, Aktenzeichen 11 O 113/20